Liebe Freunde des OSM,
es ist eine Binsenweisheit der Literatur: dass das Leben die besten Geschichten schreibt, im positiven wie im negativen Sinne. Und manche davon sind so unfasslich, dass man sich an den Kopf greift und fragt, ob man womöglich gerade träumt oder – im aktuell vorliegenden Fall – der Verfasser auf irgendeinem wilden Drogentrip gewesen ist, als er sein Werk schrieb.
Für das aktuelle Buch, das ich euch heute vorstellen und dessen Lektüre ich wärmstens all jenen ans Herz legen möchte, die es noch nicht kennen sollten (lasst euch nicht von der Verfilmung täuschen, sie konnte notwendig nur einen winzigen Teil dessen darstellen, was das Buch tatsächlich enthält!), für dieses Buch gilt das ausdrücklich nicht. Alles, was hierin dargestellt ist, entspricht tatsächlich der Realität. Oliver Sacks, dessen Leben sich durch die dramatischen Ereignisse in „Mount Carmel“ für immer veränderte, geht vielmehr sehr transparent mit allen positiven wie negativen Folgewirkungen seines hilfreich gedachten medizinischen Experiments um.
Und ja, er beschreibt erschütternd detailliert, wie er selbst von den Folgen dessen grundlegend überrumpelt wurde … wie er anschließend in der Medizinerzunft angefeindet wurde, weil er fundamentale, man könnte auch sagen „ideologische“ Überzeugungen mit gutem Grund infrage stellte. Es liegt ihm fern, von einem Allheilmittel zu reden, ebenso, sich selbst auf ein Podest zu heben, sei es als Heiler oder Märtyrer. Was er abbildet, ist vielmehr das wirre Durcheinander eines realen Forscherlebens, das durch die „trial-and-error“-Methode auf harte Weise lernen musste, dass die bisher bekannten medizinischen Theorien auf tönernen Füßen standen.
Und alles das fing 1969 in einem amerikanischen Krankenhaus an mit einer Versuchsreihe, die sich anfangs wie ein Märchen ausnahm und alsbald in einen unbegreiflichen Alptraum entgleiste und ungeahnte Konsequenzen zeitigte.
Wer neugierig geworden sein sollte, der lese weiter und achte nicht auf die Länge der Rezension – vertraut mir, die Seiten sind wirklich erforderlich, ihr werdet sehen, weshalb:
Awakenings – Zeit des Erwachens
(OT: Awakenings)
von Oliver Sacks
rororo-Sachbuch 8878
464 Seiten, TB
Reinbek bei Hamburg, Februar 1991
damals: 14.80 DM
Übersetzt von St. Schappo, W. Gutjahr, M. Lehmann, U. Hausmann, N. Rose, K.-H. Plottek sowie Martina Tichy und Klaus Henning
ISBN 3-499-18878-3
Dies ist eine wahre Geschichte.
Wer dies für einen unpassenden Anfang für eine Rezension über ein Sachbuch hält, wird möglicherweise am Ende anderer Auffassung sein, weil er an seinem Verstand ebenso zweifelt wie ich zeitweise, als ich dieses Werk las. Denn dies ist die Geschichte einer Gesellschaft von „Dornröschen“, die jahrzehntelang von der Welt verkannt wurden und selbst dann, als sie fähig waren, sich zu artikulieren, dies in einer Weise taten, die die wissenschaftliche Gesellschaft zutiefst erschütterte – und deren Realität man dann zu verdrängen versuchte, weil sie unbequem war. Dies ist zugleich die Geschichte jenes Mannes, der sich zum Sprecher dieser Verdammten machte, der um Verständnis bemüht war, wiewohl selbst von Angst und Verstörung ergriffen, von Zweifeln und Hilflosigkeit.
Wo also anfangen?
Gehen wir zurück in den Winter des Jahres 1916/17.
