Rezensions-Blog 465: In Geschichte denken

Posted Juli 17th, 2024 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

ich pflege schon seit 20 Jahren zu sagen: Wer Barbara Tuchman als historisch interessierter Zeitgenosse nicht kennt, hat wirklich etwas verpasst – und vor allen Dingen eine äußerst scharfsichti­ge, bisweilen scharfzüngige Kritikerin politischer damaliger Ge­genwartsgeschichte. Sie stellte Verbindungen über Jahrhunderte her und destillierte aus Akten und den Ereignissen vergangener Zeiten fundamentale Wahrheiten heraus, die auch heute noch Geltung beanspruchen.

Als ich diesen Band im Juli 2004 kaufte, verschlang ich ihn na­hezu sofort, und er beeinflusste, würde ich sagen, mein kriti­sches Denken bis heute. In dem Band sind zahlreiche histori­sche Aufsätze der Verfasserin gebündelt, überarbeitet und ein­geleitet … und ich glaube, ich verspreche nicht zu viel, wenn ich sage, dass er ein wahres Füllhorn an Überraschungen bereithält. Das galt schon damals für mich, wiewohl ich ein abgeschlosse­nes Studium der Neuzeitgeschichte nachweisen konnte.

Mir zeigte das nachdrücklich, wie vieles man doch von der un­glaublich detailreichen menschlichen Geschichte noch nicht kennt. Wie gut es ist, dass die Neugierde niemals versiegen soll­te. Und was für bisweilen bizarr-abenteuerliche Episoden in den vermeintlich staubtrockenen Akten und den Biografien längst verstorbener Menschen verborgen liegt, die man dort niemals erwartet hätte.

Erwartet sie hier! Und lest bitte weiter:

In Geschichte denken

(Practicing History)

von Barbara Tuchman

Essays

Fischer Geschichte 4304, 352 Seiten, TB

April 1989 (11.-12. Tausend)

Übersetzt von Rudolf Schultz und Eugen Schwarz

ISBN 3-596-24304-1

Barbara Tuchman ist eigentlich keine Historikerin. Die 1989 lei­der schon verstorbene Autorin (Jahrgang 1912) blickt stattdes­sen auf eine wechselhafte Karriere zurück: Studentin am Rad­cliffe-College, Korrespondentin der Zeitschrift „The Nation“ in Fernost und zu einer Zeit, wo in Asien alles im Umbruch begrif­fen ist. Sie heiratet im Krieg einen Arzt und wird Mutter mehre­rer Töchter. Den Doktorgrad erlangt sie nie … was ihrer Karriere und Berühmtheit beileibe keinen Abbruch tut.

Rasch macht sich Tuchman mit politischen Artikeln, Reiseberich­ten und ähnlichem einen Namen, aber richtig prominent wird sie erst, als sie 1963 mit ihrer historischen Reportage „August 1914“ eine der bis dahin unkonventionellsten und lebendigsten Darstellungen der entscheidenden Wochen um den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vorlegt. Sie gewinnt damit den Pulitzer-Preis. Neun Jahre später wiederholt sie diese Tat, als sie für ihr Buch „Sand gegen den Wind“ ebenso geehrt wird.

Dazwischen liegen zahllose Redeauftritte, Interviews, Artikel, Essays und kritisch-politische Briefe und Statements. Und meh­rere Bücher. Einige davon tragen eigenwillige Titel und klingen eher harmlos: „Die Zimmermann-Depesche“ etwa1, „Der stolze Turm“ oder „Der ferne Spiegel“2 … und doch hat man hier in jedem einzelnen von ihnen eine Fülle von historisch-kritischer Reflexion, ausgebreitet mit dem ironischen, prägnan­ten Charme einer großen amerikanischen Erzählerin. In ihren Werken mischt sich auf sehr lesbare Weise Schriftstellerei mit historischer Detailversessenheit und psychologisch fundierten Schlussfolgerungen.

In dem vorliegenden Aufsatzband hat Tuchman kürzere Werke aus den Jahren 1936 bis 1980 zusammengestellt, die ihrer Auf­fassung nach zum Teil noch immer aktuell sind und auch den ei­genen Lernprozess gut kenntlich machen. Als Leser muss ich ihr hier zustimmen.

Die Aufsätze sind nicht rein chronologisch zusammengestellt, sondern der Band weist eine geschickte Dreigliederung auf. Im ersten Abschnitt, „Das Handwerk“ überschrieben, reflektiert Tuchman über ihre Methodik und die Mittel des Historikers (glaube niemand, das sei langweilig! Langeweile KENNT Tuch­man nicht!3).

