Liebe Freunde des OSM,
mit einem Geheimnis aufzuhören, ist vielleicht eine unschöne Art und Weise, eine Romantrilogie abschließend zu besprechen. Aber vertraut mir, Freunde – hier macht das durchaus Sinn. Wenn man sich gründlich in die verwirrende und emotional anspruchsvolle Biografie der Eleonora Contardi hineingelesen hat, kommt man vermutlich nicht umhin, letztlich zu konstatieren, dass etwas Wahres an der Redewendung sei, manche Menschen glichen tiefen, undurchdringlichen Gewässern. Und auch daran, dass eigentlich alle Menschen dunkle Ecken in ihren Seelen haben, in denen sich oftmals Läsionen verbergen, die ihnen in früher Kindheit zugefügt wurden, ist viel Wahres. Das betrifft gerade diesen Roman.
Natürlich ist dies wesentlich immer noch ein temperamentvoller erotischer Roman, der entsprechende „Stellen“ aufweist. Aber wer mal von dieser häufig ablenkenden Oberfläche absieht und etwas tiefer gräbt, findet eine zweite, diskret verborgene Ebene … und hier findet man als LeserIn die Antworten für das bisweilen fremdartige Verhalten der Protagonisten auf der „Bühne“ des Lebens, das die Autorin so überaus raffiniert inszeniert hat.
Schaut euch mal den letzten Akt des Dramas an, es lohnt sich:
Die Geliebte
(OT: Il perdono)
Von Sara Bilotti
Blanvalet 0582
320 Seiten, TB (2016)
ISBN 978-3-7645-0582-0
Aus dem Italienischen von Bettina Müller Renzoni
Eleonora Contardi scheint ihren Frieden im Verein mit den schwierigen drei Vannini-Brüdern gefunden zu haben. Nach über zwei Jahren wird das ihrer Ansicht nach auch höchste Zeit. Dass sie sich zugleich massiv etwas vormacht, ist ihr dabei anfangs nicht bewusst.
Vor mehr als zwei Jahren nahm sie die Einladung ihrer Jugendfreundin Corinne an, die von Kindesbeinen an Seite an Seite mit ihr aufwuchs. Eleonoras Mutter Rita überschüttete Corinne sichtlich mit mehr Liebe als ihre leibliche Tochter, was dazu führte, dass Eleonora stets ein Schattendasein führte und komplexbeladen blieb, der festen Überzeugung, dass sie niemandes Liebe wert wäre.
Und dann kam sie auf das Gut Bruges in die Toskana, wo sie nicht nur Corinne und ihren Verlobten Alessandro Vannini traf, sondern auch dessen ungestümen, rüpelhaften Bruder Emanuele und den stillen Maurizio. Während sie sich zu Alessandro hingezogen fühlte – der aber Corinne heiraten sollte – , wurde sie von Emanuele geradewegs erstürmt, und er eroberte sie mit Haut und Haaren und schlief mit ihr, wann und wo immer er wollte. Eleonora fühlte sich ohnmächtig und außerstande, diesem überwältigenden Begehren zu widerstehen … und war doch immer noch zwischen den Polen der beiden beherrschenden Brüder hin und her gezogen.
Das nahm eher noch zu, als sich nach und nach herauskristallisierte, dass Alessandro als Kind monatelang entführt und misshandelt worden war und ein massives Trauma davongetragen hatte. Seither hatte sich die Villa Bruges in eine psychologisch betreute Experimentalbühne verwandelt, die solange relativ statisch blieb, wie keine unvorhergesehenen Elemente von außen diese Bühne betraten.
Als erst Corinne in Alessandros Leben trat und schließlich auch noch Eleonora auftauchte, verschob sich die gesamte Psychodynamik dramatisch. Alessandros verschüttete Erinnerung kehrte zurück, Seitensprünge wurden ruchbar und bekannt, neue begangen, stürmische emotionale Dramen spielten sich ab. Und mittendrin, wie ein Korken auf stürmischer See tanzend, orientierungs- und hilflos, befand sich Eleonora, die immer noch nicht wusste, wohin sie gehörte. Erst recht konnte sie ihrem wankelmütigen Herzen nicht trauen, das sich nicht zu entscheiden verstand.
Nachdem Alessandro Corinne geheiratet hatte und Eleonora selbst zu Emanuele zog, schienen die Verhältnisse geklärt … aber wie sollte man dann Alessandros Offenbarung verstehen, die er Eleonora anschließend machte? Er liebe Corinne nicht und würde sich bald nach der Hochzeit von ihr trennen. Stattdessen könne er nicht aufhören, sie, Eleonora, zu lieben … und dann war es für ihn wie ein Hieb, als sie erzählte, dass Emanuele und sie Heiratspläne schmiedeten.
Alessandro verließ kurzerhand die Villa Bruges, zog nach Rom und begann intensiv an seiner Karriere als Filmschauspieler zu arbeiten. Und ja, er verließ Corinne. Zwischenzeitlich hatte Emanuele seinen alten Traum wahrgemacht und sich ein eigenes Weingut, den Agriturismo, gekauft, mit angeschlossenem Hotelkomplex und kleinem Gestüt. Er richtete für Eleonora, die niemals irgendwo wirklich heimisch gewesen war, eigene Räume ein, plante die Hochzeit und wünschte sich nichts sehnlicher als ein Kind von ihr.
Da außerdem die Sorge bestand, dass Corinne sich nach Alessandros Weggang etwas antun könnte – sie hatte bekanntlich schon einmal einen melodramatischen Selbstmordversuch vor der dann zustande gekommenen Hochzeit gewagt – , hatte Emanuele sie als Verwaltungskraft auf den Agriturismo geholt. Hier blühte Corinne auf überraschende Weise auf, anfangs sehr zu Eleonoras Erleichterung.
