Rezensions-Blog 435: Feuerflut

Posted Dezember 20th, 2023 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

seit ich die James Rollins-Romane um die Sigma Force und die sinistre Gilde zu lesen begonnen habe, handelt es sich um eine sowohl actionreiche wie bisweilen erstaunlich tiefgründige histo­risch-phantastische Geschichte, die in sich selbst einer Form von Schatzsuche ähnelt. Das kennen wir filmisch aus zahlrei­chen Vorbildern, keine Frage, zwei der jüngsten solchen Aben­teuer sind die Verfilmung von „Uncharted“ und die leider nach nur einer Staffel eingestellte Serie „Das Vermächtnis von Monte­zuma“, die ich beide gemocht habe.

Rollins geht, und da ist er ganz im Erzählstrom der frühen James Bond-Filme, der Verschwörung in sich steigernden Abenteuer­schritten auf den Grund und nähert sich dem Kern der gegneri­schen Organisation. Was bei Bond SPECTRE und Ernst Stavro Blofeld sind, ist hier der innere Zirkel der Gilde. Zugegeben, der Kern ist dann erst im nächsten Band erreicht, aber das hier ist die hochdramatische Vorstufe dazu. Und wer den bisherigen Sigma Force-Romanen schon fiebernd gefolgt ist, wird hier defi­nitiv nicht enttäuscht.

Mir zeigte die Lektüre dieses Romans außerdem einmal mehr, dass ich endlich mal das Buch Mormon von Joseph Smith lesen sollte, das bei mir seit Jahrzehnten im Bücherschrank steht … ich hatte in den 90er Jahren aus religionsphilosophischen An­wandlungen heraus den Wunsch, mal diese Quellen zu lesen, und hier steht neben einer Bibel auch der Koran und buddhisti­sche wie hinduistische Schriften … leider alles noch weitgehend ungelesen. Hätte ich etwa das Buch Mormon schon durch, hätte ich auf die zahllosen Anspielungen in diesem Buch sicherlich an­ders reagiert – aber ich versichere euch, die Lektüre funktioniert auch bestens ohne die detailgetreue Kenntnis von Joseph Smith.

Und verdammt, wie gut die wirkt …!

Feuerflut

(OT: The Devil Colony)

Von James Rollins

Blanvalet 37472

576 Seiten, TB

März 2015

Übersetzt von Norbert Stöbe

ISBN 978-3-442-37473-4

Man schreibt das Jahr 1827, so erzählt es jedenfalls bald danach der amerikanische Farmersohn Joseph Smith aus Fayette, New York, dass der Engel Moroni herabsteigt und ihm auf goldenen Tafeln die Geschichte des verlorenen Stammes Israels zeigt, der im Jahre 590 vor Christus Amerika erreicht hat und hier ein neu­es Staatswesen gründete, bis es schließlich im Gegensatz zu den einheimischen Indianern zugrunde ging, womöglich in ih­nen aufging. Smith sollte nach dieser Offenbarung, die er im Buch Mormon niederschrieb, die Mission dieses verlorenen Stammes weiterschreiben und gründete 1830 die Religionsge­meinschaft der Mormonen. Nach seinem frühen gewaltsamen Tod im Jahre 1844 übernahm Brigham Young als erster Präsident der Mormonen die Glaubensgemeinschaft und führte sie nach Utah, um dort in Salt Lake City ein neues Gemeinwesen zu be­gründen, das bis heute Bestand hat.

Nun haben allerdings genetische Nachforschungen der jüngsten Vergangenheit überdeutlich gezeigt, dass sich in den indiani­schen Zellen keinerlei Hinweise auf eine Abstammung aus dem Nahen Osten finden. Es gilt vielmehr ausdrücklich als ausge­macht, dass die Einwanderung schon vor Abertausenden von Jahren über die Beringstraße aus Asien erfolgte. Mithin scheint der Mormonen-Gründungsmythos eben genau dies zu sein: ein Mythos. Dies ist umso wahrscheinlicher, als die angeblich in „re­formiertem Ägyptisch“ geschriebenen Tafeln des Engels Moroni spurlos verschwunden sind.

