Liebe Freunde des OSM,
Rezensionen schreibe ich schon wirklich lange. Die frühesten davon datieren in die frühen 1980er Jahre. Und in der Frühzeit meiner Fandomaktivität sandte ich, enthusiastisch und ohne Möglichkeit eines Backups, oftmals Geschichten und Rezensionen als Originalskripte hinaus an befreundete Redakteure. Viele Werke fielen auf diese Weise dem Vergessen anheim und tauchten nie wieder auf.
Andere hatten das Glück, dass mehr oder minder befähigte Redakteure sie abschrieben (oftmals reichlich mit Tippfehlern angereichert, ein Ergebnis der hitzigen Hast der Arbeit). Dann erschienen sie in deren Fanzines, und ich bekam in der Regel ein Belegexemplar.
Auch meine Fanzine-Sammlung reicht bis in diese Tage zurück. Und darin entdecke ich in den letzten Jahren immer wieder Rezensionen von Büchern, die längst aus meinem Blickfeld entschwunden sind. So war es auch mit dieser Rezension, die 1996 ein einziges Mal veröffentlicht wurde. Das Fanzine gibt es schon lange nicht mehr, also schrieb ich die Rezension ab und korrigierte die importierten Schreibfehler.
Und je weiter ich mit der Abschrift kam, desto mehr musste ich respektvoll nicken. Mein damaliges Ich, gerade mal zarte 26 Lenze alt, kümmerte sich zwar favorisiert um eher schlicht gestrickte Geschichten und rezensierte nicht minder simpel … aber das hier wich davon doch im positiven Sinne sehr ab.
Da Christopher Priest hochbetagt wenige Tage nach der Wiederentdeckung dieser Rezension verstorben ist, könnt ihr diese Veröffentlichung als kleine posthume Verneigung vor einem wirklich bemerkenswerten Autor verstehen. Wer ein gewisses Faible für solche Dinge wie „Matrix“, „Welt am Draht“ oder die Geschichten eines Philip K. Dick hat und dieses Werk noch nicht kennt, sollte vielleicht danach Ausschau halten. Es könnte ihm/ihr gefallen.
Warum sage ich das? Nun, am besten ist es, ihr lest mal, was ich dazu vor 32 Jahren zu schreiben wusste. Ich könnte mir denken, dass ihr am Ende ganz meiner Meinung seid …
Ein Traum von Wessex
(OT: A Dream of Wessex)
Von Christopher Priest
Heyne 3631, 1979
240 Seiten, TB
Übersetzer: Ronald M. Hahn
ISBN: 3-453-30543-4
Dieser Roman spielt zum einen im Jahr 1987, zum anderen im Jahr 2137. Bei dem Projekt, dem man in der Burg Maiden Castle in Wessex im Auftrag einer Treuhändlergesellschaft nachgeht, handelt es sich um die Projektion einer Zukunft durch 38 versierte Wissenschaftler und Fachkräfte, die sich in einem Mentalprojektor befinden, der von einem Mann namens Ridpath erfunden wurde. Sie werden in regelmäßigen Abständen zurückgeholt, verfassen Reporte und führen Gespräche mit ihren Betreuern, damit diese über jeden Aspekt des Vorhabens informiert sind.
Wessex im Jahre 2137 ist gespenstisch verändert. Tektonische Instabilitäten haben das Land abgesenkt, sodass Wessex mit Maiden Castle darauf und einigen weiteren Orten zu einer Insel wurde. England wurde von Russland okkupiert, die Vereinigten Staaten werden von Arabern beherrscht, es gibt auch Moscheen und Muezzine in England, zugleich aber herrscht zumindest in der Enklave Wessex eine Freizügigkeit, die bizarr erscheint. Die Stadt Dorchester, über der Maiden Castle liegt, ist eine Touristenhochburg geworden. Dort verkaufen auch die Männer und Frauen von Maiden Castle , einer größtenteils autarken, etwas geheimnisvollen Gesellschaft, ihre Produkte, die sich touristisch orientieren.
Alles in allem bietet die Welt einen friedfertigen Eindruck, sie IST auch friedlich und längst zu einer Fluchtidentität der Menschen des Projekts geworden, die, während sie in der Projektion existieren, jede Erinnerung an ihre Vergangenheit verlieren und stattdessen eine Schein-Vergangenheit, die zur Zukunftsprojektion gehört, annehmen.
