Rezensions-Blog 480: Die TITANIC-Verschwörung

Posted Oktober 30th, 2024 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

Autoren legen in Romanen mitunter Fährten, die in die tiefe Ver­gangenheit führen und letzten Endes dann zu einer Gegen­wartshandlung führen, um ihnen gewissermaßen ein histori­sches Flair zu verleihen. Nennen wir es einen Nimbus der zwin­genden Notwendigkeit.

Clive Cussler kannte diese Art der Plotstruktur schon fast von Anfang an. Der erste Roman nach diesem Strickmuster, dem er anschließend bis zu seinem Tod treu blieb, war das Buch „Hebt die TITANIC!“, das ungeachtet seiner inhaltlichen Fehler und Schwächen in meinen Augen nach wie vor atmosphärisch eines der besten aus seiner Frühzeit darstellt. Gut, das sagt natürlich auch ein ausdrücklicher TITANIC-Fan, und insofern ist das wohl unvermeidlich.

Aber womit ich jahrzehntelang nicht rechnete, das war, dass Cussler und seine Coautoren jemals irgendwann einmal in die Realhandlungszeit der Jungfernfahrt der RMS TITANIC vordrin­gen und dort einen gesamten Roman ansiedeln würden … 2020 wurde ich auf tollste Weise eines Besseren belehrt. Und das hier ist das, was herauskam, als ich das Werk las (verschlang, sollte man es vielleicht besser nennen) und rezensierte:

Die TITANIC-Verschwörung

(OT: The TITANIC Secret)

Von Clive Cussler & Jack du Brul

Blanvalet 0830, 12.00 Euro

544 Seiten, TB, November 2020

Übersetzt von Michael Kubiak

ISBN 978-3-7341-0830-3

Man schrieb das Jahr 1976, als sich ein noch vergleichsweise unbekannter amerikanischer Schriftsteller namens Clive Cussler anschickte, quasi über Nacht weltberühmt zu werden – indem er über ein marines Geheimnis schrieb, das die Menschen bereits seit über 60 Jahren bewegte und nie gelöst worden war, weil das entscheidende corpus delicti des Geschehens fehlte, der Leichnam, wenn man so will.

Clive Cussler schickte seinen marinen Helden Dirk Pitt auf die Suche nach der 1912 bei der Jungfernfahrt gesunkenen TITANIC, die 1976 noch unentdeckt auf dem Grund des Atlantiks ruhte. Es sollte noch reale neun Jahre dauern, bis die Tauchboote des Forschers Robert Ballard den Luxusliner oder das, was von ihm noch übrig war, in über viertausend Metern Meerestiefe ausfin­dig machten.

Als „Hebt die TITANIC!“ 1980 in der Übersetzung von Werner Gronwald in Deutschland erschien, brauchte es ein paar Jahre, ehe ich das Buch entdeckte, aber da ich damals schon von der TITANIC fasziniert war, gehörte das Werk, das ich seit 1984 vier­mal gelesen habe, zu den „Must Have“ meiner Bücherregale.

Und wie vermutlich viele Leser habe ich mich immer wieder ge­fragt: Wie war das damals wohl wirklich, als der Bergmann Joshua Hayes Brewster aus Colorado zu dem verrückten Plan kam, im Jahre 1911 auf der russischen, gottverlassenen Eisinsel Nowaja Semlja nach dem damals eigentlich noch völlig unbe­kannten Erz Byzanium zu graben? Und was ist damit gemeint, wenn er in seinem in die Staaten geschickten Tagebuch erklärt, er und seine Männer seien gnadenlos durch England verfolgt und der Reihe nach umgebracht worden? Von wem? Was genau war damals geschehen?

Der Leser erhielt keine Aufklärung, da es Cussler mehr um Dirk Pitt und die Gegenwartshandlung ging. Brewster und alles aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts war damals das, was schon tiefe Vergangenheit war, und wohl nicht einmal der Autor dach­te daran, diesen Faden jemals wieder aufzunehmen.

Als er allerdings damit anfing, über den amerikanischen Detek­tiv Isaac Bell zu schreiben, der Ende des 19. Jahrhunderts sich seine Sporen in der fiktiven Van Dorn Agency verdiente und dessen Ermittlungen bis in die 50er Jahre hinaufreichen, rückte der Fokus auf einmal tiefer in die Vergangenheit. Und als er zu­sammen mit Justin Scott Fälle aus den Jahren um 1911 zu be­handeln begann, tauchte das TITANIC-Projekt wieder auf der Agenda auf.