Erzählen kann man viel …

Dann aber werden in der Gegenwart in den Bergen Utahs tat­sächlich in einem alten Indianergrab goldene Tafeln mit seltsa­men eingravierten Schriftzeichen entdeckt – und ein Tierschä­del, den man öffnen kann und dessen Innenseite mit Gold über­zogen ist. Er enthält eine rätselhafte Höllensubstanz, die, als sie ans Tageslicht gebracht wird, eine ungeheuerliche Explosion auslöst – und danach ganz offensichtlich so etwas wie einen Atombrand, der sich gnadenlos in das umliegende Gestein frisst und eine Umweltkatastrophe ersten Ranges auslöst.

Die bedrohlichen Geschehnisse rufen nahezu unvermeidbar die Sigma Force unter Direktor Painter Crowe auf den Plan, der sich darum bemüht, Schadensbegrenzung zu betreiben. Dazu hat er auch einen ganz persönlichen Grund – seine indianische Nichte Kai Quocheets, die sich einer radikalen Indianergruppierung an­geschlossen hat und die Ahnenhöhle mit Sprengstoff verschlie­ßen möchte, ist in den Besitz von zwei der Goldtafeln gekom­men und wird nun erbarmungslos gejagt.

Schnell stellt sich heraus, dass die Hintermänner der Verfolgung der Terrororganisation entstammen, mit der die Sigma Force schon seit Jahren ständig aneinander geraten ist – der Gilde. Aber es ist rätselhaft, was die Gilde wohl mit indianischen Arte­fakten anfangen möchte. Das klingt alles sehr eigenartig. Nie­mand ahnt zu diesem Zeitpunkt, dass sie sich in den Randaus­läufern eines seit Jahrhunderten tobenden Krieges befinden, und die Gilde ist durch die jüngsten Entdeckungen auf der Sie­gerspur, ohne freilich eine Ahnung vom zu zahlenden Preis zu besitzen.

Dann taucht die vormalige Gilden-Agentin Seichan bei Grayson Pierce auf und macht ihn darauf aufmerksam, dass ganz offen­kundig die höheren Gilden-Dienstgrade, die so genannten „Echelon“, in großer Aufregung zu sein scheinen. Und das alles hat mit den geheimnisvollen Goldtafeln, der ungeheuerlichen Substanz, die in der Höhle freigesetzt wurde und mit etwas zu tun, was man die „14. Kolonie“ nennt. Seichan erklärt, dass die Wurzeln der Gilde mindestens bis zu den amerikanischen Grün­dervätern zurückreichen – und genau dort gibt es eine Über­schneidung mit der indianischen Überlieferung.

Es hat zu tun mit der Lewis- und Clarke-Expedition im frühen 19. Jahrhundert und mit Thomas Jefferson sowie einem Franzosen namens Archibald Fortescue, dessen Spuren aus der Geschichte von der Gilde weitgehend ausgelöscht wurden. Aber zum Glück für die Sigma-Agenten nicht gründlich genug.

Doch dieses Mal liefert sich Sigma nicht nur mit der Gilde einen Wettlauf, sondern auch mit einer globalen Katastrophe: denn Neutrino-Teleskope im Innern der Erde verzeichnen sowohl bei der Detonation in Utah als auch an anderen Stellen des Erdballs eine steigende Zerfallsrate von irdischen Neutrinos. Die Explosi­on des einen Vorkommens scheint die anderen geradezu eben­falls zum Zerfall anzuregen.

Als bei der zweiten Explosion eine ganze Insel vor der isländi­schen Küste versenkt wird, wird Painter Crowe überdeutlich klar, dass sie dringend herausfinden müssen, wo die „verlorene Kolo­nie“ liegt – denn dort scheint den Informationen nach, die sie haben, das größte Vorkommen dieser instabilen Substanz zu lie­gen. Ein Vorrat, der eine Detonation auslöst, die mehr als hun­dertmal so stark sein wird. Die bisher beobachtete „Feuerflut“ ist also nur ein leiser Vorgeschmack auf die Apokalypse – und die tickende Uhr gibt ihnen nur noch wenige Stunden, bis sich die Welt durch die Katastrophe unwiderruflich für immer verän­dern wird und Hunderte von Millionen Menschen umkommen …

Nachdem schon der letzte Sigma Force-Roman mit der Bemer­kung endete „Es gibt Krieg“, zieht die Eskalationsschraube hier noch etwas mehr an. Mit dem skrupellosen Rafael Saint Germai­ne taucht erstmals ein hochrangiges Mitglied der Gilde auf, ein zwar wegen der Glasknochenkrankheit schwer geschädigter Mann, aber gesegnet mit einem brillanten, intriganten Verstand, unterstützt von unglaublichen Geldmitteln, geradezu auf Selbst­mord konditionierten Truppen und den Sigma-Leuten offenbar stets einen wesentlichen Schritt voraus. Es wimmelt vor Hinter­halten, heimtückischen Komplikationen, Doppelagenten, wech­selnden Loyalitäten und unsicheren Nachrichtenverbindungen.

