Liebe Freunde des OSM,
ja, auch vor fast 70 Jahren gab es schon spannende Science Fiction-Romane! Glaubt nicht, dass das, was sich aktuell in den Buchhandlungsregalen befindet (oftmals übrigens nur teure Neuauflagen von Klassikern, wie man mühelos im Fall von „Dune“ oder etwa „Foundation“ usw. sehen kann), die Bandbreite der SF abbildet. Wer so kurzsichtig ist, ahnt überhaupt nicht, was ihm an faszinierenden Klassikern entgeht.
Ich hatte und habe demgegenüber immer noch den Vorteil, gut gefüllte Bücherregale voll ungelesener Bücher stehen zu haben, die gemächlich altern und auf die klassische Weise Zeitreise betreiben: einen Tag pro Tag immerzu in Richtung Zukunft (wie Stephen Hawking in „Eine kurze Geschichte der Zeit“ nachweist, wäre ein negativer Zeitpfeil nur für Welten geeignet, in denen Leben wie das unsere nicht existieren könnte … aber das ist eine andere Art von Diskussion, die wir nicht hier und heute führen müssen).
In diesen Regalen fand ich vor inzwischen auch schon mehr als 25 Jahren dieses damals schon lange wartende Buch von Wilson Tucker und verschlang es binnen kürzester Zeit. Gut, der Roman an sich ist auch nicht sehr umfangreich … doch das berechtigt nicht zu der Vermutung, man könne es auch schnell lesen. Das hängt immer vom Gehalt des Textes ab, und in diesem Fall verlangt er dem Leser einigen Denkschmalz ab, verlasst euch darauf.
Immerhin geht es um Zeitmaschinen (wahrscheinlich zumindest), um Bombenattentate und Telepathen … und was bedeutet das nun im Detail? Schaut es euch an:
Zeit-Bombe
(OT: Time Bomb)
von Wilson Tucker
Ullstein 3140
128 Seiten, 1975
ISBN-13: 978-3752957181
Wie gut, dass vor den Zeitmaschinen die Telepathen gekommen sind …
Wer diesen Gedanken befremdlich findet, ist reif für diesen Roman, neugierig geworden.
Man schreibt etwa das Jahr 1970 (das wird im Roman aber nur indirekt genannt), als im nördlichen Amerika eine Reihe von Terroranschlägen das öffentliche Leben beunruhigt. Im Ablauf von sechs Wochen erfolgen sechs Explosionen. Stets ereignen sie sich in regnerischen Nächten, immer betreffen sie geschlossene Räume, ja, manchmal IMPLODIEREN diese Gebäude sogar bei der Detonation. Niemand kann hinreichende Sicherheitsvorkehrungen treffen, niemals überlebt jemand die Detonationen. Und immer, ausnahmslos, sind Anführer der radikal-patriotischen Vereinigung der Söhne Amerikas die Opfer.
Ihr Oberhaupt ist ein Mann namens Ben, der in den in rund 4 Monaten anstehenden Novemberwahlen Vizepräsident werden möchte. Als Präsidentschaftskandidat ist eine Marionette namens Smith geplant, und seine Chancen stehen sehr gut. Längst haben die Söhne Amerikas die Verwaltungen und Behörden sowie den Polizeiapparat infiltriert.
Captain Redmon und sein direkter Untergebener, Leutnant Danforth, versuchen an der Spitze einer Polizeikommission, die Sprengstoffattentäter dingfest zu machen, dennoch tappen sie im Dunkeln. Dabei stehen ihnen eindrucksvolle Hilfsmittel zur Verfügung: der Telepath Mr. Ramsey und die so genannten „Zeitkameras“, die vor Jahren entwickelt wurden und imstande sind, bis zu 27 Minuten die Vergangenheit aufzunehmen.
Alles hilft nichts. Schließlich ereignet sich eine weitere Detonation, bei der erneut ein hohes Mitglied der Söhne Amerikas umgebracht wird. In dessen Anwesenheit stirbt auch, wie Mr. Ramsey sagt, der Polizeichef Redmon. Danforth, der das Kommando über die Spezialeinheit übernimmt, wird kurz darauf wegen Mangel an Erfolgen entlassen.
