Liebe Freunde des OSM,
heute habe ich mal wieder eine recht alte Rezension ausgegraben, die ich zu einem wirklich faszinierenden Leseexperiment verfasste, das mich anno 2003, also vor zwanzig Jahren, nachhaltig sprachlich beeindruckt hat. Nun, zum einen sprachlich. Zum anderen aber auch biografisch. Natürlich bin ich Historiker und lege Wert, gerade bei Biografien, auf eine akkurate Zitation und Quellenbelege.
Natürlich tue ich das. Aber dieses Buch, und das wird in den unten wiedergegebenen Zeilen recht deutlich, driftet von diesen klaren Kategorien weg. Es überschreitet, wenn man so will, sowohl die Grenzen einer klassischen Biografie als auch die einer rein fiktionalen Erzählung. Indem sie beides vermischt und sich Autorin und Hauptperson – die durchaus verschieden sind und auch in unterschiedlichen Jahrhunderten lebten – gleichsam amalgamieren, entsteht ein kleines literarisches Kunstwerk, das nicht so recht mit den engen Schubladen des gewöhnlichen Denkens gefasst werden kann.
Ich habe das damals ausdrücklich als Vorteil verstanden. Es hat ein wenig etwas von einer Zeitreise an sich, ohne dass es im strengen Sinn eskapistisch geformt wäre. Das zu denken hieße, dieses Büchlein falsch zu verstehen. Seurat wählt Hester Stanhope als reale Projektionsfläche und hält auf diese Weise und in dieser literarischen Form der Welt einen Spiegel vor.
Meiner Ansicht nach ist das Experiment überaus gelungen. Aber macht euch am besten selbst ein Bild. Ach ja, und eins noch: Viele Anspielungen rekurrieren natürlich ihrerseits auf die Königin Zenobia von Palmyra … sich über sie im Vorfeld schlau zu machen, ist ohne Zweifel von Vorteil, um die zahlreichen Anspielungen angemessen würdigen zu können.
Aber nun Vorhang auf:
Mein Königreich des Windes
(OT: Mon royaume du vent)
von Marie Seurat
Fischer 13666
Reihe: Die Frau in der Gesellschaft
256 Seiten, TB
September 2000, 8.90 Euro
Übersetzt von Cornelia Lauber
ISBN 3-596-13666-0
„Mir gehörten fortan diese rosa- und malvenfarbenen Säulen, diese Wesen aus Stein, deren Glanz in unzähligen Tagen der Glut entstanden war. Bei Sonnenuntergang erstrahlten sie wie Fackelträger. Lange blieb ich vor einem Flachrelief stehen, das mit zwölf chaldäischen Tierkreiszeichen verziert war. Ich suchte mein Zeichen; jene zwei Fische, die durch einen Faden über ihre Mäuler verbunden waren, von denen der eine flußauf-, der andere flußabwärts schwimmt.
O meine Schwester, hatten dir deine Astrologen die Flucht zum Euphrat vorhergesagt, das Ersteigen des Kapitols in Ketten und die Villa auf der Anhöhe des Tivoli? Die Nacht bricht herein, und deine Gestirne ergreifen mein Herz. Ich habe deine Herausforderung angenommen. Auch ich habe geherrscht. Alles habe ich ersehnt, alles besessen, alles verstoßen. Pferde und Menschen, Stoffe und Waffen, Salons und Macht. Umgeben von Hunderten von Menschen, die an meinen Lippen hingen, habe ich von Jaffa bis Damaskus und von Palmyra bis Askalon geherrscht. Inmitten der Pestkranken von Latakia und Saida habe ich mit offenen Armen und verschwenderischen Händen geherrscht und das letzte Korn aus meinen Vorratskammern verteilt.
Und heute herrsche ich über mein Königreich des Windes, des Hungers und des Diebstahls, über mein dezimiertes Volk aus Dienern und Deserteuren …“
Spricht so, fragen wir Leser uns, eine Verrückte? Eine edelblütige Engländerin, der die gleißende, verzehrende Sonne des Orients den Verstand verbrannt hat und nichts als herrschsüchtige Attitüde zurückließ, einen Verstand, der entweder gerissen oder völlig wahnsinnig geworden war? So wahnsinnig, dass diese Frau jene Rolle an sich riss, die von Natur aus einem Mann gebührte, die Rolle eines Herrschers über ganze Völker …
Wir schreiben das Jahr 1812, als Lady Hester Stanhope im Orient ankommt. Der Franzosenkaiser Napoleon herrscht über große Teile Europas, das er in Brand gesteckt hat, doch sie hat dafür keinen Blick. Sie hat schon zu viel verloren und wird noch viel mehr verlieren. Für sie gibt es nur noch den Weg in die Ferne, den Weg: Weg von England, heraus aus dem unendlich einschnürenden Korsett, das ihr die Luft zum Atmen raubt.
