Liebe Freunde des OSM,
es ist eine allgemeine Redewendung, dass in einem Krieg das erste Opfer die Wahrheit sei … und daran ist bedauerlicherweise, unabhängig von Land, Zeit und Konflikt, bis heute viel Wahres. Das ist nicht einmal ein Faktum, das wir der modernen Mediengesellschaft zuschreiben könnten, vom Vietnam-Krieg bis zur Gegenwart rechnend. Nein, das hat es auch schon sehr viel früher gegeben, mitunter in einer Weise, dass man ein wenig als Wissender empört den Atem anhalten möchte.
Heute werfen wir einen Blick auf einen solch atemberaubenden Manipulationsversuch der Wahrheit, und ich muss gleich vorweg etwas dazu ergänzend sagen: Als ich 2006 das unten besprochene Buch las, war mir durchaus unklar, dass es sich dabei um die kondensierte und sehr stark eingedampfte Form des eigentlichen Berichts von Sven Hedin handelte. Das Buch in der ausführlichen Fassung (mehr als 300 Seiten stark) habe ich dann erst viel später antiquarisch gefunden, konnte es zwischenzeitlich aber noch nicht lesen. Gleichwohl nehme ich an, dass es sich tendenziell nicht sehr von der eingedampften Version unterscheiden wird.
Der schwedische Forscher Sven Hedin, der bald nach Beginn des Ersten Weltkriegs noch 1914 die Gelegenheit erhielt, mehrere Wochen die Westfront zu bereisen, erwies sich auf eigenwillige Weise als einäugiger Prophet mit der ausdrücklichen Neigung zum Schielen … so würde ich das mal sagen. Zwar gibt es wahre Worte in seinem Bericht, der Blickwinkel ist insgesamt aber völlig schief, und von den deutschen (!) Auftraggebern dieses Berichts wird er gründlich in die Irre geführt.
Statt also den weltbewegenden Krieg mit seinen weit reichenden Konsequenzen zutreffend zu schildern, verirrt er sich in einer bizarr rosig gefärbten Parallelwelt und ergreift Partei für die Falschen.
Und so sieht das im Detail dann aus:
Ein Volk in Waffen
Den deutschen Soldaten gewidmet.
von Sven Hedin
Brockhaus-Verlag
Leipzig 1915, Preis: 1,00 Mark
192 Seiten plus 22 Fotoseiten
„…In der Entfernung von einigen Tagesreisen wird der gewaltigste Krieg der Weltgeschichte ausgefochten. Dieser Krieg muß von grundlegender Bedeutung werden für die politische Entwicklung der nächsten fünfzig, hundert, vielleicht noch mehr Jahre. Seine Folgen müssen unbedingt das weitere Dasein der gegenwärtigen Generation bestimmen. Der Krieg von 1870/71 wurde der Beginn eines neuen Zeitalters in Deutschlands Entwicklung. Dasselbe wird in noch viel höherem Maße, im Guten oder Bösen, vom Krieg 1914 gelten! Alle politischen Probleme der nächsten Zukunft müssen ohne Zweifel ihre Wurzeln in diesem großen deutschen Krieg haben. Gehen beide kämpfenden Machtgruppen mit stark verringerten Kräften aus dem Streit hervor, so ist er in seinen erlöschenden Funken der Keim zu einem neuen, vielleicht noch mehr verheerenden Weltenbrand …“
Ich war beeindruckt, als ich diese einleitenden Worte eines Werkes las, das im Herbst 1914 entstanden und bereits ein Jahr später im kriegführenden deutschen Kaiserreich publiziert wurde. Fasziniert dachte ich, der ich mich gegenwärtig mit dem Ersten Weltkrieg befasse, wie erstaunlich hellsichtig doch dieser Sven Hedin war, der von Anfang September bis zum 1. November 1914 inkognito und ohne Wissen seiner Regierung die deutsche Westfront bereiste.
