Liebe Freunde des OSM,

der Mensch ist ein Wesen, das leider notorisch immer wieder zeigt, dass es aus eigenem Anstoß über ein doch sehr be­schränktes historisches Erinnerungswissen verfügt. Nehmen wir mal jene Zeitgenossen davon aus, deren berufliche Profession es ist, dies zu tun – Historiker etwa oder Mitarbeiter in Museen, Archiven oder Gedenkstätten. Die Majorität der Mitmenschen neigt doch eher dazu, sich von aktuellsten Themen schnell ab­lenken zu lassen, wird von ständiger Wiederholung von Themen rasch gelangweilt (wenn man das für den passenden Terminus hält). Und nichts, sagt eine populäre Redewendung, sei so alt wie die Zeitung von gestern.

Daran ist leider viel Wahres. Aber es gibt Ereignisse, die es durchaus verdienen, dauerhaft im Bewusstsein verankert zu bleiben, auch wenn zugegeben werden muss, dass es sich bei ihnen zumeist um hochkomplexe multifaktorielle Abläufe han­delt, von denen in den allgemein zugänglichen Medien in der Regel eher schlichte und nicht selten verzerrende Darstellungen kursieren.

Es gibt aber auch Abweichungen hiervon. Als die GEO EPOCHE-Redaktion sich im Herbst des Jahres 2004 entschied, nach dem Heft über den 11. September 2001 ein zweites Sonderheft aus gegebenem Anlass herauszugeben, zählte ich schon zu den Abonnenten der Reihe, und dieses Sonderheft mit der Reihen­nummer 16 erschütterte mich so sehr, dass ich – was durchaus selten ist – umgehend eine Rezension dazu verfasste.

Ich schrieb sie direkt nach dem Auslesen des Heftes im März 2005, und wiewohl das inzwischen 19 Jahre her ist, hat sich mein ernstes, bewunderndes Urteil über diese Ausgabe nicht verändert.

Viele Menschen mögen heutzutage nicht mehr an die indonesi­sche Flutkatastrophe von 2004 denken, die später Geborenen kennen sie wahrscheinlich gar nicht … aber vielleicht solltet ihr euch diese lesenswerte Dokumentation einmal zu Gemüte füh­ren und dabei etwa an den Roman „Der Schwarm“ von Frank Schätzing und dessen jüngste Serienadaption denken. Denn so, wie es HIER geschah, in Indonesien anno 2004, so hätte es in der Verfilmung sein sollen, das hätte den szenischen Gedanken des Romans entsprochen.

Tsunamis sind, auch das wird gern ausgeblendet, heutzutage immer noch eine Bedrohung der von Menschen bewohnten Küs­ten. Und damit ist das, was der Grundtenor des vorliegenden Zeitschriftenbandes ist, immer noch akut.

Ich finde es deshalb wichtig, an diesen Ausnahmejournalismus zu erinnern und ihn jenen zur Lektüre zu empfehlen, die damals den Blick anderswohin gerichtet hatten und denen dies entgan­gen ist.

Bitte weiterlesen:

Tsunami – Der Tod aus dem Meer

GEO EPOCHE Nr. 16

Februar 2005

162 Seiten, 8.00 Euro

Verlag Gruner+Jahr AG & Co KG

26. Dezember 2004.

3,316° Nord, 95,854° Ost, 7.58.53 Uhr Ortszeit.

Dies ist der Ort, dies ist die Zeit, zu der sich die Weltgeschichte einer ganzen Region verändert. Dies ist der Moment eines win­zigen Zuckens der Erde.

Das Zucken findet beinahe unmerklich mehr als zehn Kilometer tief unter der Oberfläche statt, an einem Ort ohne Zuschauer, ohne Personen, die registrieren konnten, was geschah. Man kann es nur im Nachhinein rekonstruieren.

Die Erschütterung, mit der sich mehrere Gesteinsplatten der Erdkruste ruckartig in zwei aufeinanderfolgenden Etappen – zu­sammen nicht länger als 400 Sekunden dauernd – verschieben, setzt die schier unvorstellbare Energie von etwa 32.000 Bom­ben des 1945 über dem japanischen Hiroshima abgeworfenen Nuklearsprengsatzes frei. All dies geschieht unmittelbar vor der Westküste Indonesiens.

Für Mutter Erde ist der Erdstoß vernachlässigbar.

Aber über dem Hypozentrum der Erschütterung erhebt sich eine hohe Wassersäule, die sich nun in alle Richtungen kreisförmig in Bewegung setzt und die Wucht des Bebens weiterträgt. Später wird man dafür den rechnerischen Wert von 9.0 auf der nach oben offenen Richterskala für seismische Erschütterungen er­mitteln.