Plötzlich schien es nicht nur möglich, sondern fast schon zwin­gend, die Handlungsspuren von Dirk Pitt und Isaac Bell und den Coloradanern zusammenzuführen. So kam der vorliegende neue Roman zustande, den ich mir – was wirklich selten vorkommt – unbedingt und sofort zum Neupreis kaufen musste. Ich meine, versteht das: Ich habe immerhin satte 36 reale Jahre auf diese Geschichte gewartet.

Und, war es das wert?

Mein Fazit: unbedingt. Und das ist es, was euch erwartet:

In der Rahmenhandlung erhält Dirk Pitt überraschend in der Ge­genwart von einem Rechtsanwalt ein Dokument ausgehändigt, das von einem ihm unbekannten Mann stammt – einem seit lan­gem verstorbenen Detektiv namens Isaac Bell. Als Begründung gibt der Anwalt an, dass es sicher im Sinne des Verfassers ge­wesen wäre, diese Aufzeichnungen dem Mann zu übergeben, der die TITANIC gehoben habe, einfach deshalb, weil dieser Be­richt, den Bell damals schrieb, mit dem Schiff ende und die Vor­geschichte beschreibe … und sich so der Kreis schlösse. Ich ver­rate nicht mehr über die durchaus dramatische Rahmenhand­lung, sondern springe gleich mal zur Geschichte selbst.

Bell befindet sich im Jahre 1911 in Denver, um einen Postdieb­stahlfall zu lösen … und selbst wenn das nur die Ouvertüre ist, macht es doch mächtig Spaß, das zu lesen und sich so ein schö­nes Bild von Isaac Bell, dem damaligen Chefermittler der Van Dorn Agency zu machen. Eigentlich möchte Bell gleich wieder abreisen und zu seiner Ehefrau Marion nach New York zurück­kehren, doch man hält ihn ab. Ein Mann namens Hans Bloeser sucht seine Hilfe. Sein Bruder Ernest Bloeser und er sind im Bergbaugeschäft tätig, und sie sind skeptisch wegen eines jüngst geschehenen Bergbauunglücks, bei dem neun Bergleute ums Leben gekommen sein sollen. Sie glauben, dabei sei es nicht mit rechten Dingen zugegangen.

Isaac Bell lässt sich darauf ein, noch ein paar Tage in Denver zu verbleiben und sich die Little Angel Mine anzuschauen, wo sich das Unglück ereignet hat, und ein paar Erkundigungen einzuzie­hen. Dabei treten in der Tat seltsame Dinge zutage. Nicht nur wird er auf einmal beschattet, sondern es gibt sehr mörderische Versuche, ihn ins Jenseits zu befördern. Daraufhin ist er fest überzeugt, dass Bloesers Verdacht stimmt und etwas im Gange ist, das höchst problematisch ist.

Colonel Gregory Patmore vom US-Militär, der ihm in der Notlage hilft, weiß mehr darüber, und auch er sucht nun Bells Hilfe. Die neun in der Anlage vermeintlich Verschütteten unter Joshua Hayes Brewster sind in Wahrheit von der französischen Société des Mines de Lorraine aus Paris angeworben worden. Brewster hatte durch einen Zufall auf der russischen Insel Nowaja Semlja ein Vorkommen eines neuen radioaktiven Minerals namens By­zanium entdeckt, das die Franzosen zwar für wertlos erklärten, von dessen Wert er selbst – der die einzige Lagerstätte kannte – aber fest überzeugt war. Dadurch war er für die Franzosen un­entbehrlich geworden, die ihn in der Folge in Paris ausstatteten. Zugleich hatte Brewster Kontakt mit dem amerikanischen Militär aufgenommen, weil er argwöhnte, dass die Tarngeschichte ihres Todes in der Little Angel Mine die ideale Lösung für ihr wirklich geplantes Ableben nach den Abbauarbeiten darstellte. Womit er richtig lag.

