Rezensions-Blog 353: Hier spricht Guantánamo

Posted Mai 25th, 2022 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

ich denke, wer die Nachrichten der zurückliegenden zwanzig Jahre aufmerksam verfolgt hat und namentlich diejenigen der letzten Monate, der wird um ein paar ungenießbare Tatsachen nicht herumkommen, die in politischen Fehlentscheidungen vor gut 20 Jahren wurzeln.

Am 11. September 2001 ereignete sich der folgenschwerste ter­roristische Anschlag auf amerikanischem Boden, ausgeführt von einer Gruppe nominell muslimischer Fanatiker, die allesamt bei der Ausführung ihres Planes den Tod fanden. Um diese Tat zu vergelten, erklärte der damalige Präsident George W. Bush jr. den „Krieg gegen den Terrorismus“ (schon semantisch absurd, da man nur Krieg gegen Personen oder Nationen führen kann, aber nicht gegen Begriffe wie „Terrorismus“). In der Folge diente dieses Vorgehen der Legitimation, zwei Regierungen zu stürzen und zwei Staaten mit Krieg zu überziehen, den Irak (der mit den Anschlägen nichts zu tun hatte) und Afghanistan, in dem der vermeintliche Drahtzieher Osama bin Laden, als Gast der Tali­ban-Regierung weilte.

Während im Irak die Regierung Saddam Husseins gestürzt wer­den konnte und im Anschluss daran ein Bürgerkrieg ausbrach (soviel zu George Bushs realitätsverkennender Bemerkung „Mis­sion accomplished!“, die er nach Saddams Sturz vollmundig machte), wurde auch das Taliban-Regime in Kabul gestürzt und eine neue Regierung ins Amt gehievt.

Die Jagd nach „Terroristen“ aber ging weiter, und sie erschuf ei­nen bizarren rechtsfreien Raum auf Kuba – das Strafgefange­nenlager Guantánamo. Nach meiner Kenntnis existiert es nach wie vor, und immer noch werden dort „Terroristen“ festgehalten, die von amerikanischen Kommandos in Afghanistan eingesam­melt worden sind.

Der leider schon verstorbene Journalist Roger Willemsen – ich durfte ihn 2014 noch auf der Leipziger Buchmesse persönlich erleben; eine beeindruckende Persönlichkeit, die wie gedruckt und äußerst scharfsinnig zu reden verstand – hat sich anno 2006 die Mühe gemacht, den ideologischen Mantel aus Halb­wahrheiten und Lügen zu durchbrechen, der um dieses Gefan­genenlager und seine Insassen gewoben wurde.

Er hat einige wenige der Insassen exemplarisch befragt und da­bei Dinge und Lebensgeschichten zutage gefördert, die sicher­lich nicht stellvertretend für alle Inhaftierten stehen können. Aber sie zeigen zumindest in beunruhigender Häufung auf, dass viele Personen offenkundig völkerrechtswidrig dorthin unter Vor­gabe falscher Anschuldigungen verschleppt wurden. Oder ein­fach, weil sie zum verkehrten Zeitpunkt am falschen Ort waren, die falsche Sprache sprachen, den verkehrten Glauben besaßen oder „wie Taliban aussahen“ (was immer das konkret auch hei­ßen soll, da „Taliban“ übersetzt nur „Koranschüler“ heißt; so be­trachtet könnte man formal jeden Muslim verhaften, aber das käme ja niemandem ernstlich in den Sinn!).

Herausgekommen ist ein nicht zuletzt wegen des Vorwortes, in dem er auf die Medienresonanz auf dieses Buch mit eingeht, ziemlich beklemmendes Werk, das den aufmerksamen Leser für die Tücken und auch für gewisse beunruhigende Selbstgleich­schaltungstendenzen in der heimischen Medienlandschaft sensi­bilisieren könnte. Es ist in dem Sinn geschrieben, ideologisch zu enge Denkraster aufzubrechen, Einzelfallprüfungen durchzufüh­ren und sich einfachen Lösungen zu verweigern.

