Liebe Freunde des OSM,
wenn man als Historiker eine Rezension über ein Werk schreibt, das ganz wesentlich auf ein historisches Werk zurückgeht und dieses gewissermaßen zeitgenössisch-phantastisch neu strukturiert, choreografiert und interpretiert, dann wäre es vielleicht sinnvoll, sich zunächst das Original anzuschauen, um sich zu orientieren. In diesem Fall hieße das: Man lese die Geschichte des Trojanischen Krieges, wie ihn der greise Dichter Homer schätzungsweise im 8. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, also vor wenigstens 2700 realen Jahren in der „Ilias“ niederschrieb.
Habe ich das damals getan? Nein.
Hätte ich es tun können? Ja. Denn mir war zwei Jahre vor Abfassung der unten vorgestellten Rezension, d. h. im Jahre 2002, eine schöne alte gebundene Ausgabe von Homers Werken geschenkt worden (in winziger Frakturschrift und, der Widmung darin, die aus dem Jahre 1906 stammt, schon ziemlich sicher rund 100 Jahre alt).
Seit geraumer Zeit bin ich nun dabei, mich durch den Trojanischen Krieg Homers zu lesen, und ich bin auch schon im Fünfzehnten Gesang angekommen … aber das ist so harter Stoff, dass ich selten mehr als zwei bis drei Seiten in der Woche vorankomme.
Warum schicke ich diese Bemerkung voran? Nun, bei der Lektüre des Buches von Dan Simmons erwähne ich beiläufig die vielen schrecklich detaillierten Metzeleien auf dem Schlachtfeld vor Ilion … und es ist ein wenig beunruhigend für mich als Zeithistoriker, bei Homers Lektüre entdecken zu müssen, dass diese Details alle bei ihm schon vorkommen. Da werden Speere in Körper getrieben, Gedärme herausgerissen, Schädel zertrümmert und so weiter … das kann manche Horrorgeschichte in den Schatten stellen und ist bisweilen wirklich sehr schwer verdaulich. Was ich daran als Historiker bedenklich finde, ist dies: Die Homerischen Werke waren im 19. und frühen 20. Jahrhundert Gymnasial-Lesestoff. Die Schüler wuchsen also mit den grauenhaften Metzeleien und Schlachtfeldszenen auf und fanden sie offenkundig recht normal … wenn man dann überlegt, dass die Gymnasiasten jener Jahre sich jahrelang auf den Schlachtfeldern des Ersten wie Zweiten Weltkriegs auf sehr ähnliche (nur viel modernere und effektivere) Weise niedermetzelten, dann sollte uns das doch sehr zu denken geben.
Ich bin jedenfalls heilfroh, in der Schule mit Homers Werken nicht mehr zwangsweise beglückt worden zu sein. Wer kann sagen, was dann für eine Art von Mensch aus mir geworden wäre.
Und was nun Dan Simmons‘ Interpretation des Ganzen angeht … die nimmt in gewisser Weise aufgrund der schieren Bizarrie ihrer Darstellung den verbissenen, mörderischen Ernst aus der Story heraus. Was nicht bedeuten soll, dass sie übermäßig witzig oder weniger blutig oder grausam ist, das widerspräche zweifellos seinem Handlungskonzept. Aber die phantastischen Elemente verschieben den Realitätsfokus der Darstellung sehr ordentlich.
Gleichwohl ist ein Werk herausgekommen, das sich durchaus auch mit nur oberflächlicher Kenntnis der Homerischen Epen lesen und verstehen lässt. Freilich – wer die Ilias gelesen hat, hat hier einen klaren Wettbewerbsvorteil. Aber zugleich bedeutet das nicht, dass ihr wirklich auf das Abenteuer vorbereitet seid, was euch erwartet.
Neugierig geworden? Gut so. Dann schaut euch das mal im Detail an:
Ilium
(OT: Ilium)
von Dan Simmons
Heyne 8320, Juli 2004
832 Seiten, Paperback
Kosten: 15.00 Euro
Übersetzt von Peter Robert
ISBN 3-453-87898-1
Fürwahr, die Götter haben einen seltsamen Humor. Und dann nicht mal die eigenen!