Bell soll nun dafür sorgen, dass Brewster von einem Plan B Kenntnis erhält – dass nämlich ein Schiff der Amerikaner ihn vor den Franzosen von der russischen Eisinsel abholen würde. Doch dafür muss der Detektiv nach Paris, sich in das Hauptquartier der Minengesellschaft einschleichen und wieder die Konfrontati­on mit jenen Männern suchen, die ihn schon in Colorado um­bringen wollten, allen voran ein skrupelloser Mörder namens Foster Gly.

Was sich daraus in der Folge entwickelt, inwiefern Bell fast in der Pariser Kanalisation zu Tode kommt, warum auf einmal ein isländischer Walfänger eine Rolle spielt und inwieweit ein Sabo­teur unter den Bergarbeitern auch nach dem Ende der Abbauar­beiten das Leben zur Hölle macht, das ist eine abenteuerliche, wilde Tour de Force mit erstaunlichsten Biegungen und Wendun­gen des Schicksals, für die wirklich kein Autor besser geeignet gewesen wäre als Jack du Brul, der schon die Abenteuer der OREGON-Crew mit Action würzte.

Es ist zwar eigenartig, Isaac Bell auf einmal in einer so unge­wöhnlich actionlastigen Umgebung und in unterschiedlichsten Settings kennen zu lernen, aber ich muss zugeben, es macht wahnsinnigen Spaß.

Neckisch sind auch die namentlichen Anklänge. Bei Foster Gly musste ich beispielsweise gleich an „Foss Gly“ denken, den Kil­ler aus Quebec, der in dem Cussler-Roman „Um Haaresbrei­te“ eine zentrale Rolle spielt, und Yves Massard, Glys Kompa­gnon, ist ziemlich offenkundig eine Anspielung an Yves Massar­de, den Schurken aus dem Buch „Operation Sahara“.

Auch gibt sich du Brul jede Mühe, die Widersprüche zwischen dem 1976er-Roman und dem vorliegenden zu nivellieren. So ist der Trick, wie er Joshua Hayes Brewster an Bord der TITANIC schmuggelt, ohne dass er auf der Passagierliste erscheint, nied­lich und erinnert wirklich sehr an einen gewissen Jack Dawson aus dem Film „TITANIC“. Und die anderen Unstimmigkeiten werden solide aus Diskretionsgründen eingewoben, über die ich hier nichts weiter sagen möchte. Das sollte man dann selbst le­sen. Es lohnt sich, die Lektüre schön zu strecken, wie ich es ge­tan habe, auf fast 2 Wochen. Allein schon deshalb, weil alle Na­men, die Cussler 1976 in dem Ursprungsroman nennt – die Bergarbeiter – hier zu eigenständigen Personen mit zum erhebli­chen Teil wirklich grausigen Schicksalen ausgearbeitet werden.

Einzig einen kleinen Wermutstropfen gibt es natürlich – von der TITANIC bekommt man nur eine verwehende Rauchfahne im Ha­fen von Southampton zu sehen. Der Titel führt also durchaus sehr in die Irre, sowohl im Original wie in der Übersetzung. Aber sei’s drum! Der Inhalt stimmt und ist ausgezeichnet. Und wer mag, kann dann gleich im Buch „Hebt die TITANIC!“ die Spur weiter verfolgen, denn der Verlag hat notwendig das Buch neu aufgelegt … allerdings nicht in einer Neuübersetzung, sondern nur in einer neuen Aufmachung (und dabei wurde das Inhalts­verzeichnis gestrichen, mithin ist die Neufassung eigentlich eine Verschlechterung gegenüber der Erstauflage, und viel teurer ist sie zudem; ich empfehle, das alte Buch antiquarisch zu suchen, es macht auch optisch viel mehr her!).

Ein gelungener Zirkelschluss der Geschichte, wie ich finde.

Eine ganz eindeutige Leseempfehlung!

© 2020 by Uwe Lammers

Tja, es gibt echt noch wirklich verblüffende Überraschungen auf dem Buchmarkt, die aus den ausgetretenen Pfaden der Verlags­politik herausfallen, dass man nur zwinkern kann. Hat mir sehr gefallen.

In der kommenden Woche wird es wieder kosmisch, dann ma­chen wir eine abenteuerliche Weltraumfahrt zum Mond, und ich verspreche: es wird richtig apokalyptisch!

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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