Traurigerweise muss man auch 15 Jahre nach Erscheinen des Buches konstatieren: Das Lager gibt es immer noch. Die Taliban-Bewegung ist nach 20 Jahren amerikanisch-westlicher Besat­zung in Afghanistan wieder an die Macht gekommen, und der dortigen Bevölkerung geht es höchstwahrscheinlich nicht besser als vor 2001. Auf beklemmende Weise wird so nicht nur der Fehlschlag der westlichen Intervention offengelegt, sondern auch, dass in jederlei Beziehung der „Krieg gegen den Terrorismus“ eher dazu geführt hat, dass die Welt unsicherer denn je wurde. Ich bin der Ansicht, dass das heutige Rezensionsbuch ungeach­tet seines Alters immer noch ein sehr lesenswertes Mahnzei­chen der jüngsten Zeitgeschichte ist. Und die Geschichte über das Straflager Guantánamo und seine unglückseligen Inhaftier­ten, die selbst nach der Freilassung für ihr Leben gezeichnet sind, ist bedauerlicherweise noch lange nicht am Ende.

Wer neugierig ist, lese bitte weiter:

Hier spricht Guantánamo

Interviews mit Ex-Häftlingen

von Roger Willemsen

Fischer-Taschenbuch 17458

256 Seiten, 8.95 Euro

Oktober 2006

ISBN 3-596-17458-9

Es gibt Menschen, die meinen, wir wissen bereits alles über das berüchtigte Strafgefangenenlager Guantánamo auf Kuba, wo die Streitkräfte der Vereinigten Staaten von Amerika seit dem Beginn ihres „Krieges gegen den Terrorismus“1 Personen inhaftieren, die sie der Mittäterschaft an den mörderischen Anschlägen auf das World Trade Center am 11. September 2001 bezichtigen, bei dem mehr als dreitausend Amerikaner ums Leben kamen.2 Auch viele Journalisten zählen dazu, die sich dadurch bei der Besprechung des vorliegenden Buches auf eine nachgerade abenteuerliche Gratwanderung begaben. Der Verfasser Roger Willemsen, Schriftsteller, Journalist und Fernseh-Moderator, der Tausende von Interviews geführt hat, berichtet davon in dem Vorwort.

Die renommierte FAZ meinte, das Buch komme zu spät, wobei sie stets an der USA-Doktrin von den inhaftierten „gesetzlosen Kämpfern“ festgehalten hatte, die die Häftlinge in Guantánamo mehrheitlich eher nicht sind; die christliche Zeitschrift „Chris­mon“ fand die genannten Details der Folter in den Lagern offen­sichtlich nicht drastisch genug; der „Zürcher Anzeiger“ befürch­tete, das Buch könne „fundamentalistischen Islamisten“ ein Fo­rum bieten; der „Welt“ fehlten (ernsthaft!) „spektakuläre Miss­handlungsgeschichten“, für den dortigen Rezensenten bot sich ein Bild der „Langeweile“ und des „normalen Gefängnisstumpf­sinns“3; die „Frankfurter Rundschau“ sah sich gar genötigt, eine Gegendarstellung in sechs Punkten abzudrucken.

Allen diesen Kritikern, um nur ein paar zu nennen, die erwähnt worden sind, ist offenkundig gemeinsam eine seltsame, unge­nießbare Melange aus Abstumpfung, williger Selbstgleichschal­tung mit amerikanischer Propaganda und völlig unreflektiertem Hineinfühlen in die Lage der Inhaftierten, die selbst nach ihrer Freilassung (!) durch die US-Militärs weiterhin unter der „Schuld­vermutung“ des Terrorismus stehen. Lyrischer, aber nicht schö­ner ausgedrückt: der finstere Schatten der Jahre in Guantána­mo-Haft hängt bis an ihr Lebensende über diesen Unglückli­chen, die zumeist nur das Pech hatten, am falschen Ort zur fal­schen Zeit zu sein.

Roger Willemsen hat in diesem Buch fünf ehemalige Häftlinge, die bereit waren, ihm Rede und Antwort zu stehen, interviewen können, und eines der Interviews ist unfasslicher als das nächs­te. Da kann keine Rede von „Langeweile“ sein, und wenn auch nur ein Rezensent sich die Mühe gemacht hätte, sich in die Lage der Interviewpartner zu versetzen, hätte er schnell das Grauen gespürt, das durch ihre scheinbar unspektakulären Worte hin­durchschimmert …

Khalid Mahmoud al-Asmar beispielsweise, ein gebürtiger Pa­lästinenser, war Mitarbeiter einer Hilfsorganisation in Afghani­stan, der Witwen, Waisen und Armen half und einen kleinen Ge­würzhandel aufbaute, um seine Familie zu ernähren. Er hatte während seines Aufenthalts in Afghanistan 1987 eine dortige Waise geheiratet. Als die Amerikaner Afghanistan im Nachgang zum 11. September 2001 zu bombardieren begannen, rieten ihm seine Geschäftsfreunde, er solle nach Pakistan gehen, weil er als Araber – wiewohl kein Taliban – Gefahr laufe, verfolgt zu werden. Khalid konnte das nicht glauben, aber zum Wohl seiner Familie ließ er sich überzeugen.