Hauptperson ist zum einen Julia Stretton, eine Geologin, die relativ neu in Wessex ist und hier mehr durch Zufall auf eine Spur David Harkmans, einer weiteren Hauptperson, stößt. Harkman ist einer der ersten, der in die Projektion eingeschaltet wurde, aber seither – seit etwa zwei Jahren – ist es nicht mehr gelungen, ihn zurückzuholen. Dadurch, dass Julia eine erotische Beziehung zu ihm aufbaut und sich letztlich richtig in ihn verliebt, binden sie sich gegenseitig aneinander, was ihnen später das Leben retten soll.
Es ist eine Auflage der Teilnehmer des Wessex-Projekts, dass sie einander in der normalen Welt nicht kennen sollen, damit nicht aus emotionalen Konflikten eine Störung der Projektion erwächst. Keiner aber ahnt, als Paul Mason im Auftrag der Treuhändergesellschaft auftaucht, was er für ein Chaos anrichten wird: Mason hat vor mehr als sechs Jahren eine unglückliche Beziehung zu Julia Stretton unterhalten und soll nun die Projektion ansehen. Julia wird von ihm durch persönliche Details erpresst, ihre Bekanntschaft herunterzuspielen, und so dringt Paul Mason in das Paradies Wessex der Zukunft ein.
Aber er ist ein labiler, machthungriger Charakter, und er verändert das sonnige, freundliche Wessex in einen Ort, der von Industrie überladen ist, in dem es keine Touristen mehr gibt, der Ort verwandelt sich in eine verschandelte Kloake, in der er der absolute Herrscher ist. Auf dem Pseudo-Maiden Castle versucht er, den auch dort vorhandenen Ridpath-Generator in Betrieb zu nehmen, und zwar mit dem Ziel, eine Projektion der VERGANGENHEIT zu erstellen: 150 Jahre zurück, eine Projektion des Ausgangsjahres 1987. Dabei kommt es zur völligen Konfusion. Mason verliert den Verstand, und die geistigen Kräfte der Beteiligten eskalieren …
Kritiker schrieben, „A Dream of Wessex“ sei der bedeutendste Roman, der in letzter Zeit über die phantastischen Möglichkeiten des menschlichen Bewusstseins geschrieben wurde, und ich denke, damit haben sie durchaus recht gehabt. Mich hat der Roman schon vor über zehn Jahren fasziniert, und als ich die letzten Kapitel des Romans las, wuchs diese Faszination in mir wieder an.
Man stelle sich das plastisch vor: Bewusstseine erschaffen eine Ersatzwelt, 150 Jahre in die Zukunft projiziert, eine Welt, die sogar so real ist, dass es dort Pseudocharaktere gibt, die dieselben Namen tragen, ein idealisiertes Aussehen und einen idealisierten Tagesablauf besitzen. Eine Welt, in der man selbst dann, wenn man erkennt, DASS es eine Täuschung ist, diese nicht als solche erkennen kann.
Und dann wird eine Information aus dem Jahre 1987 entdeckt, eine verstaubte Zeitungsmeldung, die besagt, dass dieses Wessex, in dem man sich gerade aufhält, nur eine Illusion ist – erzeugt von den Bewusstseinen von schlafenden Menschen! Und dann kehrt man zurück ins Jahr 1987 und erkennt auf einmal, dass man der Realität nicht mehr traut, weil dieses Jahr 1987 WENIGER Realität zu haben scheint als das Jahr 2137.
Oder gibt es, geworfen vom zukünftigen Ridpath-Projektor, eine ZWEITE Ebene von 1987? Ist derjenige, der aus der Zukunft zurückgeht, in der RICHTIGEN Welt gelandet oder nur in einer Scheinrealität, die ebenso idealisiert worden ist wie jene Welt, aus der der Reisende kommt?
Der Verstand des Lesers gerät auf den letzten dreißig, vierzig Seiten des Buches wirklich aufs Glatteis. Für mich ist dieser Roman von Christopher Priest durchaus mit den realitätszermalmenden Romanen eines Philip K. Dick zu vergleichen.
Unbedingt empfehlenswert! Wenn man so will: Ein Geheimtipp für Insider.
© 1992 / 2024 by Uwe Lammers
Harter Tobak für heute? May be. Aber ihr wisst ja, die Abwechslung macht die Qualität eines Blogs wie dieses aus. Manche Beiträge fordern „nur“ 400 Klicks heraus, andere dagegen, und dieser hier könnte gut dazu gehören, kommt dann locker auf mehr als 1000 neugierige Blicke.
In der kommenden Woche wird es sehr viel entspannter, dann stelle ich tatsächlich reine Unterhaltungslektüre vor.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.