Liebe Freunde des OSM,
als ich vor zwanzig Jahren dieses mit gutem Grund in den Farben Schwarz-Rot-Weiß (die Farben der NS-Hakenkreuzfahne!) gehaltene Taschenbüchlein auf dem Wühltisch entdeckte, war ich recht konsterniert. Aber ein Blick ins Inhaltsverzeichnis belehrte mich sofort, dass das Werk dringend gekauft und gelesen werden musste.
Es handelte sich nämlich keineswegs um eine apologetische Verteidigungsschrift des NS-Staates, sondern um exakt das Gegenteil. In diesem Buch nimmt der Autor Markus Tiedemann akribisch und faktenbasiert 60 rechtsradikale, gefährliche Lügen aufs Korn und zerpflückt sie. Auf diese Weise bekommt man eine Menge grässlicher Details über die Naziherrschaft mit, manches davon war selbst mir als Neuzeithistoriker nicht so präsent. Und am Ende ist man nach der Lektüre günstigstenfalls imstande, ahnungsloseren Zeitgenossen dabei zu helfen, ihre schlichten verklärenden Ansichten vom Hitlerstaat, „als alles noch besser war“ auszureden.
Denn das sei vorab gesagt: Natürlich war der NS-Staat eine menschenverachtende Diktatur, in der das Leben Andersdenkender wenig galt. Und es wurden grauenhafte Verbrechen dort verübt, nicht ausschließlich, aber zu erheblichem Teil an den jüdischen Mitbürgern Europas. Natürlich gab es Überlebende. Natürlich gab es den Holocaust. Und selbstverständlich gab es im bürokratischen deutschen Staat reichlich Dokumentationsmaterial, das die Verbrechen selbst dann noch nachweisen konnte, auch wenn die Täter vieles zu zerstören suchten. Außerdem gab es reuige, geständige Täter, denen die Ungeheuerlichkeit dessen, was sie zu tun gezwungen waren, die Seele schwer machte.
Bereit für einen Abstieg in den Alptraum des Schreckens, der sich real ereignet hat? Dann zieht euch warm an, Freunde, hier geht es los:
„In Auschwitz wurde niemand vergast.“
60 rechtsradikale Lügen und wie man sie widerlegt
Von Markus Tiedemann
Omnibus 20990
192 Seiten, TB
Dezember 2000, 6.00 Euro
ISBN 3-570-20990-3
Wem alleine schon vom Titel her das sinnbildliche „Messer in der Hose“ aufgeht, der ist hier vollkommen richtig. Der Titel ist ein Zitat aus der rechtsradikalen Extremistenszene, und der Autor Markus Tiedemann (offensichtlich ein Pädagoge – über den leider sonst im Buch rein gar nichts steht) unternimmt hier, wie der Untertitel verrät, den (erschütternden!) Versuch, in kurzer und prägnanter Weise sechzig der häufigsten Neonazislogans über das Dritte Reich auseinanderzunehmen. Er tut das nicht mit irgendwelchen moralinsauren Belehrungen, sondern lässt hierzu recht gut dokumentiert die Quellen selbst sprechen, ein Vorgehen, das jedem Historiker nur zu gut bekannt ist und das manchmal auch bei Politikern sehr am Platze wäre.
Neun Abschnitte untergliedern die 60 Lügen. Die ersten zwölf betreffen die Person Adolf Hitlers und beginnen mit solchen abstrusen Behauptungen wie „Hitler wußte nichts vom Holocaust“, „Hitler wollte Frieden“, „Hitler war ein genialer Politiker“ oder „Hitler liebte das deutsche Volk“. Letzteres kann man ja am völlig zerbombten Nachkriegsdeutschland schön nachvollziehen …
Der zweite Abschnitt, der mit zwei „Lügen“ abgekanzelt wird, betrifft die NSDAP und den Staat – deshalb so kurz, weil im ersten Komplex schon vieles abgehandelt wurde, das hierhin gehörte. Schließlich war der diktatorische Führerstaat geradezu magnetisch auf Hitler ausgerichtet.
Im Bereich III, der die Wehrmacht betrifft, begegnet der Leser so bekannten, geschichtsverdrehenden Behauptungen wie dieser: „Die Wehrmacht war nicht am Holocaust beteiligt“ – um sie und damit die militaristische Tradition vom Völkermord reinzuwaschen. Ein Versuch, der hier unter anderem durch fotografische Dokumente klar widerlegt wird.
