Liebe Freunde des OSM,
manche der Rezensionen, die ich aus meinem Rezensionsfundus ausgrabe – der noch lange nicht alle enthält, die ich je geschrieben habe, weil die frühen samt und sonders nur als analoge Fassungen existieren, mitunter auch nur noch in Fanzine-Belegexemplaren, aus denen ich sie mühsam extrahieren muss1 – sind so alt und beziehen sich nicht selten auf Werke, die sich nicht mehr in meinem Besitz befinden, dass ich sie inzwischen nicht mehr vollständig bibliografisch mit den Angaben angeben kann. Das heute vorzustellende Buch fällt in diese Kategorie.
2002, vor also nunmehr 20 Jahren, las ich mich durch dieses kleine Büchlein, das sich als Sammlung von Märchen entpuppt, die der Herausgeber aus aller Welt zusammengesammelt hat und die sich allesamt um die verschiedensten Formen von Zaubersteinen und deren Wirkungen ranken.
Ich glaube, ich schicke euch einfach mal kurzerhand auf die Weltreise – die Neugierde kommt, denke ich, dann ganz von selbst:
Märchen von Zaubersteinen
Herausgegeben von Felix Karlinger
Insel Taschenbuch 2265
112 Seiten, TB
1998; 12.80 DM2
Es ist schon eine rechte Last mit Steinen. Die Bauern wissen davon klagvolle Lieder zu singen, wenn sie ihre Äcker pflügen und manchmal Stein um Stein aus dem Erdreich klauben, der ihnen die Saat erschwert und damit letztlich Gewinne schmälert.
Doch es gibt auch andere Steine, deren Besitz oder Benutzung keineswegs so profan ist und die stattdessen zu ungeahntem Wohlstand und Glück führen können. Man nennt so etwas Zaubersteine, und der Herausgeber Felix Karlinger hat in diesem Band eine Vielzahl von solchen Märchen, die sich um derartig wundertätige Steine ranken, versammelt, die sich sehr leicht und angenehm lesen lassen.
Die Reise beginnt in Brasilien mit der Speisung der Alten (die freilich, christlich stark angehaucht, in der Nähe von Betlehem spielt). Hier machen sich in einer Hungerzeit einige alte Leute auf die Wanderschaft, weil sie gehört haben, in Betlehem solle es etwas zu essen geben. Auf dem Weg dorthin jedoch rasten sie bei den Ruinen eines Klosters, und um den Hunger vergessen zu machen, soll einer von ihnen eine Geschichte vorlesen. Das tut er, aber … „…da erhob sich plötzlich ein heftiger Sturm, der die Türe aufstieß, so dass sie an die Wand flog. Und durch die Türe kam ein rötlicher, leuchtender Stein geflogen und blieb über dem langen Tisch … in der Luft stehen. Der rote Stein strahlte ein solches Licht aus, dass alle Alten geblendet waren … Als sie endlich merkten, dass es nicht mehr so hell war …, sah ein jeder einen Teller mit gutem Essen und einen Becher mit Wein vor sich stehen. Der Stein aber blieb verschwunden …“
Essen und Trinken können also solche Steine manchmal spenden. Weitere Geschichten aus Portugal, Rumänien, Korsika und Spanien ergänzen das zum Teil auf abenteuerliche Weise. Die unglaublich süße Geschichte der „steinernen Suppe“ beispielsweise will ich hier nicht erzählen, die muss man nachlesen.
Doch Zaubersteine vermögen nicht nur Nahrung oder Völlegefühl zu vermitteln, sie verbergen auch verfolgte Menschen (und halten sie unter Umständen dauerhaft gefangen) oder enthalten geheime Schätze, die die Pfiffigen an sich zu bringen verstehen. Die Geschichte „Tu dich auf, goldnes Haus!“ (Haiti) ist dabei eine Parabel auf die Gier reicher Menschen, die diese zugrunde richtet, während der, der Maß hält, von den Zaubersteinen zu profitieren versteht. Und ob sich diese Räuberbande, die eines Tages aus den Monte Sibillini (Norditalien) verschwindet und sich im Schutze einer magisch mit Zauberstein versiegelten Höhle verbergen soll, jemals wieder zeigt, weiß Gott allein. Sie trieben im letzten Jahrhundert ihr Unwesen, aber möglicherweise verläuft ja in den zauberischen Höhlen die Zeit anders oder steht ganz still …?
