Liebe Freunde des OSM,
dass auch versierte Bestseller-Autoren mal schwache Tage haben können, ist, glaube ich, weder eine Überraschung noch eine Schande. Das habe ich schon bei Clive Cussler und diversen Autorinnen der Erotik-Romance-Branche erlebt, und hier ist es eben James Rollins, der bei einem ausgesprochen schwachen Moment erwischt wird.
Wie ich damals in meiner Rezension schrieb, schätze ich den Autor durchaus, und die ersten vier Romane seiner Sigma Force-Reihe wussten sehr zu gefallen. Aber hier kommt so ein bisschen der Faktor ins Spiel, der sich anderweitig auch ausbreitet. Ich nenne nur mal zwei Beispiele:
Als „Jäger des verlorenen Schatzes“ zu so einem Kinoerfolg wurde, drehte Steven Spielberg gleich einen zweiten Teil … der in Indien spielt, mit einer blutgierigen Geheimsekte zu tun hat und unter anderem einem Bergwerk, in dem Kindersklaven gehalten werden. Dennoch blieb „Indiana Jones und der Tempel des Todes“ weit hinter den Erwartungen des ersten Teils zurück. Weswegen Spielberg im dritten Indiana Jones-Film dann wieder auf die beliebten Nazis als Schurken setzte (und auf Sean Connery, natürlich), wodurch die Popularitätskurve wieder anstieg.
Ähnlich, wenn auch inhaltlich ganz anders, war es bei der Filmserie „Fast & Furious“, die im Teil „Tokyo Drift“ komplett auf Vin Diesel und die bisherige Crew verzichtete … und daraufhin ebenfalls floppte. Worauf sie Diesel hastig reaktivierten und weiter beibehielten. Die Kassenergebnisse gaben ihnen recht.
Was hat das mit dem vorliegenden Roman zu tun? Nun, das ist ganz simpel: Die ersten Sigma Force-Romane ziehen wesentlich ihre Faszination aus dem Geheimbund der „Gilde“, die der Sigma Force vielfach an Raffinesse, Manpower und weit gestreckten Plänen lange voraus ist. Das hat sie mit den besseren Villains bei James Bond oder bei Clive Cussler durchaus gemein.
Im vorliegenden Roman versuchte Rollins, einen bösartigen russischen Potentaten aufzubauen – wie beim zweiten Indiana Jones zeigt sich hier aber, dass er nicht annähernd das Format besitzt, um den bisherigen Feindmaßstab zu erreichen. Er reißt die Latte, um im Sportjargon zu bleiben, und das Ergebnis ist eher ernüchternd.
Es empfiehlt sich darum, an den vorliegenden Sigma Force-Roman mit deutlich herabgeschraubten Erwartungen heranzugehen. Und das ist es, was Rollins diesmal bietet:
Das Messias-Gen
(OT: The last Oracle)
Von James Rollins
Blanvalet 2010
580 Seiten, geb.
Übersetzt von Norbert Stöbe
ISBN 978-3-7645-0262-1
Orakel waren für die Römer stets unheimlich – und in dem Moment, in dem sie den eigenen Untergang weissagten und zudem noch nicht in Italien angesiedelt waren, sondern in Griechenland, ergriffen sie radikale Maßnahmen, um vermeintlich göttliches Verderben aufzuhalten. Im Jahre 398 nach Christus etwa unternahmen sie einen Feldzug, um das Orakel von Delphi ein für allemal aus der Weltgeschichte zu löschen. Ein Feldzug, der Erfolg hatte … vordergründig zumindest. Aber die Legende vom Orakel von Delphi lebte weiter.
März 1959: In den Karpaten sind russische Eliteeinheiten unterwegs, um einen obskuren Auftrag auszuführen. Sie sollen eine scheinbar völlig bedeutungslose Gruppe von Roma ausfindig machen – und sie allesamt töten. Bis auf die Kinder, die von ihnen entführt werden. Federführend ist Major Juri Raew und die Geheimdienstoffizierin Sawina Martowa. Sie machen den Clan tatsächlich ausfindig und entführen die Kinder, während alle anderen niedergemetzelt werden. Vordergründig eine bizarre, nutzlose Operation, aber scheinbar gibt es keine Zeugen mehr dafür. Scheinbar …
In der Gegenwart, rund zwei Monate nach dem Ende des vorherigen Romans „Der Judas-Code“, herrscht bei der Sigma Force in Washington, dem militärischen Arm der DARPA des amerikanischen Geheimdienstes, eine ausgeprägte Katerstimmung – bekanntlich haben sie zwar eine globale Epidemie verhindert, die sich damals aus Fernost auszubreiten begann. Aber Commander Grayson Pierce hat auch seinen besten Freund Monk Kokkalis verloren, und die Agentin Kat Bryant auf diese Weise zugleich damit ihren Mann und Vater der gemeinsamen kleinen Tochter. Und zwei Monate sind einfach zu kurz, um diesen Schmerz zu verdauen.