In diesen Wochen und Monaten trat auf einmal auf dem europäischen Kontinent, vornehmlich in Österreich-Ungarn, eine Krankheit in Erscheinung, die so mannigfache Auswirkungen und Erscheinungsformen besaß, dass man sie in viele verschiedene Schubladen zu stopfen versuchte. Die Diagnosen lauteten auf „epidemisches Delirium, epidemische Schizophrenie, endemischer Parkinsonismus, epidemische und multiple Sklerose, atypische Tollwut, atypische Poliomyelitis“ (meist Polio abgekürzt, also Kinderlähmung) und so weiter. Signifikanteste und erschreckendste Ausprägung stellte eine Veränderung des Schlafrhythmus dar: Entweder fielen die Betroffenen in einen so komatösen Schlaf, dass sie bisweilen wochen- und monatelang nicht mehr zu aufzuwecken waren – oder sie litten unter Zuständen ausgeprägter Schlaflosigkeit, die man medizinisch nicht zu behandeln verstand. Patienten mit letztgenannten Symptomen starben binnen 10-14 Tagen an den Folgen dieser Krankheit, die häufig mit einem heftigen Bewegungsdrang, pausenloser Hyperaktivität und Erregung zusammen auftrat.
Schlimmer noch: diese Krankheit trat zeitgleich auf mit der damals grassierenden sogenannten „Spanischen Grippe“, der weltweit mehrere Millionen Menschen zum Opfer fielen.1 Doch während diese Grippe sich bis heute tief ins Gedächtnis der Menschheit eingegraben hat, wurde diese andere bizarre, seltsame Krankheit, an der letzten Endes kurz- oder langfristig über fünf Millionen Menschen litten, wieder vergessen.
Die Krankheit, die zum Teil bis zu fünfhundert (!) verschiedene Ausprägungen erreichte und von dem berühmten Arzt Constantin von Economo damals untersucht wurde, verschwand etwa um das Jahr 1926/27 offenkundig spurlos, so gespenstisch, wie sie aufgetreten war. Aber der Alptraum war lange nicht zu Ende.
Economo identifizierte dieses Phänomen schließlich als „enzephalitis lethargica“, die sogenannte europäische Schlafkrankheit, die über Jahrhunderte – vielleicht Jahrtausende – hinweg in den Schriften europäischer Ärzte und Philosophen nachweisbar ist. Allerdings war eine Epidemie in diesem Ausmaße völlig unbekannt. Genau wie ihr jähes Auftreten blieb das Verschwinden rätselhaft.
Im Jahre 1966 wurde der damals 33jährige Arzt Oliver Sacks an ein Hospital im Staate New York versetzt, das er im Buch „Mount Carmel“ nennt und das in Wahrheit einen anderen Namen trägt. Mount Carmel war im Wesentlichen eine Verwahranstalt für Menschen, die von der Medizinwissenschaft als unheilbare Fälle aufgegeben worden waren – Personen etwa, die unter fortgeschrittenem Parkinsonismus litten, steif wie ein altes Stück Holz geworden waren und stunden- , ja, tagelang in einer zum Teil völlig unnatürlich verkrümmten Haltung vor sich hindämmerten, nicht oder nur sehr gering ansprechbar. Personen, die kaum reagierten, beklagenswerte, bedauerliche Gestalten. Strandgut der menschlichen Gesellschaft, die der eigene Körper vorzeitig in eine nahezu vegetative Form gezwungen hatte. Eine unheilbare Form. Wenigstens nahm das damals jeder behandelnde Arzt an.
Oliver Sacks fand hier in Mount Carmel eine „Gemeinde“ von etwa achtzig Patienten vor, die auf geradezu grauenerregende Weise die unterste Stufe der Existenz erreicht hatten. Die meisten von ihnen dämmerten seit Jahren, manche bereits seit Jahrzehnten (!) vor sich hin und waren dauerhafte Pflegefälle. Sicher, man kannte ihre Namen, aber keiner der Pfleger und Ärzte rechnete ernsthaft damit, dass diese bedauernswerten Kreaturen sich ihrer Umgebung bewusst waren, noch, dass sie jemals wieder ihre Umwelt vernünftig wahrnehmen würden. Man würde sie eben pflegen müssen, bis sie starben. Und das konnte noch Jahrzehnte dauern.
Der junge, neu angekommene Arzt – also der spätere Autor Oliver Sacks – hatte bereits Parkinson-Kranke betreut, er wusste halbwegs, wie er mit ihnen umzugehen hatte, und doch war er betroffen von diesen schrecklich geschlagenen Menschen. Und tief in seinem Herzen dachte er, es müsse doch eine Möglichkeit geben, diesen Personen zu helfen, ihr Leiden zu lindern. Irgendwie.