Das Seebeben setzt einen Tsunami in Bewegung, eine furchter­regende, unaufhaltsame, alles zermalmende Gewalt, die mit ei­ner Geschwindigkeit von achthundert Stundenkilometern auf die von Menschen bevölkerten Strände des Indischen Ozeans losstürmt.

Auf eine Küstenregion, an der niemand vorbereitet ist.

Im Verlauf von nicht viel mehr als acht Stunden – die ersten Op­fer gibt es nach nicht einmal fünfzehn Minuten – werden Zehn­tausende von Quadratkilometern Sumpfland, Mangroven, Pal­menstrand, Korallenriff, Inseln, Häfen, Städte und Dörfer, ja, wird schlechthin alles plattgewalzt sein. Züge werden aus den Gleisen geschleudert, Schiffe kilometerweit ins Landesinnere geworfen, Lastwagen wie Spielzeuge herumgewirbelt. Ganze Viertel stürzen unter der Wucht der Wassermassen in sich zu­sammen, implodieren schier. Touristenhotels werden zum Teil bis auf die Grundmauern abgetragen.

Unbeschreibliche Tragödien spielen sich hier ab, als die weitaus meisten Bewohner und Urlauber der Region von den entfessel­ten Naturgewalten verschlungen, ertränkt und zermalmt wer­den. Am Ende werden mehr als dreihunderttausend Todesopfer gezählt sein, mehr als weitere hunderttausend vermisst. Und das sind nur die, von denen man weiß. Es gibt mehr: steinzeitli­che Stämme auf den Andamanen. Illegale Siedler. Piraten. Schmuggler. Rebellen auf geheimer Mission, von denen nie­mand mehr etwas hören und sehen wird …

Der Tsunami vom 26. Dezember 2004 ist mit Abstand die größte Naturkatastrophe, diejenige, die am meisten Menschenopfer ge­fordert hat, nicht nur im 21. Jahrhundert, sondern wohl auch im 20. Jahrhundert.

Das GEO EPOCHE-Sonderheft, das von der Hamburger Redakti­on außerplanmäßig ins Leben gerufen wurde, hilft dem fas­sungslosen Rezensenten wie jedem, der bereit ist, sich darauf einzulassen, zu verstehen, was dort vor Ort wirklich passierte. Warum niemand die Menschen warnte. Was konkret alles fehl­schlug. Wie haarfein die Trennlinie zwischen Leben und Tod, zwi­schen Zufall, Vernichtung und Errettung war. Und wie couragier­te, zu allem entschlossene Menschen schließlich in Rekordzeit die Hilfe anbahnten, um wenigstens das größte Leid lindern zu helfen.

Der Historiker und Journalist Cay Rademacher beschreibt in ei­nem langen, unglaublich packenden Essay gleich dem, den er einstmals im GEO EPOCHE-Heft „Der 11. September 2001“ brachte1, wie die seismischen Gewalten das komplexe Gewirr der politischen, wissenschaftlichen und kommunikativen Ver­flechtungen der menschlichen Gesellschaft gerade da aushebel­ten, wo es hätte zusammenarbeiten müssen. Weihnachtsurlaub, Wochenende, nicht besetzte Dienststellen, ängstliche Sorge um den eigenen Posten und vieles andere mehr bringen Stillstand und Ratlosigkeit statt Hilfe.

Das Endergebnis ist, man kann es kaum anders nennen, die rei­ne Apokalypse. Und das, was danach folgt, wird ein erbar­mungsloser Wettlauf gegen die Folgen der grauenhaften Kata­strophe. In schonungslosen, verstörenden Fotos wird der Be­trachter in den Sog der zum Teil zwanzig Meter hohen, drei Kilo­meter ins Landesinnere flutenden Todeswoge hineingesogen, lernt zahlreiche Einzelschicksale kennen, richtige Entscheidun­gen, Fehlentscheidungen, Wunder …

Nach der Flut geht, wie Andrea Böhm darstellt, das Chaos auf einer anderen Ebene weiter. Wie kann man überleben in Städ­ten, die zu formlosen Schutthaufen zusammengeschwemmt worden sind? Wie umgehen mit Tausenden von Leichen, die mit jeder Flut neu angeschwemmt werden und im tropischen Klima rasch zu verwesen beginnen? Wie organisiert man die größte Hilfsaktion in der Geschichte der UN? Und was tut man mit kon­kurrierenden, zum Teil völlig desinformierten Helfergruppen aus aller Herren Länder?

SPIEGEL-Redakteur Ralf Beste dokumentiert, wann und wie Au­ßenminister Joschka Fischer und die Bundesregierung von dem Desaster erfuhren und rollt minutiös auf, was hinter den Kulis­sen geschah. Gleichzeitig erhält man einen Eindruck von der im­mensen Spendenbereitschaft der Deutschen und der Weltge­meinschaft insgesamt.