Der zweite Abschnitt, „Der Ertrag“ überschrieben, bringt eine Reihe ihrer Ausarbeitungen, in denen sie fallstudienartig unter­schiedliche Gebiete darstellt. Hier entdecken wir Japan Mitte der 30er Jahre und die ein wenig tapsigen Versuche einer damals gut zwanzigjährigen Journalistin, die versucht, sich ein Bild der asiatischen Kriegsgesellschaft zu machen. Es folgen abenteuer­liche Blenden in einen amerikanischen Wahlkampfzug, in den Spanischen Bürgerkrieg, den Marokko-Krieg (allein der Aufsatz „Perdicaris lebend oder Raisuli tot“ ist den Kauf des Bu­ches wert, wie ich finde. Es ist so unglaublich absurd, dass man meint, eine Operette oder eine Zorrogeschichte zu verfolgen, die zufällig in Nordafrika spielt) und nach Israel vor und nach dem Sechstagekrieg.4

Wir lesen Buchrezensionen in diesem Abschnitt, erfahren, wie und warum die Vereinigten Staaten in den Ersten Weltkrieg ein­traten, wie voreingenommen Sigmund Freud war, als er an der Biografie Woodrow Wilsons mitschrieb… und dann gibt es noch eine atemberaubende kontrafaktische Geschichte zu entdecken, die die Weltgeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun­derts gründlich umgekrempelt hätte: „Wenn Mao nach Wa­shington gekommen wäre“ ist keineswegs so abenteuerlich, wie es auf den ersten Blick scheint. Er hatte es tatsächlich vor, um Waffenhilfe durch Washington zu erhalten. Möglicherweise hätte das den chinesischen Bürgerkrieg verhindert.

Warum es dazu nicht kam? Oh, das lag an einem Mann namens Hurley in China. Ein absolut paranoider Idiot, wenn man mich fragt. Aber auch das lese man besser selbst nach. Es ist einfach ungeheuerlich …

Im dritten Teil des Buches, der den programmatischen Titel „Aus der Geschichte lernen“ trägt, geht es in die Tiefen der amerika­nischen Geschichte. Es geht um Vietnam, es geht um den Sinn von Kriegen und unter anderem darum, das Präsidentenamt ab­zuschaffen! Bekanntlich leider nicht gelungen.

Hier findet die engagiert politische Schriftstellerin Tuchman deutliche, scharfe Worte, die manchmal wirklich den Zuhörern in den Auditorien die Gesichtszüge haben erstarren lassen müs­sen. Eine kleine Kostprobe gefällig?

Barbara Tuchman hält im Januar 1983 vor der Foreign Service Association einen Vortrag mit dem Thema „Warum Politiker nicht zuhören“ und kommt hier unter anderem auf die Ratgeber des Präsidenten McKinley zu sprechen, der 1898 regierte. Zitat Tuchman: „Als Präsident McKinley entscheiden mußte, ob er 1898 die Philippinen annektieren sollte oder nicht, kniete er nach seinem eigenen Bericht gegen Mitternacht nieder und ‘be­tete zum Allmächtigen Gott um Erleuchtung und Anleitung’. Er wurde angeleitet zu beschließen, dass ‘uns nichts anderes blie­be, als sie alle zu übernehmen und die Filipinos zu erziehen, zu erheben und zivilisieren und sie zu christianisieren und mit Got­tes Gnade unser Bestes für sie als unsere Mitmenschen, für die Christus starb, zu geben’ … Genauere Beobachter als der All­mächtige Gott hätten McKinley sagen können, dass die Filipinos nicht scharf darauf waren, bekehrt oder auch zivilisiert zu wer­den oder die spanische Herrschaft gegen die amerikanische ein­zutauschen, sondern dass sie die Unabhängigkeit wollten …“5

Es fragt sich, wie viele von Tuchmans damaligen Zuhörern wohl Christen waren, die ihre Religiosität in dem Moment mit Füßen getreten sahen. Ich nehme an, es können nicht gerade wenige gewesen sein.

Solche Seitenhiebe und unwillkommenen Wahrheiten sind über­all zu finden, es wäre unmöglich und müßig, sie alle aufzuzäh­len. In einigen Briefen habe ich schon welche als Zitate ver­streut. Hier noch ein paar kleine Vignetten.

1967 urteilt die Autorin, den Bogen vom Kriegseintritt der USA 1917 in die Gegenwart vollführend: „Dass die Verantwortlichkei­ten einer Weltmacht das amerikanische Volk nicht glücklicher gemacht haben, ist keine Überraschung. Um mit ihnen zurecht­zukommen, haben die Vereinigten Staaten die Illusion der Isola­tion durch die neue Illusion der Allmacht ersetzt. Auch dieser Schleier muß fallen.“

Wohlgemerkt: Konstatiert vor 38 Jahren!

Oder: 1980 stellt sie lakonisch in einem Vortrag in Washington, D. C., gegen die Freunde des uneingeschränkten Fortschritts fest:

Wenn man genau hinsieht, hat alles Positive eine negative Un­terseite – manchmal in höherem Maße, manchmal in geringe­rem – , und nicht alle bewunderungswürdigen Unternehmen ha­ben auch bewunderungswürdige Motive. Einige haben traurige Folgen …“

Vielleicht am heftigsten ist sie aber, wenn sie Quellen der Ver­gangenheit liest und auswertet. Dann stößt sie beispielsweise auf einen vergessenen Schriftsteller namens William Trotter, der 1908 ein Buch mit dem beunruhigenden Titel „Herdeninstink­te in Krieg und Frieden“ verfasste.