Auf der pakistanischen Seite der Grenze wurde er indes von pa­kistanischen Sicherheitskräften verhaftet, unter falschen An­schuldigungen gefangengehalten und schließlich an amerikani­sche „Headhunter“ verkauft, die ihn auf dem Umweg über an­dere Lager in Pakistan und Afghanistan schließlich nach Guantánamo brachten. Hier wurde er mehrere Jahre lang inhaf­tiert, immer wieder verhört, gefoltert und schließlich ohne Ge­richtsverfahren freigelassen – unter der Auflage, nie etwas ge­gen die USA zu tun, nicht den Taliban oder der Al-Qaida beizu­treten oder über das Lager zu erzählen.

Völkerrecht ist etwas anderes.

Eine Entschädigung für die Jahre der Haft und die erlittenen ge­sundheitlichen Schäden hat er nie erhalten, und er ist skeptisch, überhaupt jemals etwas zu bekommen. Er erklärte Roger Wil­lemsen: „Die USA haben ein Gesetz verabschiedet, wonach sie für solche Taten nicht strafrechtlich belangt werden können. Die USA haben die ganze Affäre als politische und nicht strafrechtli­che Angelegenheit abgetan. Sogar das Rote Kreuz und unsere Anwälte haben mir das alles bestätigt …“

Hussein Abdulkader Youssef Mustafa gehört ebenfalls zu den Palästinensern. Er war zum Zeitpunkt der Verhaftung Religi­onslehrer, ist aber heute arbeitslos und außerstande, seinen Be­ruf auszuüben, da ihm die jordanische Regierung keine Sozial­versicherungsnummer zugesteht, die dafür erforderlich ist.

Vor dem Jahre 2001 hielt er sich als von der UNO registrierter und anerkannter Flüchtling in Pakistan auf. Er war dort seit 1985 Lehrer an den Schulen afghanischer Flüchtlinge, die vor der rus­sischen Besatzung geflohen waren, und er brachte ihnen die Re­geln des Korans bei wie auch die arabische Sprache in Wort und Schrift.

Ich habe im Unterricht auch die Werte der Gewaltlosigkeit und Toleranz vermittelt“, erklärt er dem Interviewer.

Als er direkt nach dem 11. September 2001 von den pakistani­schen Behörden unter fadenscheinigen Argumenten verhaftet wurde, ging er noch davon aus, dies sei irgendwie ein Irrtum. Auch die Polizisten erklärten ihm nach einer Weile, dies sei ein Irrtum, er sei unschuldig, und sie würden ihn umgehend zurück­bringen … stattdessen lieferten sie ihn gegen Entgelt den Ame­rikanern aus, die in ihm „einen Araber“ sahen, einen Lands­mann von Osama bin Laden, und ihn menschenunwürdig be­handelten und schließlich unter erniedrigenden Umständen nach Guantánamo verschleppten.

Hier sollte Hussein gezwungen werden, Dinge zu gestehen, die er nicht getan hatte, Verbindungen zu Al-Qaida zu besitzen, was definitiv nicht der Fall war, bzw. ein Taliban zu sein, der er nicht war. Am 7. August 2004, nach über zwei Jahren unbegründeter Lagerhaft, verließ er physisch unverletzt, aber psychisch schwer angeschlagen, das Lager. Seine Vorstellungen von Gerechtigkeit sind seither aus verständlichen Gründen schwer beschädigt.