Der einstige Professor Thomas Hockenberry, Homer-Experte und leider an Krebs verstorben, findet sich nach seinem Tod keineswegs im Jenseits wieder, sondern auf dem Götterberg Olymp, wo ihn Zeus, Athene, Aphrodite & Co. aus unerfindlichen Gründen auserwählt haben, als göttlicher Kriegsberichterstatter (KBE) von einem Schlachtfeld zu berichten. Er wird zusammen mit weiteren Wiederauferstandenen, aufgerüstet mit Hightech und der Fähigkeit der Quantenteleportation, hinabgeschickt zur Ebene von Ilium, um über den zehnjährigen Trojanischen Krieg zu berichten.
Im zehnten Jahr seiner Berichterstattung, als er der Dienstälteste der KBE ist, fallen ihm in Homers Bericht, den er – im Gegensatz zu den Göttern! Zeus vielleicht ausgenommen – gut im Kopf hat, Unregelmäßigkeiten auf. Anfangs nur Kleinigkeiten, aber das steigert sich bald und weckt sein Misstrauen: Befindet er sich tatsächlich im Jahre 1200 vor Christus in Kleinasien, oder berichtet er womöglich aus dem falschen Krieg? Hat Homer die Unwahrheit gesagt oder verhält es sich noch ganz anders?
Wüsste Hockenberry, dass der Trojanische Krieg andernorts neugierig von einer Schar gelangweilter Müßiggänger auf einer scheinbar paradiesischen Erde verfolgt wird – via sogenannter „Turin-Tücher“ – , würde sein Misstrauen bestärkt, doch davon weiß nur der Leser.
Diese zweite Handlungsebene mutet auf den ersten Blick idyllisch an: In dieser Welt leben Menschen, die nichts zu tun haben und sich ein Leben lang dem Müßiggang hingeben, bedient von Servitoren, kleinen Robotern, und bewacht von so genannten Voynixen, stummen Wesen, die zu Aberhunderten die Anwesen beaufsichtigen und wie kleine rostige Skulpturen wirken, die seltsam insektoid scheinen. Doch das Idyll hat verstörende Risse: Die Menschen können weder lesen noch schreiben, sie verfügen über keinerlei Kunst, keine Geschichte, leben einfach nur so in den Tag hinein, und alle zwanzig Jahre werden sie über die so genannten Faxportale (quasi Transmitter), die ihre Enklaven verbinden, die über die Erde verstreut liegen, zur „Klinik“ in einem der beiden Orbitalringe um den Planeten geschickt. Und nach dem fünften Zwanziger sind sie alle tot.
Merkwürdig? Das ist nur der Anfang.
In den Wäldern um die kleinen Anwesen leben so nette Kreaturen wie Allosaurier und Tyrannosaurier oder Terrorvögel. Da ist es doch nur gut zu wissen, dass man, solange man in der Nähe eines Faxknotens stirbt, von der Klinik neugeschaffen werden kann, nicht wahr? Als aber ein paar der degenerierten Menschen neugierig werden und sich auf die Suche nach Savi, der „Ewigen Jüdin“ machen, die angeblich beim „letzten Fax“ vor 1400 Jahren von den Nachmenschen – die in den Ringen leben sollen – vergessen worden ist, müssen sie entdecken, dass es noch ganz andere Dinge gibt als das Anwesen Ardis Hall und die Kraterstadt Paris am Schädelfluss. Harman und Daeman, zwei sehr gegensätzliche Abenteurer, müssen an Savis Seite in der Ruinenstadt Jerusalem entdecken, dass die Voynixe unerbittliche Feinde sind. Dass das Mittelmeerbecken trockengelegt wurde und sich darin das Königreich eines unheimlichen Wesens namens Prospero befindet, das ebenfalls noch über schreckliche Diener verfügt.
Und um den Leser vollends in die Verwirrung zu stürzen, existiert noch eine dritte Handlungsebene, die nun SF pur ist und auf dem Jupitermond Europa beginnt. Hier besteht auf verschiedenen Monden eine vielfältige Hightech-Kultur von selbstbewussten KI, die sich nach einem Kybernetiker des Untergegangenen Zeitalters Moravec nennen und das Wissen der alten Menschen hochhalten, mit denen sie bereits vor weit über 1000 Jahren den Kontakt verloren haben. Aus unklaren Gründen wurden die Moravec einstmals hier angesiedelt, und nun messen sie systembedrohende Quantenfluktuationen auf dem inzwischen terrageformten Mars an, die sie sich nicht erklären können.