Auch zu heilen und zu helfen verstehen Zaubersteine vortrefflich, manchmal sogar, wie im Falle des „Bechers aus Jaspis“ (Guatemala), Tote wieder aufzuwecken. Und die Geschichte des „Zauberdiamanten“ aus Ligurien ist so köstlich, dass ich herzhaft gelacht habe. Auch sie möchte ich nicht verraten.
Manchmal hagelt es sogar Steine, ganz kleine, zauberkräftige, als Körnchen verborgen in heftigem Hagelschauer. Natürlich sind nicht in ALLEN Hagelkörnern welche, aber wenn man denn mal welche findet, nun, das bringt dann Glück, Gesundheit und langes Leben. Man sollte danach Ausschau halten. Also, wenn es hagelt … ihr wisst, was zu tun ist!
Außerdem, und damit kommen wir zur letzten hier dokumentierten Form von Funktionen der Zaubersteine, können sie sich bewegen und Menschen tragen. Im Extremfall bis zu Gebieten, die man sonst nicht erreichen kann – beispielsweise ins Jenseits (Ein Stein trägt ins Jenseits – Brasilien) oder zum Mond (Ein Stein fliegt zum Mond – Italien). Warnende Steine gibt es auch noch, und die sollte man sehr ernst nehmen, denn „manchmal gibt es dann Krieg“.
Die sehr kurzweilige und lesbare Sammlung von Volksmärchen ist zwar äußerst schlicht, aber man kann nicht sagen, dass sie einfallslos oder humorlos sei. Kritisieren sollte man jedoch, dass über den Herausgeber Felix Karlinger nichts zu erfahren ist und er sich manchmal bei der Übersetzung Wendungen befleißigt, die mit Märchen rein gar nichts zu tun haben. Insbesondere fiel es mir bei der Verwendung des Wortes „Krepieren“ auf, das für mich Militärjargon ist und die Vermutung weckte, Karlinger sei Soldat im Zweiten Weltkrieg gewesen. Es gibt weiß Gott genug geeignetere Worte, die die Stimmung der Geschichten nicht zerstören. Er verwendet dieses Wort aber mit Vorliebe (fünfmal insgesamt, wie sich zählen ließ).
Für den Preis von 12.80 DM ist der schmale Band indes ein wenig zu teuer. Mir fiel er hingegen für 1.95 Euro in die Finger. Insbesondere Fantasy-Autoren können sich hier sicher noch die eine oder andere Wendung und Begebenheit für ihre Geschichten „abgucken“.
© 2002 by Uwe Lammers
Wahrhaftig, ein kurzweiliges und den Horizont schön erweiterndes Büchlein, das man nach der Lektüre so rasch nicht mehr vergessen kann. Gilt das auch von dem Buch der kommenden Woche, wo ich über den vierten Teil von Meredith Wilds „Hard“-Romanzyklus spreche? Das müsst ihr dann in der kommenden Woche selbst entscheiden.
Bis dahin sage ich Adieu, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Zuletzt geschah das aus gegebenem Anlass mit zwei steinalten Rezensionen zu Werken von Stanislaw Lem, die ich im NEUEN STERN FÜR STANISLAW LEM (laufende Nummer: 73) anno 2001 abschrieb und in einen umfassenden Text zu Lem als „Schleifstein für meine Kreativität“ integrierte. Zahllose andere der Frühzeit, zweifelsohne bibliografisch auch nur karg erfasst, sind noch eine Aufgabe für die Zukunft.
2 Es war kein Europreis angegeben, vermutlich würde er heute bei etwa 6.50 Euro liegen.