Wörtlich erklärte er: „Die Aussage, dass ich unschuldig sei und freigelassen werden würde, nutzte mir wenig. Es ist genau so, wie wenn jemand in ein Haus einbricht, alles stiehlt und das Haus zerstört und sich danach entschuldigt. Was haben die Be­wohner des Hauses von seiner Entschuldigung?“

Timur Ischmuradow ist dreißig Jahre alt, gebürtiger Tatare und ausgebildeter Ingenieur sowie russischer Staatsbürger. Er be­fand sich auf der Suche nach einem Wohnsitz in einer muslimi­schen Kultur, als er in Afghanistan zwischen die Fronten der Nordallianz und der Taliban geriet. Sein Lebenslauf stellt einen anschaulichen Fall der verwirrenden Verläufe von Biografien vie­ler Inhaftierter dar, die keineswegs nur „afghanische Taliban“ oder „feindliche Kämpfer“ sind.

Er kam aus Sibirien, wo er in der Erdölindustrie gearbeitet hatte. Im Jahre 1998 begann er dann, sich dem islamischen Glauben zuzuwenden, eine Moschee zu besuchen und fand nach und nach den Gedanken, in einer großen Gemeinschaft von Gläubi­gen aufzuwachsen, sehr reizvoll.

Er ging nach Tadschikistan, das zu dem Zeitpunkt zweigeteilt war, in einen von der Regierung kontrollierten und einen von der islamischen Opposition kontrollierten Teil. Doch das islami­sche Tadschikistan war erschreckend arm und, nach Auskunft der dort Lebenden, auch noch kein „richtiger“ islamischer Staat. Wenn er so etwas suche, solle er sich nach Afghanistan bege­ben. Was er dann auch tat. Allerdings sprach er nur sehr wenig Arabisch und gar kein Afghanisch, und da ihm natürlich bekannt war, dass Russland jahrelang einen blutigen Krieg gegen die af­ghanischen Mudschaheddin geführt hatte, fürchtete er, als der Kampf zwischen den Taliban und den Amerikanern begann, er werde irgendwann als „Russe“ entlarvt und dann von Einheimi­schen umgebracht.

Die wahre Gefahr erwuchs ihm jedoch aus den Amerikanern. Er konnte sich geschickt durch seine usbekische Heimatsprache durchlavieren und fand Zuflucht bei der Nordallianz. Doch nach einigen Monaten, Anfang 2002, wurde er, der eigentlich geplant hatte, Lehrer an einer Schule zu werden, aus einer Moschee heraus entführt, zunächst ins Durchgangslager Bagram, dann nach Kandahar gebracht und schließlich nach Guantánamo.

Als der völlig nervlich zerrüttete Ischmuradow schließlich nach Unterzeichnung der „üblichen Papiere“ (siehe oben) freigelas­sen wurde, lieferten ihn die Amerikaner als „feindlichen Kämp­fer“ (wiewohl man ihn für unschuldig erklärt hatte), in Hand- und Fußfesseln an die russischen Behörden aus, die ihn darauf­hin „vorsorglich“ auch mehrere Monate inhaftierten, ohne Erklä­rungen. Der junge Ingenieur wird nun von den russischen Si­cherheitsorganen bei jedem Terroranschlag „prophylaktisch“ er­neut in Haft genommen und verhört, auch wenn er mit diesen Dingen gar nichts zu tun hat. Er steht auf der Liste der „Terroris­ten“ …

Ravil Gumarow, ein 43jähriger Tatare und ehemaliger Unter­nehmer, wäre auf seiner Suche nach einem Ort, wo er seinen muslimischen Glauben besser praktizieren konnte, fast gestor­ben. Hätte er seinen eigenen, fatalistischen Humor nicht, würde er seine schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen und die entwürdigenden und traumatisierenden Erlebnisse, die hinter ihm liegen, gewiss nicht überstanden haben.

Nach den Terroranschlägen in Moskau im August und Septem­ber 1999 (mutmaßlich von tschetschenischen Attentätern be­gangen, was aber bis heute nicht geklärt ist), bei denen mehr als zweihundert Menschen ums Leben kamen, entstand in Russ­land eine verstärkte antimuslimische Stimmung. Er ging, um etwa weiteren Wohnungsdurchsuchungen und anderen Schika­nen zu entgehen, zunächst nach Tadschikistan und von dort aus, weil man hier keine Geschäfte machen konnte, mit Glau­bensgefährten weiter in Richtung Afghanistan. Sie wurden aller­dings von Bewaffneten aufgehalten, die der Islamistischen Be­wegung Usbekistans (IDU) angehörten, die eigentlich keine Gegner für sie darstellten.