Denn wir heute Lebenden wissen, wie furchtbar zutreffend diese Bemerkungen waren: Am Ende des blutigen, grauenhaften vierjährigen Ringens, das nicht alleine in Europa stattfand, sondern sich erdbebenartig bis an den Bosporus ausweitete, den Orient in Flammen setzte, in Afrika Truppen gegeneinander aufhetzte, weltweit Schlachtschiffe einander jagen ließ (nicht zuletzt vor der südamerikanischen Küste) und selbst Soldaten aus Australien und Indien bis vor die Türen europäischer Hauptstädte führte, am Ende dieses Krieges lagen mehrere Monarchien in Trümmern, Revolutionen erschütterten Nationen, neue Staaten erblickten das Licht der Welt, und in der Tat, die Keime neuer Konflikte waren gelegt worden. Manche von ihnen geistern heute noch durch die Weltpresse, ohne dass man oft gewahr wird, wie gut sich ihre Wurzeln in den Ersten Weltkrieg verfolgen lassen. Die Krisen in arabischen Staaten, die blutigen Auseinandersetzungen in Israel/Palästina und vieles andere zählt zu den vagen Möglichkeiten, die Sven Hedin in den obigen Zeilen andeutete und die Realität geworden sind.
Und das alles sah er bereits 1914, kurz nach seiner Reise an die deutsche Front?
Respekt, dachte ich, wie gesagt. Der Schwede und Weltreisende Sven Hedin, der zu jener Zeit bereits weltberühmt war, würde doch, so hoffte ich, einen neutralen Standpunkt einnehmen können, unparteiisch urteilen über die Gründe des Kampfes, und wenngleich er sein Werk den deutschen Soldaten widmete und dezidiert ankündigte, „um der Germanen willen … die Verleumdung ausrotten und die Wahrheit zur Kenntnis der Allgemeinheit bringen“ zu wollen, hoffte ich doch, er würde sich nicht dazu herablassen, eine Propagandaschrift zugunsten des deutschen Hegemonialanspruchs zu verfassen.
Ich irrte mich.
Hedins Reise führt zunächst natürlich nach Berlin, wo er in der Wilhelmstraße 76 mit dem Unterstaatssekretär von Zimmermann zusammentrifft.1 Die deutschen Behörden sehen an diesem 12. September 1914 Hedins Auftauchen mit großer Freude. Naiv, wie der zu diesem Zeitpunkt 49jährige schwedische Forscher ist, nimmt er an, der deutsche Militärstab begrüße besonders die Tatsache, dass er mit seiner Reise die insbesondere von der britischen Presse erhobenen Vorwürfe entkräften könne, was die skandalöse Behandlung alliierter Kriegsgefangener angeht.
Die Wahrheit ist weniger schmeichelhaft:
Das deutsche Kaiserreich hat mit dem vollen Bewusstsein einen Angriffskrieg begonnen, das neutrale Belgien annektiert und hier zahlreiche Festungen in Grund und Boden geschossen, deren Besatzungen sich aus verständlichen patriotischen Gründen weigerten, die Waffen zu strecken und mit den Invasoren zu kooperieren. Zu dem Zeitpunkt, da Hedin in Berlin eintrifft, geht der deutsche Generalstab noch fest davon aus, dass eine Niederwerfung der flüchtenden französischen Heere – die Evakuierung von Paris ist bereits angeordnet, die Regierung von dort verlagert worden2 – in den nächsten Wochen möglich ist.
Diese Hoffnung wird am 15. September 1914 zerschlagen, als die deutschen Heere an der Marne zurückgeworfen werden. Dieses Ereignis geht als „Wunder an der Marne“ in die Geschichte des 20. Jahrhunderts ein und verändert unwiderruflich den Verlauf des Krieges. Aber da ist Sven Hedin bereits an der Front unterwegs. Die Reise, die er antritt, offenbar geplant als Glorifizierung eines deutschen Sieges, führt ihn zu einer Armee, die in ihren Stellungen stagniert und nicht mehr vom Fleck kommt.
Wie kann man nur verhindern, dass Hedin das wahrnimmt?
Der deutsche Generalstab, und auch das ist ein Subtext, den man in dieses einseitig geschriebene Buch mühsam hineinlesen muss, hat also nun Schwierigkeiten mit dem Abenteurer. Als Leser erhält man schnell den Eindruck, dass die Befehlshaber an der Front alles tun, um Hedins Weg zu lenken, auf Zeit zu spielen.