Eine Expedition wird auf den Weg geschickt, bestehend aus vier völlig unterschiedlichen Personen, insbesondere aus dem europaschen U-Boot-Kommandanten Mahnmut und dem wie eine acht Meter große, gepanzerte Riesenkrabbe wirkenden Io-Moravec Orphu. Alleine die Szene, wie sie mit dem U-Boot (!) Dark Lady auf dem Mars notlanden müssen, ist den Kauf des Buches wert.
Der Mars, müssen die Expeditionsteilnehmer erkennen, zeigt eine Reihe seltsamer Eigenheiten. So werden auf Funkbildern etwa gewaltige Mengen von riesenhaften Steingesichtern erkennbar, die sich an den Wasserflächen des Mars entlangziehen. Offenbar ist die Marsbevölkerung dabei, Millionen von Osterinsel-Monumenten aufzustellen. Der Zweck ist unklar. Und als die Roboter schließlich mit fliegenden Streitwagen konfrontiert werden, auf denen griechische Götter stehen, ist das auch absolut zweitrangig. Bald wird auf allen drei Handlungsebenen erbittert ums Überleben gekämpft …
Mit dem Roman „Ilium“ legt Dan Simmons nach Jahren des Schweigens wieder einmal einen monumentalen Science Fiction-Roman vor, der von der Struktur an seine Vorgänger aus dem Hyperion-Endymion-Zyklus erinnert. Ein ganzes Knäuel von Rätseln kristallisiert sich nur ganz allmählich heraus und schafft eine immer stärkere Neugierde im Leser, der eindringlich wissen möchte, wie diese Puzzlestücke, die ihm offeriert werden, sich zu einem stimmigen Ganzen zusammenfügen. Bis Ende des Buches gelingt das noch nicht völlig, und das ist gut so!
Simmons hat sich gründlich in verschiedenste Ilias-Übersetzungen eingelesen und verkörpert den Ich-Erzähler Thomas Hockenberry auf brillante Weise. Infolgedessen wimmelt es natürlich von griechischen Namen, von griechischen Stadtstaaten, Herrschergeschlechtern und – das ist manchmal sehr deprimierend – von den Todesarten, die die einzelnen Krieger erleiden werden. So beobachtet Hockenberry etwa eine Schlachtaufstellung und sagt: Krieger XY steht da und dort, trägt das und jenes, und in zwei Tagen um die Mittagsstunde wird er nach Homer von dem und dem Krieger der Trojaner auf dem Rückzug niedergemetzelt werden. Und das erzählt er von fast allen Leuten, die eine Rolle spielen.
Damit lernt der interessierte Leser in diesem Buch unendlich viel mehr über Homers Ilias als beispielsweise in Wolfgang Petersens Haudrauf-Schmalspur-Epos „Troja“, in dem er das literarische Vorbild (wir reden hier NICHT von historischer Treue, denn die war ja schon bei Homer glattgebügelt) simplifiziert. Bei Petersen erfährt niemand, was die Invasoren mit dem niedlichen Säugling machen, der im Film auftaucht. Dort gelingt ja Andromache (Hektors Frau) und dem Kind die Flucht. In Wahrheit wird der Säugling von den Stadtmauern Trojas in die Tiefe geschleudert. Bei Simmons erfährt man auch, wer das macht, und Andromache wandert als Sklavin in die Fremde. Paris übrigens, der stirbt bei Homer wirklich, wie ich schon vermutet hatte – nein, in diesem Buch nicht, denn dort wird der Verlauf des Krieges drastisch verändert, aber Details verrate ich an dieser Stelle nicht. Das muss man lesen.
In „Ilium“ kann man ebenfalls nachlesen, welches Schicksal der achäische Feldherr Agamemnon erleidet, den Petersen ja im Film von Achilles meucheln lässt (er wird von seiner Frau Klytemnästra in Griechenland ermordet; unmittelbar darauf bringt sie auch die versklavte Trojanerin Kassandra und ihre beiden, dem Agamemnon zwangsweise geborenen Kinder ebenfalls um) oder ein bisschen was über den „strahlenden Helden“ Achilles (bei Petersen: Brad Pitt) nachlesen, was einem Leser den Magen umdreht. Vergesst die Vorstellung, Achilles sei „sehr, sehr sexy“, wie mir eine Brieffreundin ihren Eindruck schilderte. Das ist ein kaltblütiger, durchaus psychopathischer Killer mit Freude am Töten.