Als sich kurze Zeit nach Oliver Sacks´ Ankunft in Mount Carmel ein Medikament namens L-DOPA herumzusprechen begann, ein Stoff, der imstande war, Depressionen zu beheben und bei Parkinson-Kranken eine Linderung ihrer Beschwerden herbeizuführen, da wagte er es – mit starken Bedenken – , den seit vielen Jahrzehnten dahindämmernden Patienten in Mount Carmel dieses Medikament zu verabreichen.
L-DOPA behebt, muss man dazu wissen, einen Mangel des neuronalen Botenstoffs Dopamin, der im menschlichen Gehirn unter anderem für Rauschzustände verantwortlich ist, Freude und Euphorie hervorzurufen versteht und auch sonst eine Reihe – damals noch unbekannter – Wechselwirkungen steuert.
Man wusste, dass der Dopaminspiegel von Parkinson-Kranken erschreckend niedrig war und nur etwa 20 % des Wertes eines gesunden Menschen erreichte. Bei den Patienten, die Sacks nun betreute und zu therapieren versuchte, lag der Dopaminspiegel teilweise allerdings nur auf 0,1 % des üblichen Wertes. Er war sich infolgedessen überhaupt nicht sicher, was die Medikamentengabe ausrichten würde. Oder ob sie überhaupt Wirkung zeitigen konnte.
Auf das, was er erlebte, waren weder noch seine Mitpfleger eingestellt.
Am besten ist ein Beispiel, um die Dramatik der Situation zu demonstrieren.2 Nehmen wir die Patientin, die Oliver Sacks mit dem Aliasnamen „Rose R.“ bezeichnet hat:
Rose wird 1905 in New York als Tochter einer wohlhabenden Familie geboren und wächst ohne ernsthafte Erkrankungen als fröhliches, intelligentes Mädchen auf, das zahlreiche Hobbys hat, begeistert sich für das Fliegen, Architektur und ein partyreiches Gesellschaftsleben in den frühen 20er Jahren.
Im Jahre 1926 kündigt sich durch eine Reihe Furcht erregender Träume eine Veränderung in ihrem Leben an: Rose sieht sich darin in einer Burg gefangen, die von der Gestalt her ihrem eigenen Körper gleicht, sie sieht die Welt um sich herum erstarren und sich selbst in einen Traum fallen, aus dem sie niemand mehr erwecken kann. „Ferner träumte sie von einem Tode, der sich vom Tod unterschied“, schreibt Sacks mit beklemmender Verve.
Am nächsten Tag ist Rose kaum mehr wach zu bekommen, und als sie endlich halbwegs bei Sinnen ist und in den Spiegel schauen kann, sieht sie ihren Alptraum Realität gewinnen. Sie wird von den letzten Ausläufern der enzephalitis lethargica erfasst und gleichsam niedergestreckt. Der hinzu gerufene Arzt konstatiert sehr vorschnell einen katatonischen Zustand, den er als Ausfluss einer unglücklichen Liebesgeschichte interpretiert. „Was erwarten Sie bei dem Leben, das sie führte? Einer dieser Taugenichtse hat ihr das Herz gebrochen. Halten Sie sie ruhig und geben Sie ihr zu essen – in einer Woche wird sie wieder obenauf sein.“
Ein klassisches ärztliches Fehlurteil: Rose R. erholt sich weder in einer Woche noch in einem Jahr, geschweige denn in den darauf folgenden 43 Jahren. Im Gegenteil, es wird immer schlimmer.
Rose scheint zwar alles um sich herum wahrzunehmen, ist aber völlig außerstande, am Leben teilzunehmen. Es wirkt etwa so, so formuliert es der Autor, als befinde sie sich „in einem für andere nicht einfühlbaren Zustand, der sie absorbiere und mit dem sie sich vorrangig beschäftige“. Ein Zustand indes, den niemand außer ihr begreift und den sie selbst nicht mehr mitteilen kann. Während diese krankhafte Situation andauerte, wurde Rose immer starrer und entwickelte zeitweise Krisenzustände mit krankhaftem Augenkreisen (okulogyrische Krisen), ticartigen Zuckungen, Verkrampfungen und beängstigender Atemnot.