Sehr breiten Raum nimmt Abschnitt 4 ein, wo es um die Kriegsgegner geht, was zugleich erkennbar die „angenehmen“ von den „weniger angenehmen“ Themen der Revisionisten scheidet. Sehr gerne wird die Aufrechnung gesucht bzw. fremde Schuld entgegengehalten, meist mit Spekulationen und unbewiesenen Behauptungen untermauert, die recht schnell zu entkräften sind.
Aufgeteilt in UdSSR und Westliche Alliierte wird von Seiten der Rechtsradikalen oft argumentiert, die sowjetischen GULAGs seien nicht schlimmer als KZs gewesen (was deren Unkenntnis des GULAG-Systems noch mehr offenbart als ihre Unkenntnis über KZs), beim „Fall Barbarossa“ (Überfall auf die Sowjetunion) habe es sich um einen Präventivkrieg gehandelt, bzw. die kaltschnäuzige Behauptung, die westlichen Alliierten seien ebenso große Antisemiten wie Hitler gewesen und hätten ihn deshalb gewähren lassen.
Gerne verdrängt wird der Bereich 5, wo die Rolle der Euthanasie im NS-Staat erörtert wird. Mit wahrer Wonne „konzentrieren“ sich dagegen die Holocaust-Leugner auf den Holocaust selbst (Bereich 6), die Konzentrationslager und den Mord außerhalb von KZs. Hier wird bagatellisiert, dass sich die sprichwörtlichen Balken biegen. Dort waltet zudem ein solcher Zynismus, dass es dem Leser fast den Magen umdreht. Ein paar Lügen gefällig? Bitte schön:
„Da niemand eine Vergasung überlebte, gibt es auch keine beweiskräftigen Zeugenaussagen.“
Oder: „Ja, es gab Gaskammern, aber sie wurden nie benutzt.“
Oder: „Die sogenannten Einsatzgruppen stellten eine normale Arbeitspolizei dar und dienten höchstens zur Partisanenbekämpfung.“
[Nur zwei Bemerkungen hierzu: bei Christopher Browning lässt sich anhand von Aktenmaterial nachweisen, dass die Einsatzgruppen und angeschlossene Wehrmachtseinheiten am 3. November 1943 alleine bei Majdanek rund 17.000-18.000 „Partisanen“ erschossen haben. Bei einer anderen Gelegenheit wurde genau Buch geführt, nämlich am 6. August 1941. Von 1385 erschossenen Personen dieses Tages waren 275 Frauen und einer ein ehemaliger russischer Soldat…1]
Oder: „Es gab keine Massenerschießungen. Es gibt keine Beweise dafür, denn Täter hätten niemals ausgesagt und Überlebende konnte es nicht geben.“
Genug? Okay. Bei solchen Behauptungen bleibt selbst einem ernsthaften Historiker wie mir gelegentlich die Spucke weg, ganz ehrlich.
Noch abenteuerlicher wird es in Abschnitt 7 mit dem Titel „Erfundenes Beweismaterial“, wo der Autor gut nachweisen kann, dass manche Argumentationslinien einfach absurd sind. Etwa bei Lüge 44: „‘Geheime Dokumente’ in Moskau beweisen alles, was die Geschichtsfälscher gerade beweisen wollen“ – wobei mit „Geschichtsfälscher“ hier diejenigen seriösen Historiker gemeint sind, die Grundlagenarbeit am Holocaust betreiben. Wie schreibt doch Tiedemann so passend ironisch zu dieser Lüge: „Es sei an dieser Stelle eine Gegenfrage erlaubt: Wie erlangten die selbsternannten Historiker der rechten Szene überhaupt Kenntnis von jenen Dokumenten, wenn diese so sehr geheim gehalten wurden?“ Darauf weiß vermutlich keiner der rechten Demagogen eine gescheite Antwort. Und das ist gut so.
Wirklich gefährlich ist hingegen Kapitel 8: Professioneller Revisionismus, der sich den Anschein der Seriosität gibt. Hier tauchen haarsträubende Rechenexempel auf, die sich teilweise selbst widerlegen. Da wird die Existenz von Gaskammern zum Teil zugestanden, aber behauptet, dass es dennoch keine Vergasungen gegeben habe, weil die Gaskammern nicht beheizbar gewesen seien und Zyklon B erst bei 26 Grad Celsius zerfalle (was stimmt!). Oder dass die Rückstände von Zyklon B in den Wänden der Gaskammern zu gering seien, um die „massive Nutzung“ der Räumlichkeiten zu belegen. Außerordentlich kaltschnäuzig ist die Behauptung, angesichts eines heimlich aufgenommenen Fotos (!) von Leichenverbrennungen auf dem Gebiet von Auschwitz zu sagen: „Das Gelände des KZ Auschwitz ist viel zu sumpfig, als dass dort ein Scheiterhaufen hätte entfacht werden können.“ Es ist natürlich keineswegs unmöglich. Und Tiedemann erklärt auch, was die Revisionisten hier verschweigen …
Auch die beiden Argumentationslinien zum Thema 9 „Deutsche Bevölkerung“ – einmal jene, die sagt „Das Volk wurde zum Gehorsam gezwungen“, zum anderen jene, die behauptet „Das Volk war unwissendes und getäuschtes Opfer“ – werden präzise anhand von zahlreichen Beispielen widerlegt und entkräftet.