Von dem smarten Odysseus sage ich nur soviel, dass sein Image bei mir stark gelitten hat (im Film fand ich ihn sympathisch), seit ich bei Simmons las, dass er erst mit seinem Gefährten den trojanischen Späher Dolon gefangen nahm, wie eine Zitrone ausquetschte und ins achäische Lager in Gefangenschaft führte, um ihm dann hinterrücks den Kopf abzuschlagen. Einen Kopf, der noch schrie, während er auf dem Boden herumrollte (laut Homer). Ein freundlicher Zeitgenosse, der Odysseus, also wirklich. Nicht kompatibel mit der Genfer Konvention zur Behandlung von Kriegsgefangenen.
Allein die Ilium-Handlung und deren Detaildichte würde es rechtfertigen, das Buch zu loben. Die Detailtreue in Bezug auf Homer ist sagenhaft. Aber die Makrostruktur des Ganzen ist wichtiger. Und hier gilt es, Seitenpfade zu Marcel Prousts Meisterwerk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ und zu den Sonetten von William Shakespeare und zum Shakespeareschen Gesamtwerk insgesamt zu öffnen.
Es ist nicht zwingend nötig, sich hier auszukennen, aber wer sich auskennt, der wird vermutlich noch einige Anspielungen mehr verstehen, als ich sie verstand. Auch kann es nicht schaden, über Quantenphysik, Zeitreisen und Wurmlöcher ein bisschen Vorwissen zu besitzen. Erzeugt wohliges Gruseln.
Am Ende des Werkes stehen drei Welten vor einem gewaltigen Krieg, der den vor den Mauern Iliums/Trojas weit in den Schatten stellen wird. Aber vieles ist nach wie vor unklar. Wer beispielsweise steckt hinter den rätselhaften Voynixen? Wer herrscht im Jupitergürtel? Auf welcher Welt steht Troja eigentlich (denn auf der realen Erde kann es nicht sein, da dort das Mittelmeer trockengelegt ist; und offensichtlich ist es keine Zeitreise, die man durchführt. Vielleicht aber doch? We don’t know)? Was befindet sich hinter dem Tor des Hades auf dem Olymp? Was genau steckt für eine Kraft und Geschichte hinter den griechischen Göttern? Wird es den Menschen auf der, wie ich sie mal nennen möchte, Voynixe-Erde gelingen, den blauen „Scheinwerferstrahl“ in Jerusalem zu öffnen und die darin gefangenen Menschen zu befreien?
Es gibt so viele anregende Fragen. Selbst wenn sich letzten Endes im Folgeband „Olympos“ nicht herausstellen sollte, dass es einen chronologischen Zusammenhang mit dem Hyperion-Endymion-Kosmos gibt (wie ich Hunderte von Seiten felsenfest annahm!), selbst dann ist dies ein beeindruckendes, eigenständiges Werk sehr eigenwilligen Zuschnitts. Wer aufmerksam liest, wird auch ein eindringliches Plädoyer gegen den Verfall der Lesekultur insbesondere bei jüngeren Menschen herauslesen können, was ich sehr gut fand. Hier ist besonders auf die blasierte Figur des Daeman zu achten.
Allenfalls etwas schade fand ich – der obligatorische Wermutstropfen – , dass es in der zweiten Hälfte des Buches manchmal etwas sehr „zügig“ wird, was auf Kosten der detaillierten Beschreibung geht. Vielleicht liegt das aber auch an der Übersetzung und eventuellen Kürzungen. Ich habe es jedenfalls bedauert, dass das Werk nicht wie angekündigt 900 Seiten besaß. Die Seiten hätte ich noch genossen. Seufz.
Ansonsten, ihr Troja-Jünger und Dan-Simmons-Fans: kauft es euch. Es ist sein Geld wert!
© 2004/2022 by Uwe Lammers
Ihr merkt, die Handlung ist mächtig in Fahrt. Und weil das so ist und ich euch nicht ein paar Wochen lang auf die Folter spannen möchte, wird als Rezensions-Blog 407 in der kommenden Woche schon die Rezension des zweiten Teils von Dan Simmons‘ knallbuntem Abenteuer folgen.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.