Die IDU-Kämpfer waren es, die Gumarow und seine Gefährten nach Afghanistan brachten, in die Nähe der Stadt Kunduz. Doch statt Geschäfte machen zu können, wurde er von usbekischen Afghanen gefangen genommen und beschuldigt, ein russischer Spion des KGB oder FSB zu sein. Sieben Monate lang war er nun in afghanischer Haft, für seine Familie galt er als verschollen. Schließlich setzten ihn die Usbeken wieder auf freien Fuß, gaben ihm Unterkunft in einer Garage (!), gestatteten ihm die freie Re­ligionsausübung, doch war er eingeschränkt in seiner Bewe­gungsfreiheit.

Die sagten: ‚Bleib bei uns, mit uns hast du es einfacher, du kennst die Sprache nicht, und du kennst die hiesigen Bräuche nicht.‘“ Was also sollte er tun? Er blieb natürlich.

Als sich die Terroranschläge vom 11. September 2001 ereigne­ten, war er also als vergleichsweise freier, aber nur geduldeter russischer Muslim in Kunduz. Auf die Frage Roger Willemsens, wie er von den Ereignissen von „9/11“ erfahren habe, antwortet Gumarow alarmierend offen: „Auch über Radio, und als das be­kannt wurde, haben alle darüber geschrien. Ich hatte ja kein großes Interesse an der Weltpolitik.4

In der Folge gerät der Tatare in die Gewalt des usbekischen Ge­nerals Dostum, der mit den Amerikanern zusammenarbeitete und „Taliban“ jagte. Über sechshundert von ihnen wurden in der Festung Mazar-e-Sharif zusammengepfercht, die meisten von ihnen waren indes keine Taliban, sondern Binnenflüchtlinge wie Gumarow, der all das selbst erlebt hatte. Er berichtete Roger Willemsen schreckliche Details über das von Dostum angerich­teten Massaker in der Festung, das nach seinen Worten wohl dazu dienen sollte, das eigene Versagen zu verschleiern – die Tatsache, dass er „die Falschen“ eingefangen hatte und auslie­fern wollte. Gumarow trug hier Schusswunden in beiden Beinen davon.

Kurze Zeit später wurde er als einer der wenigen Überlebenden ans amerikanische Militär übergeben, das ihn ungeachtet seiner Verletzungen fesselte und misshandelte und schließlich über Bagram nach Guantánamo ausflog, weil es ihn für einen „Tali­ban“ hielt. Allein sein dauerhaft labiler Gesundheitszustand ver­hinderte, dass man ihn ähnlichen Schikanen aussetzte wie seine gesunden und jüngeren Gefährten.

Was ihm während seiner Verhaftungszeit am meisten auffiel, war Folgendes: „Besonders schlecht wurden die Araber behan­delt, weil Osama bin Laden Araber ist. Aber es ist ja nicht ein­mal bewiesen, dass er für die Anschläge verantwortlich ist. Das konnte jedenfalls bisher nicht nachgewiesen werden.“

Und so kam er zu dem Schluss, dass viele amerikanische Bewa­cher und Befehlshaber schlicht „verzweifelt bemüht“ gewesen seien, aus ihnen „irgendetwas“ herauszuholen, um es als Er­folg zu präsentieren (bei den meisten Inhaftierten hätten sie – wie etwa bei ihm – schon nach wenigen Wochen gewusst, dass sie unschuldig seien).

Denn, wie er richtig feststellt: was für einen Eindruck macht es auf die Bevölkerung, wenn alle Gefangenen nach Jahren freige­lassen werden und man keinen einzigen Schuldigen vorweisen kann …?

Abdulsalam Saif ist wohl der einzige Prominente unter den Be­fragten. Er war Afghane, Ökonom von Beruf, Pressesprecher der Taliban-Regierung, später Afghanistans Botschafter in Pakistan. Bei ihm handelte es sich um den einzigen Taliban, der für dieses Buch befragt werden konnte. Er vermittelte keinen fanatischen Eindruck, sondern beharrte darauf, vielmehr ein Opfer amerika­nischer Aggression und zudem völkerrechtswidrig durch die pa­kistanischen Behörden ausgeliefert worden zu sein.