Dann wird sie skeptisch.
Was ist das für eine rätselhafte Absprache zwischen Corinne und Emanuele, die ganz unverhohlen sie selbst, Eleonora, betrifft? Wieso erzählt Denise, Maurizios Frau, es gäbe immer noch ein Geflecht von Lügen, und Eleonora werde das sowieso erst begreifen, wenn es zu spät sei?
Wieso um alles in der Welt nimmt Eleonora Verhütungsmittel, um von den zahllosen stürmischen Liebesnächten mit Emanuele nicht schwanger zu werden – und belügt ihn gleichzeitig, nicht zu verhüten?
Wieso um alles in der Welt fühlt sich Eleonora immer enger eingeschnürt wie in einem Korsett, das ihr die Luft zum Atmen nimmt? Wohin gehört sie wirklich? Und wie soll sie glücklich werden, wenn sie den zentralen Grund, der sie zur ruhelosen Nomadin gemacht hat, weiterhin verschweigt?
Als wenn sie nur einen Anlass dazu gesucht hätte, als wenn es gewissermaßen schicksalhaft und unabwendbar wäre, flüchtet Eleonora einmal mehr … und diesmal scheint am Ende des Weges der Wahnsinn selbst zu lauern …
Ehrlich … ich wusste die ganze Zeit, dass das eine psychologische Achterbahnfahrt sein würde, hier im dritten Band, wo sich Eleonora Contardi entscheiden müsste, wem ihr Herz gehören würde – Emanuele oder Alessandro – und an wessen Seite sie glücklich werden wollte. Aber in der zweiten Hälfte des Romans kippt die Stimmung jählings so sehr ins Alptraumhafte, Unkontrollierbare ab, dass ich eine Weile ungläubig dachte, ich bin im falschen Film.
Es war eigentlich schon lange klar, weil über Eleonoras Kindheit wenig bekannt wurde, dass dort ein Geheimnis lag, das ihr Verhalten deutlicher erklären würde als bislang. Und es war wirklich sehr gründlich verschüttet, gewissermaßen versiegelt durch ein Schweigekartell, das nicht nur ihre Seele verbog, sondern auch Eleonoras ganzes Gemüt vergiftete.
Zugegeben, die ebenfalls gründlich mental beschädigten Brüder Vannini machten es ihr wirklich nicht leicht, über ihren Schatten zu springen, und dass Eleonoras erste – uralte und so lange ausgeübte – Geste im Weglaufen bestand, kann man nur als absolut folgerichtig begreifen. Dass sie schlussendlich den Mut aufbrachte, sich doch zu öffnen und zu offenbaren, dem Mann, der es am meisten verdiente, das habe ich ihr dann schließlich von Herzen gegönnt. Das bedeutet jetzt allerdings nicht, dass der Roman ein ungetrübtes Happy End besäße, so kann man das nicht sehen … der Leser wird es entdecken. Das Leben ist nicht so simpel, und das von Eleonora Contardi ganz gewiss nicht.
Man kann aus diesem Roman eine Menge lernen, finde ich, insbesondere natürlich, dass insbesondere Kinderseelen höchst empfindsam und verletzlich sind, und dass Offenheit besonders im Bereich der Emotionen zwingende Notwendigkeit dafür ist, damit man mental gesund bleibt. Emotionale, unbewältigte Traumata aus der Kindheit mit sich herumzuschleppen und unter dicken Schichten von Lügen und Halbwahrheiten zu verschütten, zerstört letzten Endes das ganze Leben. Das ist in der Trilogie recht deutlich zu erkennen, und selbst wenn ich mitunter die emotionale Achterbahnfahrt etwas anstrengend fand, so war sie doch auf keinen Fall irgendwo langweilig oder plump durchschaubar. Sara Bilotti hat eine Reihe von ziemlich komplizierten Charakteren auf ihre „Bühne“ der Villa Bruges (und Umgebung) gestellt und die „Regie“ gut gemeistert. Respekt!
Eigentlich wird sie nur an einer Stelle im dritten Band flüchtig – nämlich bei Eleonoras Flucht ins Nirgendwo, wo die Alpträume und Psychosen sie heimsuchen. Da hätte sie – meiner bescheidenen Meinung nach – doch ein wenig konkreter werden können. Platz wäre auf jeden Fall gewesen … aber möglicherweise wurde sie dazu bewogen, sich gerade dort knapp zu halten, um Eleonoras Charakter nicht als schwieriger und ungesünder darzustellen, das hätte womöglich die Lesersympathie stark beeinträchtigt.
Alles in allem fand ich dies ein mutiges Leseexperiment, das psychologisch einiges hermacht. Und jeder Leser, der Mitgefühl aufbringt, muss mit der armen Eleonora eigentlich gründlich mitleiden, ganz besonders am Schluss, wo sie dann endlich den Mut hat, ein Versprechen zu brechen und ihr Geheimnis zu verraten (das übrigens durchaus anders ausschaut, als ich mir das anfangs dachte).
Was das genau bedeuten soll? Nun, das zu entschlüsseln, überlasse ich jedem Leser. Meine positive Wertung hat diese Trilogie jedenfalls, soviel steht fest.
© 2017 by Uwe Lammers
Ja, das war mal eine ziemlich gründliche Abwechslung von den sonst doch eher geradlinigen, schlichten erotischen Romanen. Ich fand es anspruchsvoll, mitunter schwierig zu lesen, aber in jedem Fall war es ein Gewinn, andernfalls hätte ich diese drei Werke nicht rezensiert.
In der kommenden Woche rezensiere ich zur Erleichterung etwas ganz Winziges und grabe damit eine sehr alte Rezension aus. Lasst euch da mal überraschen.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.