Blogartikel 498: Marionetten des Schicksals?

Posted Februar 18th, 2023 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

ich muss gestehen, als ich heute – wir schreiben aktuell den 29. November 2022 – ein wirklich schon recht altes Buch initiativ aus meinem Bücherschrank zog und mir dachte: Lies es doch endlich mal, es wartet schon seit dem 19. August 2004 darauf (übrigens keine Seltenheit in meinen Regalmetern, da warten noch ganz andere Werke viel länger) … nun, da dachte ich nicht im Traum daran, hier den Inspirationskeim für einen Blogartikel zu finden. Aber genauso war es.

Das Buch, das zwölf Geschichten des SF-Autors Robert Sheckley enthält, verfügt nämlich auch über ein Interview, das Charles Platt im März 1980 in New York mit dem Verfasser führte. Und darin taucht eine Passage auf, die mich sogleich elektrisierte. Sie sei hier mal zitiert: „Viele gute Künstler behaupten beispiels­weise, für ihr Werk gar nicht verantwortlich zu sein. Sie halten sich einfach nur für Leute, die aufstehen und malen – oder sin­gen – , während ein anderer ihre Handlungen dirigiert.“1

Sheckley kann sich selbst davon nicht völlig frei machen, denn etwas später ergänzt er: „Für meine Begriffe ist mir einfach et­was zugeflogen. Ich bin der Rezipient einer Erzählung, die ich schreiben kann, ohne sie geplant zu haben.“2

Um zu verstehen, warum ich diese Sätze so elektrisierend fand, müssen wir ein paar Jahrzehnte in meinem Leben zurückgehen. Denn ohne Witz: Ich habe schon mal sehr ähnlich empfunden. Dabei gibt es zwei Phasen, eine, die ich eine anfänglich-naive und eine, die ich eher eine pathologische nennen möchte. Und ja, darüber rede ich eigentlich selten, aber hier scheint es ein­fach Sinn zu ergeben. Fangen wir mit der ersten Phase an.

Langjährige Leser meines Blogs wissen, dass ich in der Frühzeit meiner kreativen Entwicklung mit meinem Bruder „Gedanken­spiele“ spielte, das war noch in den 70er Jahren des 20. Jahr­hunderts, und das war letztlich die Keimzelle dessen, was ich heute Oki Stanwer Mythos (OSM) nenne. Natürlich war das eher kindlich-naiv und voll von gedankenlosen Übernahmen aus Ge­schichten, die mir in Film, Fernsehen, Comics usw. begegneten. Darüber brauchen wir nicht zu diskutieren.

Als mein Bruder etwa um das Jahr 1977 mit den „Gedankenspie­len“ aufhörte, wollte ich unbedingt weitermachen, platt gesagt: Oki Stanwer und seine Gefährten nicht sterben lassen. So ent­stand unter weiterhin starker Einbeziehung literarischer Bezüge die Grundstruktur des OSM. Aber erst 1985 wurde mir klar, dass ich hier etwas angefangen hatte, das deutlich größer, sehr viel größer dimensioniert war, als ich mir das anfangs gedacht hat­te.

Sehr schnell entfernte sich der OSM von den literarischen Vorla­gen. Vieles ergab sich offensichtlich organisch aus einer gewis­sen inneren Logik. Zugleich spürte ich an vielen Stellen – das habe ich schon verschiedentlich thematisiert – , dass ich zwar nicht recht verstand, warum ich Sachverhalte so und nicht an­ders darstellen musste, aber das zwingende Gefühl hatte, es nicht anders schreiben zu können. Ich empfand es als notwen­dig, logisch begründen konnte ich das alles bisweilen erst Jahre später.

Das hatte auch für manche Brieffreunde, denen ich damals davon erzählte, etwas Unheimliches an sich. In dieser Phase vertrat ich zeitweise tatsächlich die Vorstellung, die Gesamtkon­zeption des OSM, die so sehr von allem abwich, was ich las und sonst kannte, beruhe auf irgendwelchen transzendentalen Ein­gebungen. Quasi eine Art inspiratorischer Fernsteuerung, als sei ich mehrheitlich eine Form von biologischem Schreibapparat, eine Marionette von höheren Mächten.

Dergleichen kennt man normalerweise eher aus religiösen Kon­texten, wie ich heute weiß. Damals war mir dieser Gedanke völ­lig unbekannt und konnte darum notwendig auch nicht von dort herrühren.

Im Laufe der 80er Jahre verflüchtigte sich dieser Gedanke zu­nehmend. Ohne dass ich jetzt angenommen hätte, ich sei statt­dessen irgendwie genial veranlagt, nahm ich durchaus hin, dass diese Gedanken schon meine ureigenste Schöpfung waren und ich einfach nur ziemlich „strange“ dachte und schrieb.

