Liebe Freunde des OSM,
das ist ein schwieriges Buch, das ich heute vorstellen möchte, soviel sei zur Warnung vorangestellt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Leser, die diesem Blog schon seit geraumer Zeit folgen, das von so einigen Werken denken, die ich rezensiert habe. Aber selbst unter diesen ist das aktuelle Buch doch ziemlich … speziell.
Ja, es entstammt mal wieder dem Segment der erotischen Literatur und hier dem Teilbereich der BDSM-Romane. Zugleich aber hat es einen außerordentlichen psychologischen Fokus, der deutlich macht, dass der BDSM-Zugang eigentlich nur eine Art … ja, sagen wir, von Ventil bildet. Wer also denkt, es erwartet ihn eine Geschichte a la „Fifty Shades of Grey“, der wird hier gründlich auf andere Gleise wechseln müssen, um der Geschichte zu folgen. Wie ich unten sage – es geht sehr viel mehr um Psychologie und ziemlich neurotisch-abgefahrene Familiengeschichte als um irgendetwas anderes.
Natürlich gibt es erotische Szene, sogar nicht wenige, und meist arg heftige. Aber das ist, was jetzt vielleicht verwirrend klingt, nur eine Art von „Kurieren an Symptomen“, ohne dem Kern des Problems wirklich nahe zu kommen.
Kryptisch, aber interessant formuliert? Okay, Freunde, dann fasst euch ein Herz und lest weiter:
Zähme mich!
(OT: What happens after dark)
Von Jasmine Haynes (alias Jennifer Skullestadt)
Weltbild Editionen
416 Seiten, TB (2013)
Aus dem Englischen von Anna Wichmann
Keine ISBN!
Als Luke Raven die bildhübsche Bree Mason kennen lernt, geschieht das unter seltsamen Umständen – er besucht einen SM-Club in San Francisco, wo sie von ihrem aktuellen Dominus Derek wie der letzte Dreck behandelt wird. Obwohl der selbst eine Firma leitende Luke so etwas sonst überhaupt nicht tut, nimmt er Derek seine „Sklavin“ kurzerhand weg und erklärt sich selbst zu ihrem „Meister“ … etwas, was für Bree vollkommen in Ordnung scheint.
Dass die Dinge grässlich anders liegen, als er glaubt, bekommt er erst sehr viel später mit. Der Roman steigt ein, als die beiden bereits seit einem halben Jahr in einer solchen Wochenend-BDSM-Beziehung stehen. Sie ist von Anfang höchst eigenartig. Bree besteht darauf, dass sie ihn kontaktiert, und er weiß auch nach sechs Monaten immer noch nicht, wie sie mit Nachnamen heißt oder wo sie lebt.
Dass Brianna Mason, die sich traditionell gern Bree nennen lässt, im bürgerlichen Leben eine höchst schüchterne Büroangestellte beim Industrieunternehmen DeKnight Gauges (DKG) ist und hier tadellose Arbeit versieht, könnte er sich nicht vorstellen. Und erst recht ist ihm nicht klar, weil Bree nie über Persönliches redet, sondern sich mit ihm NUR und ausschließlich zum Sex trifft, dass sie in massiven Schwierigkeiten familiärer Natur steckt.
Wie sollte er auch?
Bree ist eine großartige Schauspielerin. Sie schauspielert schon ihr gesamtes Leben, vor jedem Mann, vor ihren Vorgesetzten in der Firma, überall. Alles ist immer wunderbar, absolut in Ordnung, es gibt überhaupt keine Schwierigkeiten … und doch ist ihr Leben voll davon. So voll, dass sie schreien könnte – aber das würde bedeuten, sie würde Schwäche zeigen, und das ist schlecht. Das hat ihr nicht zuletzt ihr herrischer Vater eingeredet, jahrzehntelang.
Ihr Vater, der nun im letzten Stadium einer Krebserkrankung ist und im Sterben liegt.
Und ihre Mutter fleht Bree an, nach Saratoga zurückzukommen, weil sie mit der Pflege des schwerkranken Vaters überfordert ist. Bree, die eine eigene Wohnung hat, gerät darüber fast in Panik, aber natürlich, das kann man nicht zeigen, das wäre ja Schwäche, und Schwäche ist schlecht … also tut sie, worum ihre Mutter sie bittet.
Luke stellt derweil bei ihren Zusammenkünften äußerst frustriert fest, dass Bree alle Orgasmen des letzten halben Jahres nur geschauspielert hat … und es beunruhigt ihn immer mehr, auf welche sehr eigenartige Weise er sie schließlich dazu bringen kann, doch welche zu empfinden – indem er sie unflätig beschimpft, erniedrigt und bestraft. Wie Bree es wünscht. Denn so läuft das ab: Sie ruft ihn an, provoziert ihn oder behauptet, sie habe sich schlecht verhalten und verdiene Bestrafung … und auf diese beunruhigende Weise intensivieren sich die Dinge, je näher Luke nun an die wahre Bree heranzukommen versucht und sie gleichzeitig panisch darum bemüht ist, nach außen ihre Fassung zu wahren und – wie ihre Mutter – Normalität vorzuspiegeln, die in keiner Weise mehr existiert, ja, eigentlich nie existiert hat.
