Liebe Freunde des OSM,
in der vergangenen Woche unterhielten wir uns recht tiefschürfend über das Thema Tod und seine Variationen im Bereich der phantastischen Literatur. Und so, wie ich es schrieb, kommen natürlich auch ganz diesseitige Romane nicht ohne dieses universale Thema vor.
Was wäre ein Sherlock Holmes-Roman ohne Tote, nicht wahr? In der Regel Mordopfer. Alles beginnt zwar mit einer eher schlicht zu nennenden Diebstahlgeschichte, aber bekennende Holmsianer wissen natürlich, dass so etwas lediglich die Camouflage ist und im Hintergrund das Verhängnis größerer Gefahren lauert. So ist es auch hier.
Und noch ein Gast ist in diesem Roman daheim, auf den man gefasst sein sollte, umso mehr, als man ihn bei den gewöhnlichen Holmes-Geschichten eher nicht antrifft: Der Humor.
Wie jetzt, der Humor? Was soll das bedeuten?
Das bedeutet, dass ihr euch beim Folgenden ein wenig auf satirische Seitenhiebe und schrullige Darstellungen unserer Helden gefasst machen müsst. Jo Soares ist nun einmal Humorist, und so, wie wir das hierzulande von Comedians kennen, nehmen sie einfach ALLES aufs Korn. Hier haben wir also einen Humoristen, der sich des Themas Sherlock Holmes annimmt.
Erleidet er damit Schiffbruch? Das ist schwer zu sagen. Ich schlage vor, ihr schaut einfach mal weiter:
Sherlock Holmes in Rio
(OT: O Xangô de Baker Street)
von Jo Soares
Insel Verlag, 1997
324 Seiten, geb.
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Karin von Schweder-Schreiner
ISBN 3-458-16840-0
Man schreibt das Jahr 1886, Brasilien ist noch strahlendes Kaiserreich unter Dom Pedro II., und im Mai dieses Jahres ist die gefeierte, strahlende französische Schauspielerin Sarah Bernhardt nach Südamerika gekommen, um mit ihrem Ensemble die „Kameliendame“ zu geben, das Stück, das sie weltberühmt gemacht hat. Durch einen Zufall ergibt es sich, dass der Regent, ein großer Bewunderer ihrer Kunst, mit Bernhardt auf ein Thema zu sprechen kommt, das ihn umtreibt und verlegen macht: Kürzlich hat ein Unbekannter eine kostbare Stradivari, die er seiner einstmaligen Geliebten, der Baronin de Avaré geschenkt hat, entwendet. Er fürchtet nun, dies könne Stadtgespräch werden, was insbesondere die kaiserliche Gattin erzürnen würde.
Nun, Sarah Bernhardt weiß Rat. Sie meint, er könne doch einen ihrer guten Freunde zu Hilfe rufen, einen brillanten englischen Detektiv, Sherlock Holmes. Dieser Mann könne den Fall fraglos im Handumdrehen lösen. Sie hat keine Ahnung davon, dass genau das Gegenteil der Fall sein wird.
Während Sherlock Holmes und sein Kompagnon Dr. John Watson der Einladung des brasilianischen Kaisers Folge leisten, entpuppt sich der unbekannte Geigenräuber zudem auch noch als blutrünstiger Mörder, der die grässliche Angewohnheit hat, den Opfern – allesamt schöne, junge Frauen, aber unterschiedlichsten Lebenswandels, die keine Gemeinsamkeiten bis auf ihr Geschlecht besitzen – die Ohren abzuschneiden und sie in zunehmendem Maße zu verstümmeln. Außerdem hinterlässt er am Tatort immer eine Geigensaite.
Holmes beginnt, zusammen mit dem Kommissar Mello Pimento zu recherchieren, wer wohl der „serial killer“ (ein Begriff, der angeblich Holmes auch einfach so kommt …) ist, und er stößt hierbei schnell an die Grenzen seiner deduktiven Fähigkeiten. Wohl benebelt durch die Fremdartigkeit der südlichen Welthemisphäre und irritiert davon, dass seine Intuition ihn beharrlich in die Irre führt, verliert der Detektiv mehr und mehr die Contenance … und schließlich lernt er hier die bezaubernde, grünäugige Mulattin Anna Candelaria kennen, ganz zu schweigen vom Marihuana. Danach versinken die Ermittlungen völlig in Wirrnis. Aber das blutrünstige Phantom hat von seinen Plänen natürlich nicht abgelassen …
Der brasilianische Schriftsteller, Komödiant und Humorist Jo Soares, 1938 in Rio de Janeiro geboren, legt mit diesem „spritzigen Krimi“ eine etwas gewöhnungsbedürftige und bizarre Ergänzung zum Kanon der Sherlock-Holmes-Geschichten hinzu, die man an vielen Stellen wirklich nicht bierernst lesen darf.
Ob es darum geht, dass Holmes im Marihuana-Rausch abenteuerliche Farben in den Tapeten seines Hotelzimmers entdeckt, seiner angebeteten Anna die Architektur von Parkanlagen nebst historischer Herleitung als eine Form von Liebesgedicht verehrt bzw. John Watson als Erfinder des Caipirinha (wohlgemerkt: Aus rein medizinischen Gründen!) in die Geschichte eingeht, ob es um eine weibliche Mumie geht, in deren direkter Nähe alle Frauen vorzeitige Menstruationsblutungen erleiden …
Es gibt hier so manches, worüber man stolpert, und wäre ich des Französischen und Portugiesischen mehr mächtig oder verfügte ich über ähnlich fundierte Kenntnisse in Theater und hoher Literatur wie der Autor, so würden sicher noch mehr versteckte, freche Anspielungen und Abwandlungen erkennbar werden. Die Art und Weise, wie Soares seine dramatis personae einführt, deutet jedenfalls stark darauf hin, dass er sich mit Theaterstücken ausgezeichnet auskennt.
Das Erstlingswerk entpuppt sich also als eine Art Komödie mit blutrünstigen Zutaten, wenngleich die einzelnen Handlungen manchmal doch sehr gestellt und bisweilen gezwungen wirken. Besonders unangenehm fällt auf, wie ausgesprochen deppenhaft Dr. Watson dargestellt wird, eher als eine Art von Stan Laurel, was ihm überhaupt nicht gerecht wird, wenn man das Original kennt. Auch Holmes dient Jo Soares mehr als Vehikel für mitunter schrullige Scherze, und ganz der tapsige ausländische Tourist (der amüsanterweise für einen Portugiesen gehalten wird, fragt mich nicht nach dem Grund!), und das kann dem wahren Holmesianer doch das Magengrimmen bescheren.
Wer hingegen die Sache nicht gar so ernst nimmt und einiges über das kaiserzeitliche Brasilien und die Struktur der Hauptstadt lernen möchte, der ist hier am rechten Fleck. Amüsement und äußerst kurzweilige Unterhaltung ist in diesem Fall garantiert.
© 2006 by Uwe Lammers
So, genug gekichert oder euch empört (je nachdem, wie ernst ihr die Holmes-Geschichten eben nehmt). Die Vorstellung ist vorbei, der Vorhang ist gefallen, und ich entschwinde bis zur nächsten Woche, wo wir in die ruhigeren Gewässer erotischer Literatur zurückkehren.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.