Ich meine, wer heutzutage den OSM liest, diese durchaus wilde Mischung zwischen Space Opera und Horrorgenre, die zugleich den Versuch unternimmt, Leben, Wiedergeburt, Reinkarnation und ähnliche Phänomene unter einem argumentativen Dach zu einer schlüssigen Theorie zu vereinen UND dabei noch lesbare Geschichten zu beinhalten, der kann vermutlich zustimmen, dass meine Ideen bisweilen recht seltsam und unkonventionell sind.

Belassen wir es dabei.

Die zweite Phase war sehr viel kürzer und drastischer, sie hatte auch mit dem OSM im Grunde nichts zu tun. Auch sie wurzelte in meiner Biografie, wie nicht anders zu erwarten.

Gegen Ende der 80er Jahre hatte ich meine Bürokaufmannsaus­bildung gemacht, erfolgreich den Wehrdienst verweigert und war in der Jugendherberge Hameln im Zivildienst. Ich spekulier­te zu der Zeit, weil ich in den dortigen regionalen Raum vielfälti­ge Verbindungen geknüpft hatte, dass ich vermutlich nach dem Zivildienst in den Kölner Ballungsraum umziehen und dort zu ar­beiten beginnen würde.

Dummerweise erhielt ich nur Absagen … und dann, in einer weltpolitisch sehr interessanten Zeit (1989/90), endete mein Zi­vildienst, die DDR ging unter, die Mauer fiel, der Kalte Krieg hör­te bald darauf auf zu existieren, und einfach alles war im sensa­tionellen Wandel.

Nur ich war irgendwie desorientiert und stand total neben mir. Ich hatte keinen rechten Plan von der Zukunft und begann, eher aus Verlegenheit, denn völlig motiviert, mit der Fachoberschule Wirtschaft in Gifhorn. Und während das geschah, passierte … ja, es lässt sich schwer sagen, was das war … so etwas wie eine mentale Dissonanz. Ich hatte tatsächlich über Wochen das Ge­fühl, irgendwie marionettenhaft ferngesteuert zu werden. So, als löse sich die Welt um mich herum auf und sei nicht mehr ganz so wirklich wie sonst.

Ein unheimliches Gefühl, kann ich euch versichern. Das währte nicht sehr lange, hatte aber nachhaltigen Einfluss auf meine während des Zivildienstes eher gedrosselte kreative Produktion. Ab September 1990 explodierte jedenfalls meine Kreativität und schuf eine ganze Reihe seltsamer bis bizarrer Werke, von denen zahlreiche heute noch nicht veröffentlicht sind. Schauen wir uns einfach mal meine entsprechenden Einträge an, die ich damals brav datierte:

4. September: Wie eine Nippon-Seidenschlange …3

4. September: Strukturen4

9. September: V5

9. September: Die Sense der Zeit6

17. September: Das Minos-Spiel7

7. Oktober: Gesichterfluch8

24. Oktober: Grünauge9

Am 21. Dezember kam als Nachzügler noch die Story „Irr­fahrt“ dazu.10 Dann kühlte sich alles etwas ab. Aber im Januar 1991 ging es munter weiter:

8. Januar: Traumfahrt11

31. Januar: Sieben12

Auch im Februar waren noch Erschütterungswellen dieser Disso­nanz zu spüren:

15. Februar: Die pseudotemporale Zeitung13

Der letzte Ausläufer – aber da konnte ich längst viele kreative Impulse in den KONFLIKT 19 des OSM, die Serie „Oki Stanwer – Der Missionar“ (begonnen am 1. Januar 1991) und die Barry Carson-Romanserie (begonnen am 1. April 1991) umlenken – stellte dann am 30. April die Geschichte „Wenn das der Tod ist …“ dar.14

Zwischendrin entstanden natürlich noch Aberdutzende anderer Werke, wobei besonders aufregende Handlungsstrukturen in den KONFLIKTEN 12 „Oki Stanwer – Bezwinger des Chaos“ und 23 „Oki Stanwer – Der Dämonenjäger“ fundiert werden konnten. Aber die obige Phase der Verwirrung, so schöpferisch sie auch war, blieb mir bis heute ein wenig unheimlich.

Und dann lese ich, wie einleitend gesagt, heute diese Zeilen, die Robert Sheckley 1980 zu Protokoll gab. Mein erster Gedanke, als ich auf sie stieß, war etwa dieser: Jawoll! Also bin ich nicht der einzige, der so empfindet!

Damit ging einige Erleichterung einher.

Ich meine, wenn man das alles mal aus gehöriger Distanz be­trachtet, ist wohl zu konstatieren, dass meine generelle Ein­schätzung durchaus Hand und Fuß hat: Ich pflege zu sagen, dass diese kreative Betätigung ein psychologisches Druckventil ist, das der Stabilität meiner Psyche dient, wenn ich gestresst oder verstört bin. Und es ist essentiell, wenn ich in zeitlich sehr beanspruchenden Arbeitsverhältnissen wirke, dass ich einen entsprechenden kreativen Ausgleich habe. Sonst leiden beide Seiten meiner Seele darunter, die wissenschaftliche, die für die Arbeitswelt erforderlich ist, ebenso aber auch die kreative Seite. Ich habe solche Dysbalancen in den letzten Jahren mehrfach er­lebt und kann sagen: Das brauche ich wirklich nicht noch ein­mal.

