Liebe Freunde des OSM,
manchmal überholt die Wirklichkeit die Phantastik, und mitunter geschieht das sogar dann, wenn man damit überhaupt nicht rechnet. Als ich im Jahre 2018 den unten rezensierten Roman das zweite Mal las und immer noch höchst beeindruckt und beunruhigt von seiner Zeitlosigkeit war, konnte ich mir wirklich nicht vorstellen, wie schnell unsere Realität von einem sehr analogen Verhängnis heimgesucht werden sollte.
Was meine ich damit? Ich zitiere nur mal spaßeshalber einen Satz meiner damaligen Rezension, und ich gehe wohl nicht fehl in der Annahme, dass ihr sofort im Bilde seid. Damals formulierte ich Folgendes: „Tatsache ist, dass dieser Roman nach wie vor zeigt, wie schrecklich anfällig unsere Gesellschaft für diese winzigen Organismen aus der Urzeit ist.“
Gemeint sind Mikroorganismen.
Und dann denken wir mal realchronologisch anderthalb Jahre über den Abfassungszeitpunkt der Rezension hinaus und landen wo? Bei der Corona-Pandemie und COVID-19 … einem Mikroorganismus, der bis heute die Welt komplett auf den Kopf stellt.
Vielleicht sollte man sich heute mehr denn je den Anfang der 70er Jahre (!) geschriebenen Roman mal zu Gemüte führen und gruselnd begreifen, dass damals zwei echt weitblickende Visionäre am Werk waren. Die beiden Autoren ersannen nicht einfach eine spinnerte, verrückte Story, die niemals Realität werden kann, sondern sie legten peinigend unangenehm den Daumen auf ein ungelöstes Problem der modernen Gesellschaft, extrapolierten ein wenig und ließen die Geschichte dann entgleisen.
Wie das aussah? Desaströs. Aber auch bestürzend unterhaltsam, wie es die meisten plausiblen Apokalypsen sind. Stürzt euch mal wie ich damals in dieses Abenteuer und ihr werdet eine extrem spannende und immer noch sehr wichtige Geschichte vorfinden, die auch heutzutage alles andere als abwegig ist:
Mutant 59: Der Plastikfresser
(OT: Mutant 59: The Plastic Eater)
Von Kit Pedler & Gerry Davis
Heyne-Bibliothek der SF-Literatur, Band 60
256 Seiten, TB (1971)
Aus dem Englischen von Rolf Palm
ISBN 3-453-31289-9
Eine der am meisten drängenden Fragen der Gegenwart des frühen 21. Jahrhunderts ist eigentlich die Schattenseite einer grundsätzlich segensreichen Entwicklung. So, wie es mit vielen Erfindungen der Menschheit ging, die man sowohl zum Nutzen wie zum Schaden einsetzen kann, sah es hier zunächst sehr danach aus, als würde ausschließlich der Vorteil dominieren.
Die Erfindung von Kunststoffen auf der Basis von Erdöl ist eine Entwicklung, die das 20. Jahrhundert von Grund auf umgekrempelt hat. Das beschönigen zu wollen, ist müßig. Man kann wohl mit Fug und Recht annehmen, dass es heute in den hochzivilisatorischen Zentren der Welt keinen Lebensbereich mehr gibt, in dem Kunststoffe keine prägende Rolle spielen.
Ob es sich dabei um den Bereich der Textilien handelt, der Verpackungsmaterialien, der Alltagsgeräte, der Baustoffe oder des Transportwesens, Plastikmaterialien verschiedenster Arten sind ubiquitär einsetzbar und werden entsprechend eingesetzt. Sie haben zumeist Vorteile gegenüber klassischen Werkstoffen – sie sind leichter, in großer Stückzahl schnell herzustellen, sie lassen sich durch diverse Prozesse schnell recyceln, senken Transportkosten, erhöhen in bestimmten Bereichen die Stabilität von Konstruktionen … auch die Vorzüge dieser Materialien sind vielfältig wie sie selbst.
Die Nachteile gehen damit indes einher. Einer, der früher gern als Vorteil verkauft wurde, nämlich die unbestreitbare Langlebigkeit der Materialien, ist inzwischen als massives Manko erkannt worden. Langkettige Kunststoffmolekülketten kommen in der Natur nicht vor, folgerichtig gibt es auch kaum eine Möglichkeit, diese Stoffe durch den natürlichen Zerfall vor Ablauf einiger Jahrhunderte abzubauen. Schlimmer noch: durch erosive Prozesse werden Kunststoffmaterialien in immer kleinere Einheiten zerrieben, wodurch sie quasi unsichtbar werden … was allerdings nicht dazu führt, dass sie dadurch rascher zerfallen oder ihr Problempotenzial geringer wird. Diese klein geraspelten Kunststoffteile (Mikroplastik) reichern sich vielmehr in natürlichen Stoffkreisläufen an, bilden in den Ozeanen gigantische Teppiche aus nahezu unzersetzbarem Treibgut und bilden so zunehmend eine Belastung für die Ökosysteme.