Als direkt in Grays Armen auf der National Mall von Washington ein Mann stirbt, der scheinbar ein Obdachloser war, hält er das zunächst für einen Anschlag, der ihm selbst galt, aber er täuscht sich gleich in mehrfacher Hinsicht. Der Sterbende hat ihm eine römische Silbermünze übergeben, auf der ein Tempel und der Buchstabe Epsilon zu sehen sind. Und der Tote ist kein obdachloser Nobody, sondern einer der Gründerväter von Sigma, Professor Archibald Polk. Wie es scheinbar der Zufall will, arbeitet seine Tochter Elizabeth direkt gegenüber dem Sigma-Hauptquartier im Museum für Naturgeschichte, und dort wird gerade eine Ausstellung zum Thema Delphi vorbereitet.
Und dann fängt die Geschichte an, höchst abenteuerlich zu werden – hochrangige russische und amerikanische Geheimdienstkreise arbeiten seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion an einem gemeinschaftlichen Projekt, das die Russen schon seit Jahrzehnten verfolgen. Es geht im Kern um die Optimierung einer Gruppe sehr spezieller autistischer Savants, deren Begabungen ans Paranormale grenzen. Die einen vermögen extrem schnell logisch zu kombinieren, andere übertreffen selbst Rechner mit ihren Rechenfähigkeiten, die nächsten sind mächtige Empathen, und wieder andere verstehen es, gewisse Dinge vorherzusehen und über Hunderte von Kilometern mit Ihresgleichen mental zu kommunizieren. Eines dieser Kinder hat der Mörder Professor Polks, Major Juri Raew, mit nach Washington gebracht. Ein Mädchen, das seltsamerweise den Jungennamen Sascha trägt, was mir den ganzen Roman über nicht einleuchten wollte.
Die amerikanischen Geheimdienstler unter einem skrupellosen Mann namens Mapplethorpe spielen ein doppeltes Spiel und wollen unbedingt das Mädchen in ihre Gewalt bekommen … das aber ist derweil schon entführt worden, und zwar von einer Gruppe Roma, die es nun ihrerseits geradewegs zur Sigma Force lenken.
Außerdem wird nach Professor Polk auch dessen Tochter, die die Kuratorin der Delphi-Ausstellung ist, verfolgt und kann nur um Haaresbreite gerettet werden. Die Fährte, die sich von dort aus spannt, führt nach Indien zu Polks altem Kollegen Masterson – und geradewegs in die nächste Falle. Gray Pierce und sein kleines Team werden dort zunächst von amerikanischen Geheimdienstlern beinahe getötet, bald darauf setzen sich mörderische russische Spezialkräfte an ihre Fährte.
Und in der Tat führen alle Spuren letztlich nach Russland. Hier hat der charismatische Politiker Nicolas Sokolow einen zweiteiligen, mörderischen Plan ersonnen, um mit Hilfe der paranormal begabten Kinder und der nuklearen Altlasten der Sowjetunion die bestehende Welt in Brand zu stecken und aus der Asche als globaler Diktator wieder zu erstehen.
Er hat allerdings nicht mit der Zähigkeit und Kombinationsgabe der Sigma Force-Agenten um Direktor Painter Crowe und Grayson Pierce gerechnet. Und ihnen zu Hilfe eilen die Kinder, die völlig andere Pläne verfolgen als Sokolow – aber selbst sie wären wehrlos, wenn sie nicht rechtzeitig dafür gesorgt hätten, dass sie einen scheinbar hilflosen Beschützer haben: Einen Mann ohne Erinnerung, der nur noch eine Hand besitzt und beim besten Willen nicht weiß, warum er eine Schar Kinder mitten durch die Sümpfe des Ural führt, verfolgt von russischen Wachmannschaften, manipulierten Tigern und zunehmend durchseucht von radioaktiver Strahlung …
Ich mag James Rollins und seine Romane wirklich gern, und die ersten vier Romane um die Sigma Force haben mir auch ausgezeichnet gefallen. Dieser fünfte Band aber weist dann doch solche Schwächen auf, dass ich ihn nur noch als mäßig bezeichnen kann. Sehen wir mal von dem vollständig abwegigen deutschen Titel ab, fällt sehr deutlich während der Lektüre auf, dass der Roman nahezu ausschließlich auf Geschwindigkeit geschrieben wurde. Er liest sich ohne Zweifel rasant, etwa wie Clive Cussler-Romane. Aber die gründliche Backgroundgeschichte kommt doch auf geradezu tragische Weise zu kurz. Vieles, insbesondere bezogen auf die Sowjetunion, ihr Nuklearprogramm und den Zusammenbruch ist zwar inhaltlich nicht falsch, aber man hat das dumme Gefühl als Leser, als würden hier mehrheitlich Klischees bedient.
