Liebe Freunde des OSM,
vermutlich stehe ich nicht allein mit meiner Aussage, dass ich Stephen Hawkings Gedanken zur Kosmologie nie recht zu folgen verstand. Seine „kurze Geschichte der Zeit“ steht immer noch ungelesen im Regal, aber den Plan, das Buch zu lesen, verfolge ich seit Jahrzehnten immer wieder sporadisch … und werde von leichterer Lektüre abgelenkt.
Nun, vielleicht werde ich in Bälde einen neuen Anlauf dazu unternehmen. Anlass dazu ist das vorliegende Buch, das mir kürzlich in die Hände fiel und das ich umgehend verschlang … nicht allein, weil der Titel und der schiere Umfang des Buches nahe legten, dass es tatsächlich viel leichter und schneller zu lesen sein würde (was stimmte). Ein Grund war tatsächlich darin zu finden, dass dieses Werk meine wissenschaftliche Neugierde als Biografiehistoriker anfachte.
Warum kommen Menschen auf bestimmte Ideen? Wie werden sie zu dem, was sie sind? Was für Hindernisse legen sich ihnen im Laufe ihres Lebens in den Weg, wie überstehen sie krisenhafte Situationen, was für Lehren ziehen sie daraus?
Solche biografiegeschichtliche Fragestellungen werden zu einem guten Teil von autobiografischen Texten aufgegriffen … selbst wenn man als Historiker dann stets etwas skeptisch gegenüber gewissen verbreiteten weichzeichnenden Erzähleffekten und nivellierenden Vereinfachungen sein muss, enthalten doch solche Werke in der Regel genügend Substanz, um weitere faktenbasierte Nachprüfung zu ermöglichen. Und auf diese Weise kann man dann – bei Bedarf, es ist kein Muss – auch durch alternative Quellen einiges über das Selbstverständnis des Referierenden lernen. Ob beispielsweise seine Einschätzungen von erwähnten Personen, Kollegen, Politikern usw. der Realität nahe kommen oder sich eher zu abseitigen Vermutungen versteigen, die in der Autobiografie als Fakten referiert werden.
Das sind so ein paar kritische Vorabgedanken, die man vielleicht im Hinterkopf behalten sollte, ehe man eine Autobiografie, und um so etwas handelt es sich hier heute, 1:1 für bare Münze nimmt.
Doch wie immer es auch um die kritische Lesehaltung bestellt sein mag … ich fand, dass Hawkings biografische Erinnerungen eine Menge an sehr lesenswerten und bislang unbekannten Details enthielten, die mein Bild von diesem genialen Physiker signifikant bereicherten. Wer immer sich für ihn interessiert, wird meiner Ansicht nach an diesem Büchlein wohl nicht vorbeikommen:
Meine kurze Geschichte
(OT: My Brief History)
Von Stephen Hawking
rowohlt (2013)
164 Seiten, geb.
Aus dem Englischen von Hainer Kober
ISBN 978-3-498-03025-4
In der Wissenschaft gibt es eine weit verbreitete Ansicht: Was in der Karriere zählt, sind die Fakten, insbesondere die eigenen Leistungen intellektueller Natur, die Erfolge, die Publikationen, die Vorträge und die Stationen der akademischen Laufbahn. Gering geschätzt wird üblicherweise dabei ein zentraler Aspekt, ohne den das Obige überhaupt nicht möglich wäre: die eigene Biografie. Dieser blinde Fleck in der Selbstwahrnehmung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hat mich immer wieder verblüfft. Es scheint so, als rühre man hier an eine seltsame Form von Tabu – ganz so, wie wenn das Aufrollen einer meist recht unspektakulären Biografie die nachmalige wissenschaftliche Leistung in irgendeiner Weise schmälern würde.
Als ich Geschichte studierte und dort stark von den Lebensläufen der Protagonisten angezogen wurde, was sich in zahlreichen kürzeren Veröffentlichungen zur Biografiegeschichte niederschlug, stellte ich fest, dass – falls das oben angedeutete Tabu wirklich existiert – das Kennen einer Wissenschaftlerbiografie oftmals dazu beiträgt, auch deren akademische Leistung bzw. vielleicht auch Fehlleistung besser zu verstehen, als wenn man sie betrachtet, als spielte sich deren akademische Laufbahn im luftleeren Raum ab.
Im Fall der vorliegenden kurzen Autobiografie des Astrophysikers Stephen Hawking, der am 14. März 2018 im Alter von 76 Jahren erstaunlich hoch betagt verstarb, ist die Kenntnis seiner Familiengeschichte und der Wegmarken, an denen er die Entscheidungen traf, die ihn zu dem machten, was er war, inklusive seiner Krankheit, besonders erhellend.