Gewiss, bereits Anfang des 20. Jahrhunderts machten Mikrobiologen die Entdeckung, dass es Bakterien in der Natur gibt, die sich auf den Abbau von Kohlenwasserstoffverbindungen spezialisiert haben. Diese so genannten hydrocarbonoklastischen (also „Kohlenstoff zerbrechenden“) Bakterien führen aber ein Randdasein, und sie werden verstärkt erst seit Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts erforscht. Man kann darum sagen, dass diese Forschungen definitiv erst am Anfang stehen.
Wie so oft war die Science Fiction auch in diesem Bereich sehr viel früher und sehr viel innovativer, und damit nähern wir uns dem vorliegenden Roman.
Im Jahre 1971, als das amerikanische Apollo-Programm noch Astronauten zum Mond schickte und Gedanken über erste Marssonden zur Entwicklung entsprechender Gefährte führten, verfassten die Autoren Kit Pedler und Gerry Davis einen visionären Roman dystopischen Zuschnitts, der 1986 in der Heyne-Reihe der „Bibliothek der Science Fiction Literatur“ neu aufgelegt wurde. Ungeachtet der Tatsache, dass er mehrere fiktionale Voraussetzungen schafft, legt er einen Finger auf eine Wunde, die heute mehr denn je geeignet ist, Furcht und Schrecken im Leser zu induzieren. Deshalb hat er an Bedeutung bis heute nichts eingebüßt.
Es geht um Kunststoffe.
Es geht um menschliche Hybris.
Es geht um Mikroorganismen.
Heraus kommt ein Alptraum. Und so sieht er aus:
In einem nicht genannten Jahr (der eingesetzten Technologie nach zu urteilen aber spätestens Mitte der 70er Jahre) entwickelt Dr. Simon Ainslie in Kensington bei London in seiner Freizeit einen Mikroorganismus, weil er damit das eingangs skizzierte Menschheitsproblem, die Mülllawine aus schier unzersetzbaren Kunststoffen, lösen möchte. Er stellt sich vor, dass dieser Mikroorganismus segensreich für die Menschheit sein könnte. Lange Zeit ist er erfolglos, aber die Mutation 59 erweist sich als tauglich, sie löst tatsächlich Kunststoffe auf. Aber ehe Ainslie diese Entdeckung bekannt machen kann, stirbt er eines natürlichen Todes, und seine Erfindung wird in den Abfluss hinabgespült und verschwindet aus dem Blickfeld.
Bald darauf kommt es anderwärts zu zwei wichtigen innovativen Entwicklungen: ein Forscherkonsortium um Dr. Arnold Kramer entwickelt erst einen sehr kostengünstigen Kunststoff, der auf Aminosäurebasis erschaffen werden kann, das Aminostyren, das bald in Lizenz weltweit an allen möglichen Orten für die Fertigung eingesetzt wird. Es scheint sich um einen perfekten Kunststoff zu handeln.
Die zweite Entwicklung ist noch folgenreicher: Kramers Team erschafft einen sich selbst zersetzenden, lichtempfindlichen Kunststoff. Er wird vorrangig in der Kunststoffflaschenbranche eingesetzt, wo der Formungsprozess nun unter Abschluss von Helligkeit erfolgt. Die Flaschen werden mit einem weiteren Kunststoff bedampft und dann befüllt. Wenn man die Flaschen indes später am Hals aufreißt – der Inhalt ist sofort in andere Behältnisse umzufüllen – , kann man geradewegs zusehen, wie die Flasche in harmloses Granulat zerfällt. Der Werkstoff wird Degron genannt und bald durch millionenfache Produktion in Flaschenform zerbröselt und schließlich von den Käufern in die Kanalisation gespült.
Ebenso wie Aminostyren ist Degron ein gewaltiger Verkaufsschlager und wird rasch weltweit in Lizenz verkauft. Offensichtlich ist insbesondere Degron ein gutes Mittel, den stetig wachsenden Müllberg zu verringern.
Eine Verkettung dummer Zufälle bringt allerdings Degron und den Mutanten 59 in der Londoner Kanalisation zusammen. Und das, was so segensreich begonnen hat und aus den hehrsten Absichten heraus entwickelt wurde, gerät nun zu einem Alptraum.
