Liebe Freunde des OSM,
Zeitreiseromane sind ein altes Steckenpferd von mir … wer die Rezensions-Blogs verfolgt hat, insbesondere die Aufstellung in der Nummer 300, der weiß das ganz genau. Dennoch ist dieses Werk, das ich im Abstand von rund 15 Jahren zweimal las – einmal in der alten Heyne- und nun in der Bastei-Ausgabe – , all die Jahre durch das Blickraster meiner Wahrnehmung gerutscht und kommt erst jetzt auf die Tagesordnung.
Dass ich anno 2006 zur Zweitlektüre griff, lag schlicht daran, dass ein zweiter Teil dieses Romans sich überraschend anschloss und ich, um wieder im Handlungsstrom zu sein, den ersten Band notwendig noch einmal lesen musste. Das geht mir sonst bei mehrteiligen Filmen und Serien so. Auch hier erwies es sich als äußerst nützlich, mich mit der Geschichte um Simon Morley wieder vertraut zu machen, der gewissermaßen die Schlaufen des Zeitstroms durchbricht und „zur letzten Flussbiegung“ zurückgeht, d.h. eine Zeitreise unternimmt.
Zwar wird hier nur indirekt die fernöstliche Vorstellung vertreten, derzufolge unser modernes Konzept der linearen Zeit sehr eingeschränkt sein soll – in Wahrheit, so habe ich mal gehört, heißt es in fernöstlichen Vorstellungen, dass alles zugleich geschieht und so etwas wie Zeitreisen darum prinzipiell überhaupt kein Problem darstellte … indes hindere uns das „Verhaftetsein“ im Hier und Jetzt mehrheitlich massiv daran, eine solche Reise auch zu unternehmen. Wie ihr sehen werdet, wenn ihr den Roman selbst zur Hand nehmt, ist Simon Morleys Form der Zeitreise hiervon nicht sehr weit entfernt.
Herausgekommen ist eine äußerst charmante, lesenswerte und zutiefst romantische Geschichte, die zugleich eine Liebesgeschichte ist, ein kriminalistischer Abenteuerroman und auch eine Liebeserklärung an das alte New York des ausklingenden 19. Jahrhunderts.
Lest einfach weiter und lasst euch vom Zauber der Geschichte einfangen – das lohnt sich wirklich!
Von Zeit zu Zeit
(OT: Time and Again)
von Jack Finney
Bastei 14840, Januar 2003
560 Seiten, 8.90 Euro
Neu übersetzt von Karl-Heinz Ebnet
ISBN 3-404-14840-1
Die Vergangenheit ist eine graue, triste und vergessene Welt, die wir heute nur noch aus Postkarten, Fotografien, Reportagen und mürben Zeitungen kennen, vielleicht noch aus frühen Filmen. Doch für das New York des Jahres 1882 gelten viele dieser neumodischen Dinge noch nicht – es gibt kaum etwas, das den Namen Film verdient, Kinos sind unbekannt, Zeitungen werden noch mit Kupferstichen illustriert, da die Montage von Fotos in den Drucksatz nicht realisierbar ist.
Wie anders als über die Zeugnisse dieser Zeit soll man verstehen lernen, was damals geschah? Dies ist die Domäne der Historiker, jener Menschen, die imstande sind, die Vergangenheit zu neuem Leben zu wecken. Doch was geschähe, wenn wir uns täuschten? Wenn die Vergangenheit eben NICHT vergessen, vergangen und ein für alle Mal verstrichen wäre, sondern man sie wieder erreichen könnte, gleichsam mit einem einzigen Schritt? Würde dies nicht die Welt schlechthin verändern?
Dies ist Science Fiction, etwas Unglaubhaftes, und so empfindet es auch der 28jährige Zeichner Simon Morley im New York des Jahres 1970, als Rube Prien vom Stab des „Projekts Vergangenheit“ auf ihn zutritt und ihm erklärt, unter den zahllosen Millionen Menschen, die das Projekt inzwischen auf bestimmte Fähigkeiten und Reaktionsweisen hin gesiebt habe (naheliegenderweise anhand der Army-Akten), gelte gerade er als einer der hoffnungsvollen Aspiranten.
Es dauert eine Weile, bis sich Simon dazu durchringen kann, seinen unbefriedigenden Zeichnerjob mit einer sehr vagen und geradezu aberwitzigen Projektidentität einzutauschen. In einem heruntergekommen wirkenden Lagerhaus in New York ist der Sitz des Projekts, dem der alte Dr. Danziger vorsteht. Er erklärt Simon mit schlichten Worten, warum er denkt, dass es ein Erfolg werden könnte.