Dennoch macht er, freilich etwas resigniert, weiter. Besonders, nachdem er über verletzte Passanten Shirley und Gilbert Nash kennengelernt hat, zwei geheimnisvolle, für ihn aber sehr sympathische Menschen, die besonders gerne über Zeitmaschinen reden (die es bekanntlich nicht gibt).
Auch die Söhne Amerikas und die Öffentlichkeit sind unterdessen von der Zeitmaschinen-Hysterie erfasst worden, und natürlich wird von der Polizei gefordert, dass man sie vor diesen zeitreisenden Attentätern schützen soll. Nur: wie soll das geschehen? Wie soll man Mörder fangen, die offensichtlich durch Zeitreisen jeden Sicherheitskordon unterlaufen können, um dennoch ans Ziel zu gelangen? Und wie sollen die Morde überhaupt möglich sein, wo es doch keine Zeitmaschinen gibt? Und woher soll man wissen, ob es nicht – in der Zukunft – gute Gründe für die Morde gibt?
Wenn es sich denn um Zeitreisende handelt, die da morden …
„Zeit-Bombe“, ein durchaus gut gewählter, doppeldeutiger Titel, ist ein Roman aus dem Jahr 1955 (sic!), der besonders um die Person Leutnant Danforths kreist und sehr schön darstellt, wie eine Welt, die durch Telepathen, Zeitkameras und die Gedanken an Zeitmaschinen verändert ist, auch andere Arten von Verbrechen hervorbringt, die ihrerseits veränderte Polizeigewohnheiten bedingen.
Intelligent beschrieben, feinfühlig, was auch die absurden Nebengleise des Denkens angeht (so macht sich Danforths beispielsweise Gedanken darüber, was ein potenzieller Zeitreisender macht, wenn er seine Maschine im Keller baut und dann in der Vergangenheit herauskommt, wenn das Haus noch nicht gebaut ist: Er müßte dann immer eine Schaufel dabei haben, um sich auszugraben, doch wohin nur mit dem Erdreich?) und durchaus ebenfalls auf falsche Fährten lockend, wenn Tucker die vergangenen Attentate Revue passieren lässt und dabei beschreibt, wie hochrangige Söhne Amerikas spurlos sterben und wichtige Akten der Partei dabei vernichtet werden.
So kam ich beispielsweise anfangs auf den Gedanken, es könne sich um ein raffiniertes Komplott von Seiten der Söhne Amerikas handeln, gewissermaßen wahlkampfkonform eingebaut, um die Chancen des Sieges zu erhöhen. Aber der Roman geht denn doch in eine etwas andere Richtung.
Auf alle Fälle ist dieser Roman aus der Frühzeit der „anspruchsvollen“ Science Fiction ein wahres Juwel unter den Romanen, die ich in den letzten Jahren gelesen habe, und das einzige, was ich mir ehrlicherweise vorwerfen kann, ist, warum ich ihn seit fast zehn Jahren ungelesen im Regal stehen hatte, bis ich ihn an zwei Tagen „weggelesen“ habe. Das sollte keiner nachmachen. Also, lest ihn. Es lohnt sich.
Nachtrag: Wen die Beschreibung des Romaninhaltes verdächtig an die Verfilmung der Dickschen Kurzgeschichte „Minority Report“ erinnert, der liegt vermutlich nicht so ganz falsch. Es gibt eindeutige Parallelen dieser beiden Werke, wobei man insbesondere den Faktor PSI, den Faktor Zeit und die Neuartigkeit der Verbrechen und Verbrechensbekämpfung nennen muss. Allerdings geht Tucker weit über den Film hinaus, seine Vision ist weit verstörender. Wer also den Film kennt, auch dem sei dieses Buch sehr ans Herz gelegt.
© 1997/2003 by Uwe Lammers
Ja, das ist schon eine interessante, zum Denken anregende kleine Geschichte. In der kommenden Woche nähern wir uns dann wieder den zwischenmenschlichen Kontexten der Erotik.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.