Liebe Freunde des OSM,
politische Geschichte der jüngeren deutschen Historie ist zu Unrecht in Verruf geraten, dröge und einfallslos zu sein, phantasielos geradezu. Politikverdrossenheit macht sich in der Bevölkerung schon seit Jahrzehnten breit, und alte ideologische Schreckgespenster bevölkern einmal mehr die Arena: Rechtsruck in den europäischen Staaten, nicht zuletzt auch in Teilen der deutschen Bevölkerung, Furcht vor Atomkriegen anlässlich der neuen Frontstellung gegen Russland im Gefolge des Ukraine-Angriffskrieges. Überfremdungsängste, Rufe nach den isolationistischen Populisten, die „das Ruder herumwerfen“ sollen … als wenn das in einer global vernetzten Welt möglich wäre, wo zumindest meiner Ansicht nach ein Zurück in die enge Welt der nationalstaatlichen Isolation kaum ohne massive Abstriche am Lebensstandard denkbar ist.
In den frühen 50er Jahren nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg sah das alles vielleicht noch drastischer, schonungsloser aus. Vermeintlich hatte sich mit dem Großmächtepatt des beginnenden Kalten Krieges eine Art weichzeichnender Schleier über die Weltgeschichte der jüngsten Vergangenheit gelegt. In der Bundesrepublik blühte im Zuge des so genannten „Wirtschaftswunders“ neuer Wohlstand auf, und der knorrige alte Bundeskanzler Konrad Adenauer, einst Kölner Oberbürgermeister, schien als unbelasteter Garant dafür zu stehen, dass man die Sünden der Vergangenheit vergessen konnte und zu neuen Ufern unter den schützenden Fittichen der USA aufbrechen könne.
Aber es gab eben auch andere Kräfte, die nicht so leicht zu vergessen bereit waren, von Vergebung ganz zu schweigen. Diese Kreise waren höchst motiviert, ein blutiges Zeichen zu setzen und den Kampf eher noch zu forcieren.
Alles begann mit einer Paketsendung an den Bundeskanzler persönlich …
Attentat auf Adenauer
von Henning Sietz
Siedler-Verlag, 2003
340 Seiten, geb.
ISBN 3-88680-800-9
Die Probleme des niedergeworfenen deutschen Staates, der sich gerade als Bundesrepublik Deutschland neu etabliert hat, ohne indes bereits wieder eine souveräne Nation zu sein, explodieren am 27. März 1952 im Keller des Polizeipräsidiums von München: Ein verdächtiges Paket, abgegeben von zwei Jungen, die es eigentlich zum Postamt hätten bringen sollen, entpuppt sich als Bombe und tötet bei der Detonation den Sprengmeister Karl Reichert. Auf diese Weise entgeht der eigentliche Adressat einem lebensgefährlichen Anschlag – der Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer.
Schlägt diese Attacke hohe Wellen? Wird gar das Bekennerschreiben allgemein bekannt, das bald darauf eingeht? Nein. Ganz im Gegenteil und höchst eigenartig zu beobachten, muss der Leser des Heute erkennen, dass dieser Anschlag und die dazu begonnenen Recherchen recht schnell im Sande verlaufen und nicht viel über sie bekannt wird. Bis zum Jahre 2003 ist das Attentat auf Adenauer fast ein „Geheimtipp“, wenn man sich für die politische Frühgeschichte der Bundesrepublik interessiert.
Als der Germanist und Journalist Henning Sietz (Jahrgang 1953) den kärglichen Spuren dieser Geschichte zu folgen beginnt, wird ihm rasch klar, woran all das gelegen hat und was für eine hochbrisante Spur die Ermittler aus Bayern und die des neu gegründeten BKA in Bonn aufspüren.
Mehr als drei Jahre lang arbeiten zwei hochkarätig besetzte Kommissionen teilweise miteinander, teilweise parallel an diesem Fall. Ihre Fäden reichen dabei bald bis nach Österreich, in die Tschechoslowakei, in die Schweiz und nach Frankreich sowie nach England. Fährten der Verdächtigen führen zurück ins einstige Österreich-Ungarn, nach Polen und in die Sowjetunion, manche sogar direkt nach Israel.
Denn für das Attentat ist nicht, wie nach außen behauptet wird, ein „politischer Wirrkopf und Einzeltäter“ verantwortlich, sondern im Gegenteil eine sehr effiziente Organisation radikaler Fanatiker. Und diese Männer gehören in die Gefilde der jüdischen Jugendorganisation Betar, sie hängen zusammen mit der jüdischen Fluchthilfeorgansation Bricha, haben zu tun mit der Haganah, die im früheren britischen Mandatsgebiet Palästina für Terror gegen die britischen Besatzungsbehörden sorgte.