1935 waren die Angehörigen mit Roses Pflege eindeutig überfordert und veranlassten die Einweisung in Mount Carmel, wo sie von da ab lebte. Es gab allerdings etwas Unheimliches an ihr: sie alterte nicht mehr. Eine alte Stationsschwester, die Rose R. seit ihrer Einlieferung kannte, sagte später zu Oliver Sacks: „Es ist unheimlich, aber diese Frau ist während der dreißig Jahre, die ich sie kenne, nicht um einen Tag älter geworden. Wir alle werden älter – nur Rose ist geblieben, wie sie war.“ In der Tat sieht Rose R. mit 61 Jahren dreißig Jahre jünger aus: mit rabenschwarzem Haar und einem faltenlosen Gesicht, in der Tat ein auf gespenstische Weise eingefrorener Mensch, der gewissermaßen jenseits der Zeit lebt. Und dann waren und blieben da ihre hellwachen, aber gleichsam nach innen gerichteten Augen …
Sacks begann am 18. Juni 1969 mit der L-DOPA-Behandlung und stellte schon nach wenigen Tagen Veränderungen fest: Die okulogyrischen Krisen ließen nach, die Starresymptome ihrer Gliedmaßen schwanden rasch dahin, und die Augen waren deutlich aufmerksamer geworden. Wenig später war Rose auch imstande, statt des sonst üblichen, sehr mühsamen Flüsterns nach Jahrzehnten endlich wieder normal zu sprechen und selbständig zu gehen. Sie nahm die Umwelt vollkommen wahr, wurde lebhaft und sprach mit anderen Menschen. Alles Dinge, die früher undenkbar erschienen wären. Und ihrem Arzt erklärte sie, warum sie all die ganzen Jahrzehnte zuvor so sehr konzentriert gewirkt hatte. Ein typischer Dialog aus einer Fußnote ist es wert, auszugsweise zitiert zu werden:
„Woran denken Sie, Rosie?“
„An nichts, einfach an nichts.“
„Aber wie ist es denn möglich, dass Sie an nichts denken?“
„Es ist schrecklich einfach, wenn man einmal weiß, wie.“
„Und wie denken Sie einfach an nichts?“
„Eine Möglichkeit besteht darin, immer wieder und wieder an dieselbe Sache zu denken. Zum Beispiel 2 = 2 = 2 = 2 oder: Ich bin, was ich bin, was ich bin … Es ist genau dasselbe mit meinem Zustand. Er führt immer wieder zu sich selbst zurück. Egal, was ich mache oder denke, es führt tiefer und tiefer in sich selbst zurück … Und dann sind da die Pläne.“
„Was meinen Sie mit ‚Pläne’?“
„Pläne, Abbildungen … Alles, was ich tue, ist ein Plan von sich selbst, alles, was ich tue, ist ein Teil von sich selbst. Jeder Teil führt wieder zu sich selbst, stellt wieder sich selbst dar … Ich hole eine Vorstellung vor mein Bewusstsein, und plötzlich bemerke ich in dieser Vorstellung etwas wie einen Punkt am Horizont. Das Etwas kommt immer näher, und plötzlich sehe ich, was es ist – es ist dieselbe Vorstellung von eben. Und ich sehe wieder einen Punkt, und noch einen, und so weiter … Oder ich denke an einen Plan, dann an einen Plan von diesem Plan, dann an einen Plan von einem Plan dieses Planes. Und jeder dieser Pläne enthält alles, obwohl sie kleiner und kleiner werden. .. Welten innerhalb von Welten innerhalb von Welten innerhalb von Welten …3 Wenn das erst einmal anfängt, kann ich damit nicht mehr aufhören …“
…
„Und gibt es noch andere Arten, an nichts zu denken, Rose?“
„Aber ja doch! Pläne und Punkte sind doch nur die eine Seite, das positive Nichts; aber ich denke auch an das negative Nichts.“
„Und wie muss man sich das vorstellen?“
Das soll hier nicht verraten werden, das kann der Neugierige nachlesen. Aber man erkennt: Diese äußerlich vollkommen hilflosen, bemitleidenswerten Menschen sind nach innen auf eine entsetzliche, aber gleichsam phantastische Weise hellwach, sie sind nur nach außen stumpf gleich einer Druse, die im Innern einen Wald von gewachsenen Juwelen enthält. Und Oliver Sacks´ L-DOPA war der Hammer, der die glanzlose Schale aufsprengte und die Kostbarkeiten des Innen freilegte.