Er rollt hier in trockener, bisweilen wirklich vergnüglich zu lesender und nicht selten amüsanter Kürze in 13 Kapiteln die Geschichte seines Lebens bis zum Jahre 2013 auf. Dabei kommt – was ich besonders schön fand – auch die familiäre Verkettung väterlicher- wie mütterlicherseits nicht zu kurz, was sein Leben in einem größeren biografischen Kontext verankert, der bis ins späte 19. Jahrhundert zurückreicht (genau genommen geht er bis zu seinem Urgroßvater John Hawking, einem wohlhabenden Landwirt aus Yorkshire, zurück).
Besonders interessant fand ich die Passagen, wo er sich 1962 in Cambridge dagegen entscheidet, bei dem prominenten Astronomen Fred Hoyle Doktorand zu werden (nun gut, geben wir der Wahrheit die Ehre: er war enttäuscht, als er abgelehnt wurde, weil Hoyle schon genug Doktoranden hatte). Im Nachhinein interpretiert Hawking das als Vorteil, weil er sonst Hoyles „Steady State“-Theorie des Universums hätte verteidigen müssen, an die er selbst immer weniger glaubte (heute ist die Theorie nach meiner Kenntnis quasi tot). Stattdessen wendet er sich von der Astronomie ab und der Kosmologie zu, auch wenn das damals ein wenig beachteter Zweig der Wissenschaften war. Und hier spezialisiert sich Hawking, obwohl er zugibt, in Mathematik nicht sonderlich firm zu sein und auch bei der Quantenphysik so seine Probleme zu haben, auf das Thema der Schwarzen Löcher. Dies tut er nach anfänglichem Interesse an Gravitationswellen (die erst Jahrzehnte später nachgewiesen werden konnten – auch hier wich er also einem eher fruchtlosen Themenbereich intuitiv aus).
Heutzutage ist die von Schwarzen Löchern emittierte „Hawking-Strahlung“, die er wesentlich entdeckt hat und die nach ihm benannt wurde, in der Physik allgemein bekannt, aber in den frühen 60er Jahren glaubte man kaum an die Existenz dieser Sternenmonster, und beobachtet hatte sowieso niemand eines. Selbst indirekte Nachweise durch Schwerkraftwellen waren mangels passender Instrumente noch rein hypothetisch.
Und dann lässt ihn die Gesundheit im Stich, nachhaltig: motorische Störungen machen Hawking zunehmend das Leben schwer, und die Ärzte konstatieren ALS, eine degenerative Verfallskrankheit, die in der Regel binnen weniger Jahre zum Tode führt. Damit im Alter von 21 Jahren konfrontiert zu werden, ist für Hawking ein enormer Schock … interessanterweise führt er dazu, dass er auf einmal Vergnügen am Lernen findet und durch die zunehmende Behinderung keine Lehre und keine Studentenbetreuung auszuführen hat.
Er empfindet diese Behinderung also zwar als drastische Einschränkung seines Lebens, aber zugleich auch, positiv gewendet, als Möglichkeit und Chance, sich vollständig auf die theoretische Physik zu konzentrieren. Im weiteren Verlauf des Buches erfahren wir eine Menge über die Hintergründe, unter denen Hawkings berühmtestes Buch „Eine kurze Geschichte der Zeit“ entstanden ist … von zahlreichen weiteren Werken ganz zu schweigen, während seine Fähigkeiten, sich mitzuteilen, immer dürftiger wurden. Schließlich verlor Hawking die Sprache vollständig und war zunehmend auf einen Rollstuhl mit einem Sprachvokoder angewiesen, um überhaupt noch kommunizieren zu können.
Wenn man sich ansieht, wie dieser Mann voller warmherzigem Humor und Seelenruhe über sein Dasein und seine Biografie und Karriere reflektiert, wobei er Wort für Wort mühsam Buchstabe für Buchstabe konzentriert formuliert haben muss … das ist ungeachtet der Kürze eine unglaubliche Leistung. Herausgekommen ist ein äußerst lesenswertes Werk, das ich jedem ans Herz lege, der mehr über diesen Ausnahmewissenschaftler erfahren möchte. Und danach, so könnte ich mir denken, ist der eine oder andere sicherlich auch neugierig auf „Eine kurze Geschichte der Zeit“ geworden und darauf, ob er/sie vielleicht dann doch dank Hawkings Erläuterungen im vorliegenden Buch das Konzept der „imaginären Zeit“ verstehen wird.
Das Abenteuer könnte sich lohnen – es klingt nach Science Fiction pur!
© 2021 by Uwe Lammers
Tja, ich lasse mal dahingestellt sein, wann ich Hawkings zuletzt genanntes Buch dann wirklich in Angriff nehmen werde. Obiges ist unbedingt empfehlenswert.
In der nächsten Woche wenden wir uns dann einmal mehr der facettenreichen erotischen Literatur zu …
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.