Mutant 59 findet sich im Paradies wieder – Kunststoffe, wo immer er „hinschaut“, könnte man sagen. Der immer noch unbekannte Mikroorganismus beginnt mit explosiver Vermehrung und mutiert dabei immer weiter. Sehr rasch erstreckt sich sein Heißhunger auch auf andere Kunststoffe. Auf alle Kunststoffe, wie es ausschaut.
Und es gibt ja so viel davon: mit Kunststoff ummantelte Kabel. Kunstoffrohre, in denen Gasleitungen verlaufen. Schaltungen, die das Verkehrswesen kontrollieren. Flugzeuginnereien. Schalter in Raumkapseln. U-Bahnen. Automobile. Und da sich Mutant 59 mittels mikroskopischer Sporen vermehrt, den ahnungslose Zivilisten überall mit hinschleppen, fängt ein mikrobiologischer Krieg an, den die Menschheit offenbar nur verlieren KANN …
Es ist manchmal wirklich verblüffend, wie visionär und geradezu zeitlos phantastische Romane sind. Wenn man in diesem Buch einmal über die aus heutiger Sicht archaische Technik hinwegsieht – es gibt eben weder Handys noch Internet, und selbst die Computertechnik funktioniert mehrheitlich via Magnetband – , so hat sich an dem hier plakativ behandelten Grundproblem nichts geändert.
Natürlich, viele neue Substanzen sind hinzugekommen, aber primär, würde ich sagen, ist die heutige Menschheit anfälliger denn je für den Mutant 59. Ich muss mich nur in meiner eigenen Wohnung umschauen: Teppiche mit Kunststofffasern? Allgemein verbreitet. Pflanzbehälter aus Kunststoff? Überall bei Pflanzen liebenden Heimbewohnern zu finden. Computergehäuse? Aus Kunststoff. Telefone? Aus Kunststoff. Wichtige Einrichtungsgegenstände in der Küche – nicht nur in Flugzeugen – aus Kunststoff. Kabelummantelungen? Nach wie vor primär aus Kunststoff …
Das Alptraumszenario einer sich buchstäblich auflösenden Küche, die einem Alptraum von Salvador Dalí entsprungen sein könnte und die Pedler und Davis sehr anschaulich darstellen – das würde sich heute, mehr als 45 Jahre nach der Abfassung des Romans, in vielen Haushalten bei Freisetzung eines solchen Mikroorganismus munter wiederholen. Und das wäre selbstverständlich erst der Anfang.
Ja, es gibt eine gewisse Form von „Happy End“, könnte man sagen, aber mit einem unangenehmen Wermutstropfen, den ich hier nicht vorwegnehmen möchte. Tatsache ist, dass dieser Roman nach wie vor zeigt, wie schrecklich anfällig unsere Gesellschaft für diese winzigen Organismen aus der Urzeit ist. Das Szenario ist alles andere als gänzlich abwegig, heute wohl weniger denn je.
Vergnüglich fand ich übrigens eine Szene, in der Dr. Luke Gerrard, eine der Hauptpersonen der Geschichte, in einem Kaufhaus einem „Amok laufenden“ Spielzeugroboter von Menschengröße auszuweichen hatte. Warum war das so witzig? Weil Kit Pedler als Skriptautor der britischen Fernsehserie „Doctor Who“ zu dieser Zeit bereits die Cybermen entwickelt hatte, die bis heute in der Serie ihr Unwesen treiben. Sie stehen für diese Passage eindeutig Vorbild. Wer also den Roman zum damaligen Zeitpunkt las, konnte sich diese Szene angesichts der filmischen Darstellung der Doctor Who-Serie lebhaft vorstellen.
Ich halte das Buch ungeachtet der Knappheit der Darstellung definitiv nach wie vor für einen der besten und tiefsinnigsten SF-Romane, den ich jemals gelesen habe. Er ist unbedingt eine Wiederentdeckung wert.
© 2018 by Uwe Lammers
Harter Stoff? Ja, unbedingt. Aber wer immer meint, Science Fiction als realitätsfremde Spinnerei abtun zu wollen, wird durch solche Romane eines Besseren belehrt. Ich finde nach wie vor, dass es eine eminent wichtige Bedeutung der SF ist, auf langfristige Probleme hinzuweisen und das entsprechende Bewusstsein dafür zu schärfen – das schafft dieser Roman ganz eindeutig, und zwar seit mehr als 50 Jahren!
Kann es noch etwas Schlimmeres geben als das? Allerdings, ja, und darauf komme ich in der nächsten Woche zu sprechen. Diesmal verlagert sich das Geschehen allerdings in die allgemeine Phantastik und bekommt gewisse allegorische Züge.
Der Tod gehört zum Leben dazu, das ist gewissermaßen der „Preis“ für das Leben. Aber was, wenn sich das auf einmal fundamental ändert? Wie sieht das aus?
Mehr dazu in der nächsten Woche.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.