Einige Wochen lang erfreute sich Rose R. einer erstaunlichen Verbesserung ihrer physischen Lage, dann aber veränderte sich ihre Reaktion auf das Medikament schlagartig: Stimmungsschwankungen traten auf, Starrkrämpfe beeinträchtigten ihre Beweglichkeit und beeinflussten die Laune negativ. Schließlich führte die fortgesetzte Verabreichung von L-DOPA zu zwanghaften Wortwiederholungen, die Rose nicht stoppen konnte. Auch die alten Schwierigkeiten traten in einer massiven Form neu in Erscheinung, dass Rose in nie vorher gekannter Art darunter zu leiden begann. Die Tics beispielsweise ihrer rechten Hand wurden so schnell, dass sich mit einem Zeitlupenfilm nicht weniger als 300 Anschläge pro Minute nachweisen ließen.
Schließlich wurde die Verabreichung von L-DOPA wegen der „Nebenwirkungen“4 abgebrochen, die zu einer unannehmbaren Beeinträchtigung der Lebensqualität führten. Oliver Sacks konstatiert am Schluss seines biografischen Kapitels über Rose R. ein wenig niedergeschlagen: „Immer noch sieht sie wesentlich jünger aus, als sie ist; und im Grunde genommen ist sie wesentlich jünger. Aber sie ist wie ein schlafendes ‚Dornröschen’, für das das ‚Erwachen’ unerträglich war und das deshalb nie wieder aufzuwecken sein wird.“ Für Rose R. herrscht im Kopf nach wie vor das Jahr 1926, obgleich sie durchaus weiß, dass man das Jahr 1969 schreibt. Es ist für sie mehr wie eine Art seltsamer Traum.
Aber so erschreckend auch diese Auswirkung war, so sehr hätte man damit womöglich noch umgehen können. Oliver Sacks musste jedoch noch eine ganz andere Erfahrung machen, die buchstäblich sein Weltbild zertrümmerte. Es gab viele Postenzephalitiker in Mount Carmel, und er behandelte sehr viele von ihnen mit L-DOPA, streng nach Plan und alle mit derselben vorsichtigen Anfangsdosis.
Und jeder reagierte anders.
Jeder reagierte auf jede einzelne Dosierung anders.
Damit nicht genug. Der Prozess des „Erwachens“ aus der Starre war bei jedem der Postenzephalitiker mehr oder weniger plötzlich oder explosiv, sie konnten auf einmal Dinge tun, die keiner der Pfleger jemals für möglich gehalten hatte. Sie bewegten sich, liefen die Korridore entlang, sprachen aufgeregt miteinander, nahmen die Umwelt wahr und berichteten über ihr Leben. Manche begannen mit handwerklichen Fertigkeiten (für Menschen, die dreißig bis vierzig Jahre lang bewegungslos dahinvegetiert hatten, nahezu unvorstellbar), lasen mitunter in zwanghaftem Tempo Bücher oder redeten dermaßen schnell, dass kein Nachrichtensprecher dies hinbekommen hätte.
Und dann kam, für den einen früher, für den anderen später, wieder der Absturz ins Pathologische. Die Wirkung des Medikaments schlug gleich einer unberechenbaren Keule zurück auf den Leib, auf die Seele, auf die Fähigkeiten der Patienten.
Und wieder reagierte jeder Patient anders.
Oliver Sacks und sein Team reduzierten die Medikamentendosis. Setzten sie ab. Die einen Patienten fielen sofort in komatöse Starre zurück. Andere „nur“ in ihren normalen Zustand. Wieder andere reagierten mit Tobsuchtsanfällen und sprachen dann nicht einmal mehr auf Beruhigungsmittel an.