Aber um auf den Ausgangspunkt noch einmal zurückzukom­men: War ich in diesen entsprechenden beiden Phasen meines Lebens irgendwie kreativ „ferngesteuert“, eine „Marionette“? Heutzutage neige ich dazu, dies vorsichtig zu verneinen.

Vorsichtig deswegen, weil es über diese Lage keine endgültige Klärung gibt und vielleicht auch nicht geben kann. Falls das uni­versale Konzept der Fadenmatrix, das ich als Basisstruktur des OSM entwickelt habe, einige Plausibilität für sich beanspruchen kann, wäre es durchaus möglich, dass es „jenseitige Beeinflus­sungen“ gibt. Aber das finde ich wohl erst nach meinem Able­ben heraus.

Bis dahin denke ich, dass diese Vorstellungen der externen Mo­tivation für das Schreiben bestimmter Geschichten und Ge­schichtenkomplexe nur ein weiterer Fall von Phänomenen ist, für die Menschen keine Erklärung haben und für die sie sich dann gewisse Deutungen als plausibel imaginieren.

Denken wir beispielsweise an die so genannten „Blutwunder“, die im Grunde auf schlichte physikalische Prozesse zurückzufüh­ren sind, die den Menschen damals nur einfach nicht bekannt waren. Denken wir an die vermeintlich unheimlichen Fähigkei­ten von Tieren, Erdbeben und andere Phänomene traumwandle­risch vorherzusehen und entsprechend vorzeitig zu flüchten … heute wissen wir mehr über chemische Prozesse oder die Wahr­nehmungsapparate von Tieren und können uns dies relativ leicht erklären.

Vor ein paar hundert Jahren, als die Wissenschaft noch nicht so weit entwickelt war und der Primat der Religion vorherrschte, blieb oft nur die Zuflucht zum Übernatürlichen … und so ähnlich verhielt es sich ja auch bei meinen beiden seltsamen Lebens­phasen, in denen ich Werke entwickelte, die scheinbar so groß waren, dass sie gar nicht „meine“ sein konnten.

Alles in allem freut es mich jedoch, das sich darüber heute mal sprechen konnte. Und wer weiß, vielleicht erkennt ihr euch ja in dem einen oder anderen Sachverhalt selbst wieder.

In der kommenden Woche berichte ich darüber, was im Juni 2022 alles so in meiner Kreativwerkstatt entstanden ist.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Vgl. Robert Sheckley: Endstation Zukunft, Bastei Special 24020, Bergisch-Gladbach 1981, S. 234.

2 Ebd.

3 Diese Geschichte wurde zwei Male veröffentlicht: Im Februar 1992 im Fanzine „Cthul­hu & Co. 6“, das es schon lange nicht mehr gibt, im Januar 2019 aber auch in meiner E-Book-Storysammlung „Die Kristalltränen und andere phantastische Geschichten“. Hierin findet man auch die in diese Phase zu rechnende Story „Sieben“.

4 Bis heute unpubliziert.

5 Bis heute unpubliziert.

6 Diese Geschichte erschien nur im März 1996 im Fanzine „Legendensänger SH 18: Schattenleben“.

7 Diese Story wurde dreimal publiziert, zu Beginn im „IG Kurzprosa-Reader 6“ im No­vember 1992, im Fanzine „Sternenstaub“ im November 1994 und zuletzt im österrei­chischen Fanzine „New Worlds 25“ im August 1995.

8 Diese Story kam nur einmal im Fanzine „Storytip 4“ im März 1994 unter die Leute.

9 Die Geschichte erschien lediglich im Fanzine „Legendensänger 39: Liebeszauber“ im Mai 1995.

10 Auch sie wurde nur ein einziges Mal veröffentlicht, nämlich in „The Miscatonic Mirror 20“ im Oktober 1992.

11 Bis heute unpubliziert.

12 Dies ist die mit weitem Abstand am häufigsten publizierte Geschichte aus dieser Schreibphase mit sechs Veröffentlichungen über einen Zeitraum von 27 realen Jahren: Erstmals im „Twilight Zine 4“ im November 1991, dann in „Das Greifenei 6“ im Mai 1996, danach in „Baden-Württemberg Aktuell (BWA) 302“ im November 2008, gefolgt von einer Publikation im „EXTERRA 49“ im September 2010, schlussendlich im oben erwähnten E-Book „Die Kristalltränen …“ anno 2019.

13 Dieses Werk wurde nur einmal veröffentlicht in „Arkham Tales 9“ im Januar 1992.

14 Auch diese Story erblickte nur einmal das Licht der Öffentlichkeit, nämlich im März 1997 im Fanzine „Bawuemania 12“.

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