Ihm war, als die Anschläge des 11. September bekannt wurden, sofort klar, dass dies Auswirkungen auf Afghanistan haben wür­de – weil die amerikanischen Behörden sich schon seit mehre­ren Jahren bemühten, Osama bin Ladens, der als Gast der af­ghanischen Regierung im Land weilte, habhaft zu werden. Saif betrachtete folgerichtig die Aggression der Amerikaner als will­kommenen Vorwand, sich das zu nehmen, was sie auf diploma­tischem Weg nicht bekommen konnten.5

Wie wir heute wissen, ist dieses Ziel verfehlt worden – um den Preis zweier Bürgerkriege und Zehntausender unschuldiger To­desopfer, deren Zahl von Tag zu Tag weiter steigt. Niemand weiß bis jetzt, ob Osama bin Laden für die Terroranschläge ur­sächlich verantwortlich war oder wo er sich heute aufhält.6

Unter dem Vorwand, ihn in Sicherheit zu bringen, lieferten die pakistanischen Behörden Saif an die amerikanischen Militärs aus, die ihn, ohne jeden plausiblen Grund anzugeben, über ihre Militärstützpunkte und Lager in Afghanistan nach Kuba depor­tierten. Hier bestand nach Saifs Worten, die die vorherigen Be­richte in vielen Punkten bestätigen, ihre einzige Beschäftigungs­möglichkeit darin, im Koran zu lesen und ansonsten fast den ge­samten Tag in ihren Gitterkäfigen in Containern zu hocken, 48 Mann in einer Baracke, ohne jedwede Privatsphäre. Die Zustän­de führten letztlich bei vielen zu nervlichen Zusammenbrüchen, Hungerstreiks, Selbstmordversuchen und Selbstverstümmelun­gen.

Das vermutlich Schlimmste, von dem Saif zum Schluss berich­tet, sind die dauernden Spätschäden: „Alles, was ich wusste, habe ich vergessen. Ich bin nicht sicher, ob ich das, worauf ich mich einmal verstand, wieder praktizieren könnte oder nicht. Ich konnte zum Beispiel am Computer arbeiten. Jetzt kann ich nicht mal tippen … Alles habe ich aus dem Gedächtnis verloren, muss alles wieder neu lernen. Alles ist so.

In diesen vier Jahren [im Lager Guantánamo, UL] habe ich we­der ein Buch gesehen noch einen Stift in der Hand gehabt, noch mich fortgebildet, noch etwas gehört oder gelesen. Von allem war ich abgeschnitten, mein Kopf und mein Gedächtnis funktio­nieren schlecht, weil ich während dieser Zeit keine Beschäfti­gung hatte außer dem Nachdenken. Natürlich, wenn jemand den ganzen Tag und das ganze Jahr über sein ganzes Leben nachdenkt, wird er verrückt …“

Dies ist etwas, das sich offenkundig vollkommen dem Begreifen durch die Rezensenten entzogen hat. Niemand konnte sich in diese Lage auch nur annähernd hineinversetzen. In einer fast schon tragikomischen Anmerkung zum Schluss meint Saif, ei­nen Kommentar seiner amerikanischen Bewacher wiederge­bend: „Ja, die Amerikaner fragten mich auch: ‚Wie kommt es, dass du nicht verrückt wirst? Wenn wir hier nur einen Monat verbringen würden, würden wir verrückt werden.‘ Das haben sie wirklich gesagt.“

Über Guantánamo ist alles gesagt. Tatsächlich? Nach diesem Buch gewinnt man leider einen gänzlich anderen Eindruck …

Über Guantánamo ist alles gesagt. Bis auf das, was die Häftlin­ge zu sagen hätten“, wiederholt Roger Willemsen absichtlich mehrmals.

Fürwahr.

Und deshalb lohnt es sich, dieses Buch zu lesen. Um zu begrei­fen, auf welch verheerenden, steil bergab führenden Pfad der nachlassenden Moral sich die amerikanische Regierung und da­mit leider auch weite Teile der dortigen (indoktrinierten) Gesell­schaft begeben haben. Es ist ein Pfad in die gesellschaftliche Selbstzerstörung der amerikanischen Demokratie.

Es wird ein böses Erwachen für die amerikanische Nation ge­ben, steht zu fürchten. Und zwar, nachdem sie einen Sumpf aus Blut durchquert hat, den sie selbst mit dem Lebenssaft unschul­diger Opfer gefüllt und mit Lügen erhitzt hat.