Sacks musste begreifen, dass das, was er hier ausgelöst hatte, im Grunde genommen unkontrollierbar war, sich in kein Schema einpassen ließ. L-DOPA wirkte direkt auf das Gehirn der Menschen ein, aber die bisherige Vorstellung der Wirkungsweise war offenkundig nicht zutreffend. Und ein Medikament, dessen Wirkung ständig unkontrollierbar war, schien definitiv ungeeignet zu sein, als Allheilmittel angepriesen zu werden.
Während er noch die eskalierenden Zustände in Mount Carmel unter Kontrolle zu bekommen versuchte, schrieb er Artikel über seine Erlebnisse mit L-DOPA und erlebte nun eine Krise ganz anderer Art: Manche medizinischen Journale weigerten sich kategorisch, seine Aufsätze zu nehmen, nachdem die ersten unter der Ärzteschaft einen furchtbaren Aufruhr hervorgerufen hatten. Arztkollegen warfen Sacks vor, er sei ein „Feind“ der L-DOPA-Therapie. Was natürlich gar nicht stimmte. Ihm wurde die fachliche Kompetenz abgesprochen. Solche Reaktionen, wie Sacks sie beobachtet hatte, „träten einfach nicht auf“, sie seien „unmöglich“.
Oliver Sacks war zunehmend verstört über dieses Feedback seiner Fachkollegen, insbesondere auch älterer Koryphäen der Psychologie und Neurologie. Er lud sie dazu ein, nach Mount Carmel zu kommen, um sich die Wirkung selbst anzusehen. Doch keiner der Eingeladenen kam. Oliver Sacks wurde gewissermaßen zu einem Paria, zu einem Außenseiter, mit dem kaum mehr jemand etwas zu tun haben wollte.
Er hatte etwas entdeckt, was niemand wahrhaben wollte.
Erst viel später begann Sacks zu verstehen, was eigentlich passiert war: er hatte eine „Wunderdroge“ in Frage gestellt, DAS Medikament gegen den Parkinsonismus (denn, wie Sacks in Mount Carmel entdeckt hatte, half L-DOPA auch nicht flächendeckend bei Parkinson-Patienten, sondern auch sie litten unter Negativwirkungen des Medikaments. Diese wurden freilich bei anderen Versuchen verschwiegen).
„Wunderdrogen“ hatten in der Medizingeschichte eine lange Tradition: Sigmund Freud schwor auf Kokain (!), William James hielt Lachgas für ein Allheilmittel und Havelock Ellis setzte Anfang des 20. Jahrhunderts auf Meskalin. Der neueste „Schrei“ war gewissermaßen L-DOPA, und Kritik über die realen Auswirkungen war ausdrücklich unerwünscht.
Allerdings machten bald auch andere Mediziner dieselben Erfahrungen wie Oliver Sacks, und von da ab bröckelte der Absolutheitsanspruch von L-DOPA ebenso zusammen wie bei früheren „Wunderdrogen“.
Diese Desillusionierung stellte jedoch nur einen Effekt dieser Medikamentengabe dar. Der andere war bei Oliver Sacks selbst ein kompletter Wandel des Heilungsansatzes. Sacks musste aufgrund der Wirkungen, die sich einstellten, verstehen, dass jeder Patient ein Individuum war und auch individuell reagierte, und indem die Patienten während der vermeintlich kontrollierten Therapie in eine unkontrollierbare, ja, unvorhersehbare Krise gerieten, brach zugleich Sacks´ eigenes Denkbild zusammen. Er war allerdings jung und flexibel genug, um nicht die Augen vor der Realität zu verschließen, sondern kritische Nachfragen zu stellen, nach Gründen zu suchen, warum sich diese Menschen so verhielten, wie sie sich verhielten.
Er befragte die Patienten selbst und destillierte aus ihren innersten Befindlichkeiten und den Gehirnstrommessungen, später im Zusammenhang mit der aufkommenden technischen Revolution (Computertomographen) und der Chaostheorie sowie fraktalen Geometrien ein neues Bild des Gehirns, das in vielerlei Hinsicht revolutionär war.