Tuchman: „Trotter schilderte den Herdeninstinkt als eine irratio­nale Macht: ‘unselbständig, feige, grausam… und leicht beein­flußbar.’ Trotter schloss seinen berühmten Essay mit einem der düstersten Sätze, die je zu Papier gebracht worden sind: ‘Die Wahrscheinlichkeit ist sehr groß, dass der Mensch sich schließ­lich nur als ein Fehlschlag der Natur erweisen wird.’“

Bald darauf brach der Erste Weltkrieg aus und bestätigte ihn in entsetzlichen Dimensionen. Von seiner selbstgesetzten Bezeich­nung „Homo sapiens“ ist der Mensch heute wohl weiter entfernt denn je. Eine Besserung ist immer noch nicht in Sicht.

Und was ist das für eine garstige Feststellung, die sie 1969 bei einem Vortrag vor dem Pomona College macht? Es geht um „Historische Anhaltspunkte für die Unzufriedenheit von heute“ und ist vor dem Hintergrund der damaligen Studentenunruhen zu sehen:

Wir sind zu Recht erschreckt vor dem, was wir geschaffen ha­ben [gemeint ist die Atombombe, UL], und wir haben es seit sei­ner ersten Anwendung nicht wieder gebraucht. Die Strategie der Bombe aber hat ein Extrem der Abschreckung erreicht, das als Mutual Assured Destruction (gegenseitige sichere Zer­störung) bezeichnet wird und die plumpe Abkürzung MAD trägt: ‘verrückt’. Wir haben uns da anscheinend selber ein Etikett auf­geklebt für den Fall, dass irgendein zukünftiger Historiker einen Hinweis bräuchte …“

Ätzend? Möglich. In jedem Fall recht treffend.

Dies soll an Beispielen aus diesem wirklich sehr lesenswerten Band genügen, der ein wahres Füllhorn an intelligenten Äuße­rungen, professionellen und sehr feinfühligen Annäherungen an die menschliche Geschichte mit all ihren Unwägbarkeiten ist. Die größte davon ist die „Unerkennbare Variable“ – der Mensch selbst.

Wenn man diesen Essayband wieder aus der Hand legt, bedau­ert man all das, was Tuchman aussortierte und hier nicht ein­brachte. Wie schreibt sie etwa in ihrem Vorwort? „Zwei Essays, die ich eigentlich gerne in diesem Band gesehen hätte, sind ‘The Book’ von 1979 und aus dem gleichen Jahr ‘An Inquiry into the Persistence of Unwisdom in Government’ (Eine Untersuchung über die Beharrlichkeit der Unweisheit in der Re­gierung). Der erste erschien mir für diese Sammlung nicht his­torisch genug. Der zweite, der nun zum Kern eines zukünftigen Buches geworden ist, ist zur Zeit zurückgezogen, bis er aus sei­ner Verpuppung wieder auftaucht.“

Wunderschöne Sätze, und das Buch wimmelt davon. Wer sich gerne unterhalten lassen möchte, gleichzeitig dabei einiges über Weltgeschichte aus amerikanischem Blickwinkel entdecken will und auch ein wenig Verständnis für die heutige amerikani­sche Weltpolitik zu erhalten wünscht, ist bei diesem Werk bes­tens am Platze. Barbara Tuchman lohnt eine Entdeckung. Ihr werdet sie nicht mehr missen wollen, davon gehe ich aus.

© 2004 by Uwe Lammers

Ich weiß, ich hätte dieses tolle Buch längst vorstellen sollen … aber, liebe Freunde, ihr macht euch ja keine Vorstellung davon, wie viele Rezensionen ich zu tollen Büchern geschrieben habe, die noch ihrer Veröffentlichung hier harren. Ich wechsle hier sinnvollerweise immer mit etwas lockererem „Lesefutter“ ab, damit ihr mit dem Lesen auch hinterherkommt. So dann auch in der kommenden Woche, wo wir zu Irene Cao zurückkehren.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Vgl. dazu den Rezensions-Blog 363 vom 3. August 2022.

2 Vgl. dazu den Rezensions-Blog 76 vom 7. September 2016.

3 Wem diese Sätze irgendwoher bekannt vorkommen … ich habe hier von mir selbst geklaut, aber mit gutem Recht. Bislang galt diese Bemerkung alleine für Diana Gabal­don. Tuchman ist zwar ganz anders, aber doch auch sehr ähnlich, insbesondere, was die Lesbarkeit angeht.

4 Der Verlag machte hierbei selbst einen Fehler, als er Tuchmans Essay „Israel – das Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten“ kurzerhand in „… das Land der unbegrenz­ten Möglichkeiten“ umtaufte und damit bewies, dass manche Leute andere Sachen LE­SEN, als sie vor ihren Augen geschrieben stehen. Ich schmunzelte bei der Entdeckung.

5 Wem dieses Problem irgendwie sehr bekannt vorkommt, sollte sich mal die amerikani­sche Politik im Irak und in Afghanistan anschauen. Die gegenwärtige, wohlverstanden. Hervorhebung im Zitat: UL.

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