Anfangs bekommt er überwiegend „friedfertige“ Regionen zu sehen, in denen die alleinige Ahnung vom Krieg durch überall aufgestellte Posten und ein deutliches Übergewicht an Uniform tragenden Personen auf den Straßen bemerkbar wird. Als Hedin schließlich nach Wochen, während derer er unter anderem mit Kaiser Wilhelm II. (von dem er schwer beeindruckt ist), dem deutschen Kronprinzen und hochrangigen Militärs zusammenkommt, Lazarette und „tapfere deutsche Soldaten“ besucht, die stoisch ihre Verwundungen hinnehmen und „Opferbereitschaft“ dokumentieren, kann er auch französische und britische Kriegsgefangene besuchen, die sich – behauptet er jedenfalls – über die Behandlung und Versorgung in keiner Weise beklagen können. Dabei sieht er beständig nur die Sonnenseiten des Konfliktes. Alles ist gut, alles ist bestens, selbst die Feinde werden hervorragend behandelt, es gibt keinen Grund zur Klage … also muss die alliierte Propaganda ja die reine Lüge sein, nicht wahr?
Dem Leser wird unbehaglich zumute bei der deutlichen, fast schon widerlich süßen Verklärung des Kriegserlebens, von der Verherrlichung des deutschen Kriegerethos, da ja der deutsche Soldat, wie Hedin glaubt, „nur seine Heimat verteidigen will“. Die Parteilichkeit wird dann besonders gravierend und verzerrend sichtbar, wenn Hedin beispielsweise die Beschießung der Stadt Löwen damit rechtfertigt, es seien ja „Franktireurs“ gewesen, die die deutschen Truppen angegriffen hätten, wogegen sich diese hätten wehren müssen: „Jede andere Armee der Welt hätte ebenso gehandelt“, schreibt er.
Dabei übersieht der blauäugige Berichterstatter, der die Wahrheit auf sein Panier geschrieben hat und den völlig falschen Standpunkt einnimmt, dass er für die Aggressoren Partei ergreift und zwar moralisch richtig argumentiert, aber für die falschen Leute.
Die „Franktireurs“ sind jene, die ihre Heimat verteidigen – nur gegen die Deutschen. Und das, was Hedin als „die Wahrheit“ wahrzunehmen meint, ist in Wirklichkeit der Versuch der deutschen Okkupatoren, ihre Eroberungen zu rechtfertigen. Dabei könnte ein alleiniger Blick auf die Orte der Kämpfe dem Sehenden die Augen öffnen: es gibt keine besetzten deutschen Gebiete, die doch unvermeidlich gewesen wären, wenn den Deutschen die Opferrolle zufiele. Stattdessen werden die Kämpfe in Belgien und Nordfrankreich geschlagen, und zwar ausschließlich dort.
Für solche Belange ist Hedin blind.
Er sieht noch ganz andere Dinge nicht: „Für die Soldaten, die Tag und Nacht die schwerste Last zu tragen haben (Hedin spricht natürlich von den deutschen Soldaten, und nur von ihnen) und fürs Vaterland ihr Leben hingeben, ist nur die Wahrheit, die reine, klare Wahrheit gut genug. In den Ländern der Entente hat die Presse noch eine besondere und sehr wichtige Aufgabe, die der deutschen Presse nicht obliegt, nämlich die, den Mut der Soldaten anzufeuern und die Hoffnungen der Masse des Volkes aufrechtzuerhalten. Da nun frohe Nachrichten dort sehr dünn gesät sind, werden sie in den Redaktionen der verschiedenen Zeitungen fabriziert. Die deutsche Presse BRAUCHT nicht den Mut der Nation anzufeuern, er brennt in klarer, reiner Flamme …!“
Ach, welch kindische Ansicht.