Schlussendlich wurde dieses 1973 erstmals veröffentlichte Buch auch Gegenstand öffentlicher Darstellungen anderer Art. Wie Oliver Sacks es selbst treffend ausdrückt: „Das Zentralthema von Awakenings – in Schlaf verfallen, versteinert werden, Jahrzehnte später in einer Welt erwachen, die nicht mehr die eigene ist – spricht unmittelbar und mächtig die Phantasie jedes einzelnen Menschen an. Aus diesem Stoff sind Träume, Alpträume und Märchen gemacht – und dennoch ist es tatsächlich geschehen.“
Diese Erlebnisse in Mount Carmel inspirierten Kurzgeschichten, Gedichte und Romane, es entstanden Theaterstücke, und schließlich wurde es unter dem Titel „Zeit des Erwachens“ in einer sehr reduzierten Form verfilmt, in den Hauptrollen Robert de Niro und Robin Williams (letzterer verkörpert Oliver Sacks). Über all das ist in diesem Buch vieles zu erfahren, was man sonst nicht entdecken würde.
Neben zwanzig postenzephalitischen Fallgeschichten (die etwa 190 Seiten des Buches ausmachen und von denen man wirklich nur ein oder zwei am Tag verkraften kann) erfährt der Leser viel über die Parkinsonsche Krankheit und den Parkinsonismus (an dem etwa auch der einstige amerikanische Präsident Ronald Reagan und der Boxer Muhammed Ali litten). Man lernt die Biografie von Oliver Sacks und sein neuroanthropologisches Weltbild kennen, bekommt vieles über die Schlafkrankheit und ihre Folgen zu hören und schließlich, in einem Anhang, noch allerhand über „Wunderdrogen“, bioelektrische Grundlagen des „Erwachens“ und die Wahrnehmung von Raum und Zeit durch Parkinson-Kranke sowie – unverzichtbar – vieles über die Adaption des Buchstoffes in den Medien bis zum Jahre 1990.
Dieses Buch ist natürlich harter Stoff, es ist eine Zumutung für zartbesaitete Leser. Es ist packend, ergreifend, zu Tränen rührend. Erschütternd und fassungslos machend. Es nicht zu empfehlen, wäre eine Todsünde, meine ich. Doch wer immer sich auf dieses Abenteuer einlässt, die Leben und die Leiden der wenigen Überlebenden der enzephalitis lethargica zu erkunden und kennenzulernen, wird aus dem Staunen und Erschrecken, aus ungläubigen Kichern und entsetzten Atemholen nicht mehr herauskommen.
Dies ist ein Buch, das jeden unmittelbar berührt, der das Leben kennenlernen möchte. Und ich sagte ja eingangs: Dies ist eine wahre Geschichte.
Manch einer mag daran zweifeln, wenn er das Buch schließt.
© 2004/2005 by Uwe Lammers
Braunschweig, den 19.-31. März 2004/9. Februar 2005
Harter Stoff? Hatte ich euch prophezeit. Aber bleibt gelassen, Freunde, in der kommenden Woche wird es sehr viel weniger wortreich und viel ruhiger, versprochen. Dann reisen wir zu den Sternen.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Eine beklemmende schriftstellerische Umsetzung dieser Epidemie ist die Story „Wenn ich sterbe, bevor ich aufwache“ von David Morrell, in: Douglas E. Winter: Offenbarungen, Bastei 14193, März 1999. Sehr lesenswert.
2 Und das Beispiel ist in diesem Fall ausdrücklich nicht repräsentativ – aus Gründen, die gleich offenbar werden.
3 Wer sich mit mathematischen Modellen auskennt, wird hier sogleich eine Parallelität zu fraktalen Geometrien sehen, die mit dem Namen von Benoit Mandelbrot verbunden sind. Aber ich erinnere daran, dass Rose R. diese Strukturen dachte und durchlebte, bevor der Begriff der fraktalen Geometrie auch nur ersonnen war. Oliver Sacks stellt viele Jahre nach diesen Ereignissen fest, wie hilfreich fraktale Strukturen zur Erklärung der postenzephalitischen Bewusstseinszustände sind.
4 Sacks spricht nur höchst widerwillig von „Nebenwirkungen“, denn eigentlich ist es etwas anderes. Aber das lässt sich in der gebotenen Kürze nicht vernünftig darstellen. Es hat etwas mit einer Gratwanderung des Bewusstseins zu tun. Auch hier sei Nachlesen ausdrücklich empfohlen.