Vieles in diesem Buch ist auch für mich überaus erschütternd gewesen. Erschütternd und neu. Eine ganze Reihe der im Literaturverzeichnis genannten Werke werden in absehbarer Zeit meine Büchersuchliste bereichern, das ist ganz klar.
Tiedemanns Aussagen gelten zweifellos nicht nur für das Jahr 1993, in dem in Deutschland Asylheime brannten und in dem die Recherchen für dieses Buch allmählich begonnen wurden. Vieles von dem, was er erzählt, ist gewiss auch gegenwärtig der Fall. So ist anzunehmen, dass auch heute noch
1) das Detailwissen der Jugendlichen über die Zeit des Nationalsozialismus erschreckend gering ist;
2) das Ausmaß der Professionalität neonazistischer Revisionisten und deren Einfluss auf leicht beeinflussbare, ziellose Jugendliche sehr stark sein dürfte und
3) Pädagogen häufig auf unterbreitete revisionistische Schriften bzw. Ansichten nicht konsequent und entkräftend reagieren können, weil niemand sie hinreichend darauf vorbereitet.
In einer Zeit hoher Arbeitslosigkeit, politischer Frustration, kriegstreiberischer internationaler Atmosphäre und, kann man vielleicht überspitzt hinzufügen, moralischen Verfalls (darüber lässt sich streiten) ist die Gefahr mit Sicherheit groß, dass perspektivlose Jugendliche „einfache“ Lösungen als reale Chancen sehen und damit jenen Bauernfängern und Demagogen ins Netz gehen, die dabei sind, die brutale, menschenverachtende Zeit des Nationalsozialismus zu glorifizieren und von neuem herbeizusehnen.
Ich kann Tiedemanns Absicht daher nur voll inhaltlich unterstützen, wenn er im Vorwort seines wirklich gelungenen Bandes schreibt: „Revisionistische Äußerungen schlicht als indiskutabel zu bewerten und zu übergehen, ist sicherlich ethisch nicht zu beanstanden, pädagogisch sehe ich in diesem Vorgehen jedoch ein großes Risiko. Zum einen erzeugt das Ausbleiben einer Widerlegung durch Eltern, Lehrer oder Erzieher bei vielen Jugendlichen den Eindruck, als sei diese gar nicht möglich …
Zum anderen sollte jenen, die Revisionismus gezielt und professionell betreiben, offensiv begegnet werden … Es gilt unmissverständlich klarzumachen, mit welchen Tricks und mit welcher politischen Absicht hier geschichtliche Fakten gefälscht oder geleugnet werden. Auf diese Weise werden jene rechtsextremen Geschichtsfälscher gezwungen, sich zu dem zu bekennen, was sie wirklich sind: Menschen, die sich an einer Ideologie ergötzen, die schon einmal mit absoluter Menschenverachtung millionenfaches Leid erzeugt hat.“
Ich glaube, dem ist nichts mehr hinzuzufügen.
© 2004 by Uwe Lammers
Ja, es ist zwanzig Jahre her, dass ich das Buch rezensiert habe … aber es spielt kaum eine Rolle, wie lange so etwas zurückliegt, denn bedauerlicherweise grassiert die Geschichtsvergessenheit und die Verdrängung nach wie vor. Je mehr der Zeitzeugen wegsterben, desto massiver werden die Leugnungen und Verharmlosungen.
Deshalb ist das immer noch ein Buch, das erhebliche Relevanz besitzt, sei es für den Schulunterricht oder für den allgemeinen Lernprozess der Nachwachsenden. Ihr solltet es wieder hervorziehen und lesen, das lohnt sich. Leider, müsste man wohl sagen … die Menschheit lernt echt in Mäuseschritten und macht zudem ständig nervöse Rückschritte durch.
In der kommenden Woche kümmere ich mich um eine weitere Trilogie mit erotischem Inhalt. Diesmal geht es nach Italien … alles Weitere werdet ihr dann sehen.
Bis bald, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Vgl. Christopher Browning: „Ganz normale Männer. Das Reservebataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, Reinbek 1993.