Hester Stanhope wird in England im Jahre 1776 geboren und wächst auf dem Gut Chevening auf. Ihr Vater, ein Exzentriker und späterer Republikaner, der für Frankreich schwärmt, ist dafür verantwortlich, dass Hester eine Bildung erhält, wie sie sonst nur für Männer üblich ist (Hesters beide Brüder etwa). Hester Stanhope ist ein Abkömmling der Familie Pitt, die im Laufe weniger Jahrzehnte mehrere Male den Premierminister Englands stellen. Mit ihrem Onkel William Pitt dem Jüngeren verbindet sie eine besonders innige Freundschaft.
Mit dem Vater bricht Hester rasch, ihre Schwiegermutter – ihre leibliche ist gestorben – ist ihr verhasst, und schnell entwindet sie sich geschickt den Versuchen, sie zu verheiraten und tut Dinge, die sich als Frau einfach nicht schicken. Wie ein Mann zu reiten etwa. Auf Partys freimütig ihre eigene Meinung zu vertreten. Männern zu widersprechen. Den Haushalt ihres Onkels in der Downing Street 6 führen. Militärische Fragen offen erörtern, so offen, dass der Premierminister sie am liebsten als Heerführerin gegen Napoleon senden würde …
Als William Pitt der Jüngere im Jahre 1806 stirbt, beschließt Hester, England den Rücken zu kehren und in den Mittelmeerraum aufzubrechen. Durch eine Pension, die ihr Onkel ihr noch auf Lebenszeit aussetzte, weitgehend unabhängig, bereist Hester Stanhope den Orient, nimmt sich einen Liebhaber, beginnt Männerkleidung zu tragen und davon zu träumen, nach Palmyra vorzustoßen, jener legendären Stadt in Kleinasien, in der einst die Königin Zenobia herrschte. Doch Palmyra ist osmanisches Gebiet, und die Osmanen stehen nicht gut mit den Engländern. Es herrscht Krieg, es gibt Spionage, und, das ist das wohl größte Problem – Hester Stanhope ist eine Frau.
Aber sie macht sich neue Gesetze …
Hester Stanhopes Leben, in der Ich-Form von der in Aleppo geborenen und in Beirut aufgewachsenen Autorin Marie Seurat verfasst, ist ein Schwindel erregender Flug in den Abgrund der arabischen Seele des frühen 19. Jahrhunderts, gewürzt mit Weisheiten aus der Levante, die sowohl von Seurat wie auch von Hester Stanhope selbst stammen könnten. Seurat, einst verheiratet mit dem Orientalisten Michel Seurat, studierte in Oxford, verlor ihren Mann bei einem Angriff der Hisbollah im Jahre 1986 und lebt seither mit ihren beiden Töchtern in Paris als freie Schriftstellerin.
Und so, wie sie richtig zum Schluss sagt: „Ich habe die erste Person benutzt, denn zwischen ihr (Hester) und mir sollten keine Anführungszeichen stehen“, genau so liest sich das Buch dann auch: Es ist ihre Sicht/Hesters Sicht, und beide sind untrennbar ineinander verschränkt. Marie Seurat intensiviert diese Sicht noch dadurch, dass sie „unhistorisch“ wird und die Quellen nicht zitiert. Nur ganz selten, wo sie aus Briefen ihres Vorbildes liest, wird klar, dass es sich um ein authentisches Stück von Hester Stanhope handelt. Aber die Sprache ist einfach wunderschön, poetisch, stimmungsvoll, die Gefühle darin so heftig und intensiv, dass man das Buch ungeachtet seiner Ahistorizität lieben muss.
Und die Frage, was Hester schließlich war? Kann man sie beantworten? Lassen wir doch noch einmal die gemischte Person Hester/Marie zu Wort kommen. Sie urteilt über Hesters Arzt folgendermaßen: „Was mich betraf, so stand seine Meinung seit langem fest. Mein Arzt hielt mich für eine große, bizarre Dame, die Probleme mit ihren Nerven hatte und vom Wahnsinn bedroht war, den er abzuwenden suchte. Dieser ergebene Mensch bewunderte mich, würde aber niemals meine wahre Natur, meine innigsten Wünsche und meine Abscheu vor jeglichen Fesseln begreifen …“
Schlauer geworden? Wenn nicht, dann lest das Buch einfach. Es sind ein paar ausgesprochen kurzweilige Stunden, die bedauerlicherweise viel zu rasch vorüber sind.
© 2003 by Uwe Lammers
Wohin reisen wir in der nächsten Woche? Na, endlich mal wieder zu den Sternen! Und es gibt reichlich zu lachen, das kann ich versprechen.
Details in sieben Tagen an dieser Stelle.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.