Liebe Freunde des OSM,
erotische Romane von italienischen Autorinnen habe ich, soweit ich mich entsinnen kann, vor diesem hier noch keinen gelesen. Das machte die Lektüre doppelt interessant. Denn zum einen mag ich Venedig sehr gern, wo dieser Roman spielt, zum anderen bin ich Historiker und habe ohnehin ein Faible für alte Gebäude, bröckelnde Fresken und konservatorische Probleme. Und mit Elena Volpe lernte ich eine durch und durch bodenständige Person kennen, die mir von ihren Prinzipien her sehr zusagte.
Ich bin mal gespannt, was ihr wohl von ihr halten mögt. Vorhang auf für das heutige Buch:
Ich sehe dich
(OT: Io ti guardo)
Von Irene Cao
Goldmann 48061
352 Seiten, TB
ISBN 978-3-442-48061-6
Aus dem Italienischen von Judith Schwaab
Elena Volpe ist ein braves Mädchen. So würde sie sich selbst am ehesten beschreiben. Bieder, jedweder Form von Abenteuern gänzlich abgeneigt, außerdem ausgestattet mit festen Grundsätzen. Zu ihnen gehören beispielsweise folgende Lebensregeln: Alkohol ist nichts für mich. Fleisch und Fisch und dergleichen ist etwas für Leute, denen es nichts ausmacht, fühlende Wesen umzubringen. Ich halte mich lieber an vegetarische Ernährung. Männer kennenlernen? Sich aufdonnern und mit High Heels auf die Piste gehen, um endlich mal erotische Vergnügungen zu erleben?
Nein, nicht mit Elena Volpe.
Sie ist immer schon ein stilles, unaufgeregtes Mädchen gewesen, und deshalb hat sie wahrscheinlich auch den Beruf der Restauratorin ergriffen. Auch Reisen ist ihre Sache nicht – das ist ihr einfach nicht wichtig. Warum auch? Immerhin lebt ihre Familie in Venedig, und Elena genügt es vollkommen, über Wochen und Monate bei der Restaurierung eines Freskos in einem alten venezianischen Palazzo auf einem Gerüst zu hocken, Schmutz zu entfernen und das Meisterwerk wieder behutsam instand zu setzen.
Ihre beiden einzigen Freunde sind indes unterschiedlich wie Tag und Nacht. Da ist ihr Studienfreund Filippo Di Nardi, der im Gegensatz zu ihr Architektur studiert hat und der für sie wie ein Bruder ist. Jedenfalls nimmt Elena das all die Jahre an. Ihre Freundin Gaia hingegen ist Shoppingberaterin für vermögende Leute, und sie liegt Elena natürlich unentwegt in den Ohren, sie kleide sich wie eine graue Maus und solle doch mal richtig ihre Weiblichkeit entdecken.
Auf unerwartete Weise geschieht das schneller, als Elena das für möglich hält – denn ihr Dienstherr Jacopo Brandolini verkündet unvermittelt, dass der Palazzo, in dem Elena das Fresko restauriert, werde für die nächsten Monate einen Gast beherbergen. Das ist ihr überhaupt nicht recht – fremde Leute, Stress, Aufregung … muss das alles sein? Aber natürlich kann sie dagegen nichts sagen, der Palazzo gehört Brandolini schließlich.
Und dann lernt sie den Besucher kennen – eine absolut charismatische Persönlichkeit. Es handelt sich um den Chefkoch Leonardo Ferrante, und binnen kürzester Zeit beginnt er damit, Elena zu umgarnen und zu verunsichern.
Das ist sie jetzt ohnehin schon – denn kurz zuvor hat Filippo ihr verkündet, dass er für eine Weile nach Rom gehen muss, um dort eine Stelle anzutreten … und dann hat er in der Nacht vorher recht überraschend mit ihr geschlafen und so überdeutlich gezeigt, dass an Gaias Einschätzung („Er ist schon die ganze Zeit über in dich verschossen!“) deutlich mehr dran ist, als Elena all die Jahre wahrhaben wollte.
Und dann kommt der voller Geheimnisse steckende Leonardo wie ein Sturmwind über sie. Und wo Filippo sanft und zärtlich war, ist er eine reine Urgewalt, wild, leidenschaftlich, experimentierfreudig und wagemutig. Er bringt Elena dazu, grundlegend neue Seiten in sich zu entdecken. Zugleich aber spürt die 29jährige Restauratorin einen immer stärkeren Spagat in sich, da sie aus ihrer Beziehung zu Leonardo ein Geheimnis macht, auch gegenüber ihrer Familie und ihren Freunden.
Und schließlich kommt es zur Krise …
Ich glaube, es ist ohne Schwierigkeiten zu sagen, dass Irene Cao mit diesem ersten Band der Trilogie sich einen Herzensroman von der Seele geschrieben hat. Elena ist erkennbar ihr alter Ego, und das liegt nicht nur daran, dass beide in Venedig studiert haben und sie so bei allen Beschreibungen des Ambientes und der Besonderheiten Venedigs alles bestens aus eigener Kenntnis darstellen kann. Das ist ein unleugbarer Vorteil gegenüber allen Romanautorinnen und -autoren, die sich für Geschichten nur eine interessante Location „wählen“ und den Text dann mit angelesenen Details anreichern.
Die sanftmütige, friedfertige Elena wächst dem Leser mit ihrem unspektakulären, unaufgeregten Leben definitiv sehr ans Herz. Und manchmal tut sie ihm auch leid, denn Leonardo ist oftmals wirklich extrem übergriffig und übt einen Zwang auf seine Gespielin aus, den ich häufig fast schon gewalttätig fand. So sehr ich den rauschhaften Zustand Elenas begreifen kann und das, was man dann als eine Form von Hörigkeit bezeichnen sollte, in der sie sich schließlich wieder findet … es war doch definitiv unklar, wo in dieser klassischen „Frau zwischen zwei Männern“-Geschichte Elenas letztendlicher Platz sein würde.
Und dies hier stellt ja lediglich die erste Etappe dar. Es geht noch weiter, und selbst wenn der zweite Band dann erheblich kürzer ist als der erste, bleibe ich neugierig. Im Vergleich zu meiner sonstigen erotisch-romantischen Lektüre ist dieser Roman fast schon gelassen und entspannt. Wer Italien und Venedig speziell liebt, wird hier vermutlich unbedingt auf seine Kosten kommen. Ich bleibe jedenfalls am Ball und möchte wissen, wie das sinnliche Spiel zwischen Elena, Filippo und Leonardo weitergeht …
© 2019 by Uwe Lammers
Nächste Woche brechen wir mal wieder mit einem klassischen Science Fiction-Roman zu den Sternen auf. Und nein, ich verrate hier und heute noch nicht, worum es genau geht. Da müsst ihr euch noch ein paar Tage gedulden, meine Freunde …
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.