Dem Arzt Martin Lindner liegt mehr jener unheimliche Schrecken am Herzen, der niemals endet – die Traumata, die die Überlebenden davongetragen haben und von denen sie womög­lich bis an ihr Lebensende seelische Narben davontragen wer­den. Er weiß Erschütterndes zu berichten.

Und schließlich, auch darüber wird in den Medien allgemein recht wenig gesagt, schließlich folgt der notwendige Blick in die Zukunft. Ein lange Interview, das der GEO-Redakteur Jens Schröder mit Fachwissenschaftlern und Politologen führte – un­ter ihnen die Asienexperten Dr. Christian Wagner und Dr. Kay Möller sowie der Krisenexperte Dr. Patrick Lagadec – , bringt bit­tere Wahrheiten an den Tag. Ungeachtet des „Spendenmara­thons“ und der intensiven Hilfsbereitschaft werden sich viele Dinge nicht zum Positiven wenden. Es stehe etwa fest,

  • dass beispielsweise bei der Katastrophe wieder einmal jene Menschen getroffen wurden, die kaum über Einkommen ver­fügten. Fischer etwa.

  • dass diese Leute zum erheblichen Teil – außer eben von Ange­hörigen – kaum vermisst werden.

  • dass das Wohlstandsgefälle sich wahrscheinlich selbst in Indo­nesien nicht sonderlich verändern dürfte. In Bürgerkriegsregionen, etwa auf Sri Lanka und Banda Aceh in Indonesien, seien zwar ganze Städte untergegangen, doch der allgemein schon vorher schwelende oder zügellos eskalierende Hass verschiedener Volksgruppen, er bleibe und vergifte weiter das Klima, jetzt vielleicht schlimmer als je zuvor …

Den Schluss bildet eine akribische, durch Satellitenfotos ge­stützte und kartografisch gut umgesetzte Gesamtschau der Schäden, die rings um den Indischen Ozean entstanden sind. Das bloße Wissen, dass dies nach geologischen Maßstäben eine wirklich KLEINE Katastrophe darstellt, lässt den Leser erschau­ern und die ganze Nichtigkeit der menschlichen Existenz erken­nen. Allein das ist ein Effekt, der in meinen Augen sehr heilsam ist.

Das vorliegende Heft von GEO EPOCHE hält einen seismischen Lidschlag der geologischen Ewigkeit des Planeten Erde aufwän­dig dokumentiert und erschütternd aufgearbeitet für die Gegen­wart fest. Die Ausgabe mahnt die Lebenden, aus der Katastro­phe zu lernen und die Zukunft besser zu gestalten, doch sie ver­breitet keinen übertriebenen Optimismus. Sie bleibt dem An­spruch verpflichtet, unparteiisch und vorbehaltlos zu informie­ren, den Lesern in die Herzen zu sehen und zu ihren Seelen zu sprechen, oft auch mit unbequemen Wahrheiten, die man un­gern hört.

Diejenigen, die sich in den wirren Wochen nach dem 26. Dezem­ber 2004 gefragt haben mögen, was dort unten alles schief ge­gangen ist, die vielleicht selbst Freunde oder Angehörige verlo­ren haben und/oder von dem unbändigen, peinigenden Drang des Mitgefühls gemartert wurden – ich denke, all diese Men­schen werden mehr von all den Ereignissen verstehen, die wo­chenlang die ganze Welt bewegt haben, wenn sie dieses Heft le­sen. Allein die minutiöse, fesselnde und erschütternde Reporta­ge von Cay Rademacher ist jeden Cent des Preises wert.

So furchtbar es auch sein mag, dass es stets Katastrophen sind, die solche Hefte hervorzubringen scheinen, so dankbar sollten wir der Courage derjenigen sein, die den Mut haben, sie zu ge­stalten. Es war, ungeachtet des Zeitdrucks, keine leichte Aufga­be, aber sie wurde in Angriff genommen und zu einem guten Ende geführt. Es ist jenseits des heute oftmals üblichen seich­ten Infotainments ein solides Stück ergreifender, bewegender journalistischer Arbeit geworden.

Habt vielen Dank dafür.

© 2005 by Uwe Lammers

Ich denke, man spürt auch über die zeitliche Distanz hinweg noch, wie bewegt ich damals war. An dieser Stelle kann ich mich nur wiederholen: Die Lektüre lohnt sich außerordentlich. Denn solche und analoge Katastrophen ereignen sich immer wieder – denken wir an das Erdbeben in der Türkei jüngst, denken wir an hirnlose Kriegsgeschehen seitens Russlands in der Ukraine. Für solche Fälle brauchen wir gründlichen, kritischen Journalismus wie den in diesem Heft.

In der nächsten Woche wird es sehr viel entspannter, verspro­chen. Dann bespreche ich den zweiten Band der „Perfect Passi­on“-Serie, und da ist Amüsement garantiert.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

1 Vgl. dazu auch meinen Rezensions-Blog 376 vom 2. November 2022.

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