Es ist zu bezweifeln, dass sich dieses idealistische Schwarz-Weiß-Denken deutscher und ausländischer Presse selbst noch zu diesem Zeitpunkt aufrechterhalten lässt. Und bekanntlich verbreiten auch deutsche Zeitungen und Zeitschriften mit Fortschreiten des (mehr und mehr erfolglosen, blutigen und sinnentleerten Ringens um von Granaten zerpflügtes Land im Herzen Europas) gerne und ausufernd Lügen, nicht zuletzt die von der „angegriffenen Nation“, die um ihr Überleben gegen eine Übermacht bösartiger Feinde kämpft, die Deutschlands Untergang wünscht.
Sven Hedin, idealistischer, in das Germanentum verliebter Forscher und Schwärmer, der sich so leicht von Militärs und Staatsmännern blenden und um den Finger wickeln lässt, schwenkt, ohne es zu merken, mit Überzeugung vollkommen instinktiv auf die Linie der deutschen Propaganda ein und wird vollständig blind für die Realität des Krieges, aus dem er berichtet.
Dieses Buch ist deshalb als Quelle für die Hedin-Forschung und für seine Seelenverfassung von großer Bedeutung. Die Intention, in der es ursprünglich abgefasst wurde, nämlich Bericht zu geben über den großen Konflikt, der das Abendland für die nächsten Jahrzehnte formen und bestimmen würde – darin wenigstens hatte Hedin bedauerlicherweise Recht – , diese Intention ist schon im Moment der Drucklegung Makulatur. Hedins Reisebericht in den großen europäischen Krieg wird in Deutschland verlegt und gerät automatisch zu einer propagandistischen Durchhalteschrift. Aber so, wie Propaganda noch nie den Verlauf eines von vorne herein falschen Krieges zu entscheiden imstande war, so versagt sie auch hier.
Das kaiserliche Deutschland verliert den Krieg, der Kaiser flüchtet in die Niederlande, kommunistische Räte regieren das zerfallende Kaiserreich, und der erniedrigende Diktatfriede von Versailles, leider alles andere als ein ausgewogenes Vertragswerk, wird, wie von Hedin befürchtet, „Keim zu einem neuen, vielleicht noch mehr verheerenden Weltenbrand …“
Man nennt diesen Weltbrand den Zweiten Weltkrieg, und seine Folgen stellen den „Krieg von 1914“ noch weit in den Schatten.
Sven Hedin aber, der sich für die einseitige Parteilichkeit zugunsten des kaiserlichen Deutschlands durch Verfassen dieser Schrift so weit aus dem Fenster gelehnt hat, erhält ebenfalls die ihm zustehende Quittung für solche Naivität, und zwar noch während des Krieges.
Auf der sehr guten und detaillierten Informationsseite zu Sven Hedin in der Online-Enzyklopädie Wikipedia heißt es: „Im 1. Weltkrieg stellte er sich in seinen Veröffentlichungen ausdrücklich auf die Seite der deutschen Monarchie und ihrer Kriegsführung. Durch dieses politische Engagement verlor er bei den Kriegsgegnern Deutschlands sein wissenschaftliches Renommee, die Mitgliedschaft in deren geografischen Gesellschaften und gelehrten Vereinigungen sowie jede Unterstützung bei seinen geplanten Expeditionen.“
Da er später auch Adolf Hitler und dem Nationalsozialismus im Wesentlichen positiv gegenüberstand, muss man als heutiger Historiker wohl leider zu der Überzeugung kommen, dass Sven Hedin aus seinen publizistischen Fehlern während des Ersten Weltkriegs nicht hinreichend gelernt hat.
© 2006 by Uwe Lammers
Abenteuerlich? Tja, das ist noch recht zahm formuliert, gebe ich zu. Aber wie ihr in der kommenden Woche erfahren werdet, ist der Irrwitz in der Politik nicht etwas, was wir am Beginn des 20. Jahrhunderts suchen müssen und zwischendurch ausgestorben wäre. Das gibt es auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch.
Mehr dazu ist in der kommenden Woche zu lesen.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Es handelt sich um jenen Unterstaatssekretär von Zimmermann, den die amerikanische Historikerin Barbara Tuchman in ihrem Buch „Die Zimmermann-Depesche“ für die Nachwelt verewigt hat.
2 Vgl. zum genauen Handlungsgeschehen Barbara Tuchmans Klassiker: „August 1914“, Bern und München 1964.