Und schließlich, als die Katastrophe schlechthin droht, macht Painter Crowe aus lauter Verzweiflung einen Schachzug, den selbst seine eigenen Leute nicht erwarten. Schlicht, weil er nicht anders kann und ihnen allen auf dramatische Weise die Zeit davonläuft.

Was er tut? Ach nein, das mag ich hier nicht verraten, das wür­de zu viel der Spannung zerstören. Aber es ist allemal sehr le­senswert. Dasselbe gilt auch für die historischen Verbindungs­pfade, die die Geschichte zieht, die diesmal zentral eine urame­rikanische ist. Während die Goldtafeln schon auf die Mythen der Mormonen verweisen, fragt man sich geraume Zeit, was um al­les in der Welt sie mit den Indianern zu tun haben sollen. Und als dann ein mormonischer wie indianischer Wissenschaftler Brücken zu bauen sucht, klingt das alles ziemlich abenteuerlich. Schweigen wir mal von dem nicht minder atemberaubenden Einbau von Nanomaschinen in die Frühzeit der Historie. Hier be­finden wir uns fast nahtlos in der Science Fiction!

Was mich hingegen beeindruckt hat, war die intensive Einarbei­tung der indianischen Historie in die Handlung, da ist Rollins sehr ins Detail gegangen, und nahezu sämtliche Locations, in denen er seine Protagonisten agieren lässt, gibt es tatsächlich (einigen davon spielt er in bekannter Manier allerdings übel mit, das tat manchmal mir als Historiker richtig weh).

Gegen Schluss vermochte mich aber die Darstellung der „verlo­renen Kolonie“ nicht wirklich zu überzeugen. Das kam mir doch sehr gekünstelt vor. Man stelle sich in einem originär vulkani­schen Gebiet, das immer noch permanent seismisch aktiv ist, eine riesige unterirdische Höhle nebst dort seit Jahrtausenden existenter Stadt vor! Ganz ehrlich – erstens hätte man wahnsin­nig sein müssen, um diesen Ort für eine Koloniegründung zu wählen, zum zweiten wäre durch die ständigen Erdbeben die Höhle zweifelsohne längst eingestürzt. Aber das passt Rollins natürlich nicht ins Konzept, weswegen er hier geflissentlich munter weichzeichnet.

Parallel zu dieser Handlungsschiene kommt dann aber noch et­was anderes zutage, ein jahrhundertealtes Geheimnis, das bis zum Zentrum der Gilde führt, dem „Reinen Stammbaum“. Und zu dem mutmaßlichen Oberhaupt der Gilde … das freilich ist dann ein Geheimnis, das für diesen Roman zu groß ist und uns unmittelbar in den nächsten führt, „Mission Ewigkeit“. Wie in diesem Roman die Fährten in das Golddepot von Fort Knox füh­ren und zum Grab von Meriwether Lewis sowie zur Geheim­schrift von Thomas Jefferson, das sollte man echt gelesen ha­ben, wenn man sich ein bisschen behaglich gefühlt hat im Film „Das Vermächtnis der Tempelritter“. Das hier erinnert streckenweise sehr daran, wird dann aber zugleich mit „Fast & Furious“ und „Indiana Jones“ gekreuzt … herauskommt in­telligente, wendungsreiche Action mit historisch versiertem und fundiertem Tiefgang.

Klare Leseempfehlung.

© 2019 by Uwe Lammers

In der kommenden Woche gibt es dann mal wieder das komplet­te Kontrastprogramm, wenn ich in das beschauliche und ledig­lich biografisch-beziehungsbezogene Abenteuer der von Saman­tha Young nach Edinburgh zurückkehre. Da könnt ihr euch dann wieder etwas runterkühlen, das braucht ihr nach dem obigen Roman unstrittig.

Bis bald, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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