Die eigentlichen Terroristen, muss man wohl konstatieren, sit­zen im Weißen Haus, und sie opfern ihre eigene Nation aus selbstsüchtigen Interessen. Wirtschaftliche Interessen, Befriedi­gung persönlicher rassistischer Wahnvorstellungen, religiöser Dünkel, was auch immer. Was kann man von einem Präsidenten schon erwarten, der seine Regierung auf Lügen baut, sich ins Regierungsamt schleicht, sogar zweimal hintereinander?

Doch wie Lügen nur Lügen gebären, so kann man einmal ge­machte Fehler nicht dadurch wieder abwaschen, dass man die Opfer dieser Fehler zu Foltergeständnissen zwingt oder alle Op­fer mundtot zu machen sucht.

Das Lager Guantánamo ist ein Fehler der Menschlichkeit, und man kann Roger Willemsen nur beipflichten in seinem Fazit: Das Lager gehört aufgelöst, die Insassen freigelassen oder wenigs­tens vor ein faires, unvoreingenommenes Gericht gestellt, die unschuldigen Opfer müssen entschädigt und die Verantwortli­chen dieser Folter, Misshandlungen und widerrechtlichen Inhaf­tierung ohne Beachtung der Menschenrechte, diese Verantwort­lichen gehören vor Gericht und bestraft.

Und wenn es Präsidenten sind.

Unrecht bleibt Unrecht.

© 2007 by Uwe Lammers

Es erübrigt sich die Feststellung, dass Bush natürlich nie vor Ge­richt gestellt wurde wegen der Lügen oder der völkerrechtswid­rigen Behandlung von Unschuldigen in Guantánamo. Bis heute tun sich amerikanische Abgeordnete ja schwer damit, Präsiden­ten für ihre Vergehen zur Rechenschaft zu ziehen – man denke nur an das jüngste Beispiel des Präsidenten Trump.

Im nächsten Rezensions-Blog wird es weniger wortreich und mehr seichter. Da stelle ich mit Meredith Wild eine weitere Ro­manautorin aus dem Erotik-Segment vor.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

(BS, 4. September 2021)

1 Folgt man dem Journalisten Michael Moore, so ist diese Bezeichnung in sich hanebü­chener Unfug. Er sagt sinngemäß und zutreffend, Krieg könne man nur gegen Natio­nen führen. „Terrorismus“ ist aber keine Nation. Solche diffusen Konflikte haben die in­härente Neigung dazu, permanent zu werden und den Keim des unabweislichen Schei­terns in sich zu tragen. Was wir seit Frühjahr 2002 weltweit erleben, bestätigt diese Sicht der Dinge leider. Genaueres nachlesen kann man in Michael Moores Buch „Volle Deckung, Mr. Bush“, Piper 4250, München 2003.

2 Von Oliver Stone werden diese zivilen Opfer in seinem Gedenkfilm „World Trade Center“ als „Gefallene“ bezeichnet, also mit einem militärischen Terminus in die ame­rikanischen Streitkräfte eingemeindet, ob sie nun puertoricanischer Hausmeister oder eine arglose Stenotypistin in einem der Büros gewesen sein mögen. Manche finden das beeindruckend, andere – dazu zähle ich – eher abgeschmackt.

3 Nach der Lektüre fragt sich der Leser, wie viele Gefängnisse solcher Natur der zitierte Rezensent wohl persönlich kennengelernt hat. Keines, ist anzunehmen!

4 Fettgezeichnete Hervorhebungen UL. Diese Worte zeigen dramatisch deutlich, wie ich finde, wie wesentlich es ist, sich durchaus für das zu interessieren, was in der Welt vorgeht. Man weiß nie, ob es nicht irgendwelche Rückwirkungen auf das eigene Leben haben kann – und zwar eventuell durchaus desaströse.

5 Vgl. insbesondere im Buch die Seiten 205-208, wo Saif dazu präzise Stellung bezieht.

6 Nachtrag von 2021: Das ist inzwischen natürlich veraltet. Osama bin Laden wurde ausfindig gemacht und durch amerikanische Antiterrorspezialisten gezielt getötet. So­weit ich weiß, ist aber die ursächliche Verantwortung Osama bin Ladens für die An­schläge des 11. September 2001 immer noch unbestätigt. Aber es ist natürlich be­quem, Hintermänner zu suchen, da sämtliche ausführenden Attentäter bei den An­schlägen umkamen und zu selbigen keine Auskunft mehr geben können.

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