Dasselbe gilt für die Gegner der Sigma Force, die diesmal definitiv kein Format haben. Sokolow und seine Handlanger kommen als monomanische, größenwahnsinnige Fanatiker herüber, die sich mit nicht minder dumpfem Personal umgeben und eigentlich ständig nur Pannen produzieren. Selbst die amerikanischen CIA-Gegner der Sigma Force lassen sich letztlich auf geradezu alberne Weise übertölpeln. Zahlreiche Wendungen im Roman sind so durchsichtig und vorhersehbar, dass die Lektüre nur be-dingt Vergnügen machte.
Am meisten genervt hat mich allerdings der unendlich kaugummiartig in die Länge gezogene Handlungsstrang um Monk Kokkalis und die Kinder, die er in Sicherheit bringen soll. Leider versucht Rollins, aus den Kindern kleine, neunmalkluge Erwachsene zu machen – was handlungsnotwendig ist, weil er in diesem Handlungsstrang eben auf geradezu peinliche Weise niemanden hat, der irgendwelche Informationen einführen kann. Monk hat keine Erinnerung, die Kinder sind im Grunde aus ihrem unterirdischen Versteck nie herausgekommen … die Glaubwürdigkeit erleidet hier irreparable Schäden, ganz zu schweigen von der Strahlungs-Geschichte.
Auch wird beim Sascha-Handlungsstrang deutlich gesagt, dass das Mädchen durch den Einsatz der eigenen Gaben immer rascher körperlich verfällt und zudem abhängig von sehr speziellen Medikamenten ist. Warum sollte das bei den anderen Kindern, die Monk in die Freiheit führt, anders sein? Und was sollten sie in dieser verstrahlten Umgebung an Nahrung zu sich nehmen? Das wirkt alles hastig improvisiert, leider über Hunderte von Seiten verstreut, so dass es schlussendlich doch sehr zu nerven beginnt.
So interessant und historisch ziemlich plausibel herbeigeführt zwar die Verbindungslinie der Roma von Indien über Griechenland nach Russland auch sein mag, irgendwie vermag die Geschichte insgesamt kaum zu überzeugen. Hier hat sich James Rollins verleiten lassen, auf einem Sektor tätig zu sein, der nicht halbwegs glaubwürdig vermittelt wurde. Wenn der Plan darin bestand, Monk auf abenteuerliche Weise zurück in die Haupthandlung zu führen, ist das zwar schon gelungen, aber der Weg, der dafür eingeschlagen wurde, ist an Peinlichkeit und Künstlichkeit nur schwer zu überbieten.
Besonders bedauerlich fand ich, dass gerade Kinder auf so widerwärtige Weise vielfach instrumentalisiert worden sind. Das mag bei einzelnen Individuen vielleicht noch gerade angehen, aber hier waren es dann schließlich sehr viele, die fast wie Schlachtvieh behandelt wurden – was in der Quintessenz dann ihre Individualität völlig nivelliert hat und sich bedauernswert rasch abnutzte. Auch hier viele Klischees, für die unter anderem Dr. Mengele von Auschwitz bemüht werden musste. Unschön.
Ich denke darum, dass es sich um einen hastig heruntergekurbelten Roman handelt, der unter hohem Zeitdruck geschrieben wurde. Man kann ihn daher allenfalls eingefleischten Rollins-Fans empfehlen, und ich hoffe doch sehr, dass sein kommender Roman wieder besser wird.
© 2019 by Uwe Lammers
Ja, ihr merkt schon, hier habe ich mich nicht gerade euphorisch überschlagen … auch solche Sachen muss es geben, wenn man Romanreihen bespricht. Ich sagte ja verschiedentlich, dass das hier kein Schönwetterblog ist und hier nur Lobhudelei betrieben wird. Wenn ich mir so die sehr guten Zugriffszahlen auf meine Homepage anschauen, möchte ich vermuten, dass es das ist, was ihr nicht zuletzt an meinen Rezensionsberichten schätzt.
Ihr könnt sicher sein, dass die Berichterstattung auch weiterhin schön durchwachsen sein wird. Nicht nur, was die verschiedenartigen Genres angeht, zu deren Produkten ich etwas erzählen werde, sondern auch hinsichtlich der qualitativen Eignung. Ausgesprochene „Verrisse“ werden auch weiterhin selten sein … und die zurückhaltenden Kommentare werden stets von ausgesprochenen Empfehlungen und Sahnestücken kontrastiert werden.
In der kommenden Woche kehren wir zurück nach Edinburgh in den Kosmos von Samantha Young. Da wird es dann deutlich unaufgeregter als dieses Mal, versprochen.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.