Aber dann stirbt Brees Vater.
Und ihre Mutter verhält sich plötzlich so … so … verrückt!
Alles gerät außer Kontrolle. Und Bree sucht mehr denn je Flucht und Erlösung in gnadenloser Bestrafung durch Luke – zu dumm nur, dass er inzwischen gewisse Schlüsse zu ziehen begonnen hat, und das „Spiel“, das sie spielen, auf schreckliche Weise brüchig wird …
Ein Wort der Warnung vorweg: Das ist ein Buch, bei dem ich, während ich es las, immer wieder geschwankt habe, ob ich es rezensieren soll oder nicht. Es geht echt an die Substanz, aus verschiedenen Gründen. Zum einen ist die Beziehung oder besser … die Verbindung zwischen Luke und Bree auf eine Weise pervers, wie ich das bislang noch nicht erlebt habe. Es ist, wenigstens für mich, vollständig abtörnend, wenn die Liebespartnerin ständig beschimpft, gequält oder gedemütigt werden muss, um tatsächlich sexuelle Lust zu empfinden. Wer daraufhin also denkt, dass mit der Frau etwas nicht stimmt, hat leider vollkommen Recht. Geflucht und beschimpft, und zwar auf reichlich unflätige Weise und stets auf die weibliche Hauptperson bezogen, das wird darum in diesem Roman sehr viel. Das ist eigentlich ein klares No-Go für eine Rezension …
Dann ist da Brees seltsame Mutter … um es vorsichtig auszudrücken … und je mehr man sie kennen lernt, desto mehr muss man auch an ihrem klaren Menschenverstand zweifeln. So, wie sie sich verhält, sollte man wirklich nicht drauf sein. Ich deute nur mal die Sache mit der Dumbo-Keksdose an … widerwärtig bis ungeheuerlich, und das ist nicht die einzige Unfasslichkeit, die sie sich leistet. Die ganze Zeit lauert man als Leser mit gesträubten Nackenhaaren darauf, dass da die kathartische Explosion stattfindet und das gesamte Setting in einen Alptraum entgleist. Man fühlt sich wie auf einer scharfen Bombe sitzend oder auf einem gleich eruptierenden Vulkan, ehrlich!
Auf der anderen Seite findet man als Leser in diesem Roman Dinge, die man wirklich so überhaupt nicht in einem erotischen Roman erwarten würde. Schilderungen, die speziell mir fast den Boden unter den Füßen wegzogen. Man sollte dafür freilich Folgendes wissen: Mein Vater starb vor rund viereinhalb Jahren. Das, was Bree und ihre Mutter also mit seinen Sachen tun, war mir auf so alptraumhafte Weise bis in Details hinein vertraut, dass es mir kalt den Rücken herunterlief … auch wenn ich zugebe, dass wir unseren Vater wirklich geliebt haben und das, was die beiden Frauen tun, die absolut traumatische, antagonistische Gegenposition darstellt.
Aber dann schwankte ich auch wieder in die Gegenrichtung und sagte mir: Die beiden Frauen sind auf so spezielle und unterschiedliche Weise neurotisch, dass es einfach glaubwürdig, wenn auch grässlich alptraumhaft dargestellt ist. Und das gehört unbedingt anerkannt. Die Autorin hat ein sehr solides Stück Familiengeschichte niedergeschrieben und zweifelsohne an vielen Stellen aus vertrauten Quellen geschöpft. Man könnte sich beispielsweise gut vorstellen, dass sie beruflich etwas Ähnliches macht wie Bree Mason und ebenfalls einschlägige Hospiz-Erfahrungen hat. Da ist sie auf geradezu bestürzende Weise glaubwürdig und beweist genau in den Bereichen Kompetenz, die in vielen erotischen Romanen einfach nur Staffage und Tünche darstellen. Kann man hier nicht sagen.
Ach ja … und vergesst bitte den abwegig-reißerischen deutschen Titel. Er führt definitiv völlig auf Abwege. Es geht hier primär um Psychologie. Und um schmutzigen Sex und Seelenqualen, ganz genau.
Ob die Beziehung zwischen Bree und Luke im Störfeuer der psychischen Defekte dann wirklich gegen die Wand gefahren wird oder ob es noch so etwas wie eine Notbremse gibt, sei hier nicht verraten. In jedem Fall ist ein sehr lesenswerter Roman entstanden, der einiges an Nervenkraft abverlangt. Er ist eine Zumutung, ja, aber auch eine Herausforderung. Wer mutig genug ist, der nehme sie an. Ich denke, er wird bereichert daraus hervorgehen.
© 2018 by Uwe Lammers
Okay, das war jetzt harter Tobak, das gebe ich zu. Das habt ihr vermutlich nicht kommen sehen (nun, ich beim Leseeinstieg auch nicht, da sind wir schon mal auf demselben Level). In der kommenden Woche stelle ich eure Nerven auf eine ganz andere Probe, aber diesmal buchstäblich „in the real world“.
Was das heißt? Nun, lasst euch mal überraschen.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.