Liebe Freunde des OSM,
wie in der letzten Woche versprochen, machen wir dieses Mal eine ordentlich weit zurück reichende Zeitreise. Wohin? Nach Ägypten, das Land am Nil. Es ist, leider, muss man konstatieren, ein sehr, SEHR kurzweiliges Vergnügen … aber wer sich auf die Details fokussiert, die hier prachtvoll in Szene gesetzt sind und mit Witz und Intelligenz dargestellt werden, der kommt fraglos voll auf seine Kosten.
Denn wie ich das anno 2020 tat, als ich dieses Buch im Handumdrehen verschlang – dafür eignet es sich wirklich bestens, und das ist durchaus altersunabhängig – , so verläuft man sich schnell in den unzähligen kleinen Einzelheiten. Man sollte zum einen natürlich auf den magischen Pelikan achten, der die Jahrtausende als Zeit-Scout durchfliegt und jede Menge Ärger verursacht.
Aber auf der anderen Seite sollte man sich auch fasziniert in das Alltagsleben auf diesen farbenprächtigen, großformatigen Seiten vertiefen und Sinn für die vielen kleinen Einzelheiten haben, die das Alltagsleben der damaligen Zeitepochen akribisch und bisweilen schon fast garstig indiskret in Szene setzen.
Werfen wir mal einen Blick hinein:
Leben am Nil
Die Geschichte des längsten Flusses der Welt
(OT: Story of the Nile)
von Anne Millard, illustriert von Steve Noon
Dorling-Kindersley, München 2003
36 Seiten, gebunden
Großformat, Querformat
Übersetzt von Cornelia Panzacchi
ISBN 3-8310-0509-5
Ohne Magie geht es nicht – und das ist denn auch der Grund, warum ich diese Rezension schreibe. Sie ist gewissermaßen unvermeidbar. Ich möchte euch eine faszinierende Zufallsentdeckung vorstellen, die mir gestern in die Hände fiel, als ich den 5. Braunschweiger Antiquariatsmarkt besuchte. Eine gute Freundin reichte mir dazu kürzlich eine Einladungskarte. Auf dem Event im Braunschweigischen Landesmuseum traf ich ein paar Antiquare, die ich seit Jahren kenne und plauderte angenehm, und dann fiel mein Blick auf dieses farbenprächtige, ungewöhnlich im Format daliegende Buch. Als Querformat, deutlich doppelt A4-groß (die genauen Maße sind 27 x 35 cm) entzückte es mich auf den ersten Blick, und ich wusste, ohne es aufschlagen zu müssen: Das ist meins, das nehme ich jetzt mit!
Warum dies? Nun, auf dem Cover sieht man eine feierliche Szene aus dem alten Ägypten abgebildet – eine Barke nähert sich dem Taltempel des Cheops, und als jahrzehntelanger Fan des alten Ägypten packte mich sofort das alte, niemals erlöschende Pharaonen-Fieber. Das ist ein bisschen wie mit dem Archiv-Virus. Hat man sich den einmal eingefangen, bleibt das eine lebenslange Leidenschaft.
Der Kauf war also unvermeidlich.
Das großformatige Album überbrückt in seinen 14 großformatigen, doppelseitigen Bildtafeln die atemberaubende Zeitspanne von nicht weniger als 4.470 Jahren Zivilisation am Nil, vom Jahre 2500 vor Christus bis zum Jahre 1970 nach Christus. Aber, und das macht den Charme und das Magische an der Geschichte aus, das ist nicht einfach nur so eine zusammenhanglose Aneinanderreihung von Bildern, sondern es gibt ein verbindendes Element, gewissermaßen einen Zeit-Scout, der uns durch die Jahrtausende begleitet. Es handelt sich um einen offenbar verzauberten Pelikan, der sich durch die Zeit bewegt und irgendwo auf jedem dieser neckischen, farbenprächtigen Bilder in Erscheinung tritt.
Wie auf klassischen Wimmelbildern verlockt die Fülle an Details, die zahllose Beschriftungen aufweisen, unweigerlich den Betrachter dazu, die kleinsten Einzelheiten ausfindig zu machen. Originell ist auch, dass der sonst frei gelassene Rand von umlaufenden Schriftzügen eingenommen wird, üblicherweise Erläuterungen zu Bildelementen, aber auch Fragen an das kindliche Publikum. So heißt es etwa zu dem Bild „Die Quellen des Nils“, das auf 1862 nach Christus datiert ist und den Nilforscher John Speke bei den Ripon-Fällen zeigt: „Einer der Fischer ist wütend auf den Pelikan. Weißt du, warum?“
Solche amüsanten kleinen Gimmicks finden sich auf jedem der farbenprächtigen, detailreichen Bilder. Ob da ein römischer Legionär hastig vor einem zuschnappenden Krokodil in sein Boot springt, ein Forschungsreisender in einen Dungfladen tritt, durchgehende Pferde fast einen Teppichhändler niederreiten, Touristen Hüte wegfliegen, Männer von Getreidebarken ins Wasser fallen oder betrunkene Männer an der Tempelwand in Theben beim Opet-Fest anno 1180 vor Christus von einer zornigen Frau ausgeschimpft werden …
Es gibt sagenhaft viel zu entdecken auf diesen phantasievoll entwickelten Darstellungen. Manche davon erinnern mit ihrem Massenaufmarsch von detailverliebt gezeichneten Komparsen an klassische Historienfilme aus Hollywood, und nicht wenige erzählen eigenständige kleine Geschichten in den Bildelementen. Es macht deshalb einfach Spaß, ausgiebig in den Bildern selbst nach kleinsten Einzelheiten zu forschen – stete Neugierde ist natürlich vorauszusetzen.
Zweifellos richtet sich das Buch mehrheitlich an kindliches Publikum, das gerade erst die Leidenschaft für die Historie entdecken soll. Aber ich bin selbst das beste Beispiel dafür, dass man sich dieses opulente grafische Werk auch als erwachsener Fan des alten Ägypten guten Gewissens ins Regal stellen kann.
Wer also meine Leidenschaft teilt oder sonst einfach neugierig auf das Buch geworden sein sollte, dem sei ans Herz gelegt, es zu suchen. Ich vermute freilich, dass es nur noch antiquarisch zu entdecken sein wird – und wahrscheinlich wird der Neugierige mehr als 8 Euro in die Hand nehmen müssen, die es mich gekostet hat.
Aber das ist es zweifellos wert.
© 2020 by Uwe Lammers
Da spricht der wahre Fan aus den Zeilen? Well, das kann und will ich gar nicht abstreiten. Es ist ein schönes Buch, das ich seither in Ehren halte wie so viele ähnliche dieser Art. Und es ist durchaus denkbar, dass es davon noch mehr zu entdecken gibt. Ich halte jedenfalls die Augen offen.
Soviel für heute. In der kommenden Woche reisen wir wieder mal in das Setting der erotischen Romane, diesmal aber nicht als Teil eines langen Zyklus. Versprochen.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.