Und dann ist da die heißeste Fährte, die vielleicht die schlimmste von allen ist: Sie führt zum „Irgun“, genauer gesagt zum „Irgun Zwai Leumi“, auch kurz „Etzel“ genannt. Dies ist eine zionistisch-revisionistische Partei, die offiziell von ihrem Kommandanten Menachem Begin 1948 aufgelöst wird. Doch in Europa existieren weiterhin Kernzellen des Etzel. Und manche jüdische Extremisten wollen um jeden Preis verhindern, dass die junge Bundesrepublik sich mit dem Staat Israel aussöhnen kann. Wenn man dazu führende Politiker des „Volkes der Meuchelmörder“ umbringen muss, dann schrecken sie auch davor nicht zurück. Und das Attentat auf Adenauer ist erst der Anfang …
Ein historisch interessierter Leser, der ein Faible für spannende Krimis und Thriller mitbringt, wird sich in diesem Buch ganz gewiss nicht langweilen. Henning Sietz versteht es auf faszinierende Weise, ein Panorama der höchst fragilen und labilen politischen Lage der jungen Bundesrepublik zu zeichnen und vor diesem Hintergrund und unter Zuhilfenahme von Mitarbeitern an den damaligen Ermittlungsarbeiten sowie den wieder aufgefundenen Ermittlungsakten den Fall zu rekonstruieren. Dabei vergisst er nicht, stets links und rechts des eigentlichen Pfades die Verästlungen und Umgebung auszuleuchten und so differenziert und feinfühlig die Schwierigkeiten der Ermittlungsarbeit herauszuarbeiten.
Weder spart er an biografischen Details der Ermittler, von denen viele einen düsteren NS-Hintergrund besitzen, teilweise im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) oder in der SS gearbeitet haben, möglicherweise sogar in den berüchtigten Einsatzgruppen in Osteuropa (!), noch vergisst Sietz, die höchst problematischen Lebensläufe der (meist anonymisierten) jüdischen Protagonisten darzustellen. Hinzu kommen Rivalitäten der einzelnen Länder- und Bundesbehörden, juristische Fallstricke, Nachweisschwierigkeiten, technische Probleme und manchmal schlicht – Unglauben.
Ja, und dann gibt es die Frage, ob man die Wahrheit, die man herausgefunden hat, überhaupt publik machen darf. Was sagt der Bundeskanzler selbst dazu? Gibt es Absprachen mit den Repräsentanten der Jewish Claims Conference und mit israelischen Politikern? Und wie ist das später mit Heinrich Walbaum und seiner Fährte zum tschechoslowakischen Geheimdienst …?
Das Buch trägt zu Recht den Untertitel „Die geheime Geschichte eines politischen Anschlags“, und man kann vor der akribischen Arbeit der Ermittler von damals nur respektvoll den Hut ziehen. Das vielleicht einzige Manko besteht gegen Ende darin, dass es vielleicht ein bisschen wenig spekulativ wurde. Aber ansonsten lässt sich nur resümieren, was Sietz selbst sagt: Es ist höchste Zeit, dass dieses Thema einmal ordentlich aufgearbeitet wird, jenseits der engen und ideologischen Raster von „Antisemitismus“ und „Neofaschismus“.
Hier wird nicht einer Theorie der jüdischen Verschwörung das Wort geredet, sondern vielmehr differenziert aufgezeigt, dass Extremisten in allen Lagern und in jeder Art von Gesellschaft zu Hause sind. Zugleich tritt das schon seit Jahrhunderten bekannte Problem zu Tage, was man mit einer ideologisch hoch motivierten, aber überflüssig gewordenen Armee macht, in diesem Fall mit einer in Zellen aufgegliederten Untergrundarmee, die aus politischen Gründen entmachtet ist, sich aber nicht demobilisieren lassen möchte.
Die Geschichte dieser Untergrundbewegungen vor dem Spiegel ihrer durchaus höchst problematischen und sensiblen Zeit ist es, die hier ansatzweise aufgearbeitet wird. Aber das Feld bietet noch viel Themen zur genaueren Erforschung. Es ist nach über fünfzig Jahren wirklich an der Zeit, hier genauer hinzusehen. Auf weitere Veröffentlichungen dazu können wir nur hoffen.
© 2006 by Uwe Lammers
Was man aus diesem Buch in besonderer Weise gewinnen kann, wie ich finde, ist die Erkenntnis, dass eine schlichte Schwarzweiß-Zeichnung in den allerwenigsten Fällen irgendwie hilfreich ist, komplexe Taten vernünftig und rational aufzuklären. Und Sietz zeigt deutlich, wie heterogen Motive der Beteiligten waren und wie viel hier noch auf allen Seiten aufzuhellen wäre. Er hat aber schon einen mutigen Schritt in die Vergangenheit getan und ein überaus lesenswertes, Horizont erweiterndes Buch geschrieben.
In der nächsten Woche stoßen wir in der relativen Gegenwart in eine Sphäre vor, in der sich Thriller-Elemente und Phantastik mischen. Ich war davon angenehm überrascht, hatte aber noch keine Ahnung, wohin sich das alles entwickeln sollte.
Nächste Woche werde ich konkreter.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.