Natürlich geht alles auf Einstein zurück. Einstein, der durch Formeln bewies, dass Licht Masse besitzt – nachgewiesen durch die Beobachtung einer Sonnenfinsternis. Einstein, der bewies, dass die Atomspaltung ungeahnte Kräfte freizusetzen imstande war – schaurig nachgewiesen in Hiroshima. Und Einstein sagte auch dies: die Menschheit mache sich eine völlig falsche Vorstellung von der Zeit. Die Vergangenheit sei für den Betrachter passé, die Zukunft noch nicht geschehen, folglich sei ersteres nur von geringer Bedeutung, letzteres bedeutungslos. Das sei falsch. Einstein sehe, sagt Danziger, die Zeit als einen windungsreichen Strom an, und wenn es dem Reisenden auf dem Strom gelänge, das Ufer zu erreichen und zur letzten Flussbiegung zurückzugehen, dann befände er sich in der Vergangenheit, könne sie beobachten und dort agieren.
Simon Morley ist skeptisch, natürlich. Doch er ist ein begeisterter Fan des alten New York, und durch seine Freundin Kate hat er einen guten Grund, das für ihn anvisierte Ziel des Projekts zu verändern. Er möchte nicht im Jahre 1901 in San Francisco herauskommen, sondern im New York des Jahres 1882.
In diesem Jahr nämlich wurde im Haus von Kates späterem Adoptivgroßvater (nicht Vater, wie der Klappentext beharrlich behauptet) Andrew Carmody ein blauer Briefumschlag abgegeben, der offensichtlich zu seinem späteren Selbstmord führte. Der Brief hat sich in Kates Ahnenpapieren erhalten, und er wurde durch Feuer versengt, wodurch ein Teil des Textes verschwunden ist. Noch seltsamer aber, sagt Kate, ist die Tatsache, dass Carmodys Frau ihren toten Mann persönlich wusch und einkleidete – und ihm anschließend einen bizarren Grabstein ohne Text setzte, nur mit einem obskuren neunzackigen Stern innerhalb eines Kreises.
Was also, fragen sich Simon und Kate, mag hinter all diesen seltsamen Dingen stecken? Wenn, so fährt er vor dem Ausschuss des Projekts fort, eine Reise in die Vergangenheit überhaupt möglich sei, würde er gerne dieses Rätsel erforschen.
Nun, es ist möglich, und eines Tages befindet sich Simon Morley auf einmal im winterlich verschneiten New York des Jahres 1882 und erlebt, wie Rube Prien es sagte, buchstäblich das Abenteuer seines Lebens. Doch er ahnt nicht einmal entfernt, dass er dabei nicht nur die Aufklärung des späteren Selbstmordes von Andrew Carmody erhält, sondern die Frau seines Herzens findet und dadurch in höchste Lebensgefahr gerät …
Der im Jahre 1970 publizierte Roman des 1911 geborenen amerikanischen Schriftstellers Jack Finney wurde bereits im Jahre 1981 von Thomas Schlück übersetzt und bei Heyne unter der Nummer 3800 in der Science Fiction-Reihe publiziert. Damals trug er den, wie ich finde, weitaus treffenderen Titel „Das andere Ufer der Zeit“, was erheblich besser den Kern des Themas traf als der doch recht nichtssagende neue Titel. Zwar ist die neue Übersetzung unbestreitbar geschmeidiger als die alte, und man erfährt hier im Klappentext einiges über den Autor, was in der alten Übersetzung fehlt … doch sonst bleibt die Neufassung bedauerlich hinter dem „Original“ zurück. Dort wie hier gibt es Illustrationen und zeitgenössische Fotos, die Simon Morley/Jack Finney auf kluge und liebenswerte Weise in den Text einbaut. Doch wer beide Ausgaben vorliegen hat, erkennt schnell die Nachteile der neuen Version:
Die Fotos im vorliegenden Band sind viel finsterer gehalten als die in der Erstausgabe, zweifellos eine Frage der Reproduktion, vermutlich wurden einfach die Fotos aus der Heyne-Ausgabe herauskopiert und wieder eingebaut, was natürlich einen Verlust an Bildqualität mit sich brachte. Zudem sind manche Fotos gerahmt worden, wodurch weitere Stücke der Fotos und Zeichnungen verloren gingen. Einige sind sogar seitenverkehrt reproduziert worden. Auch das spricht nicht unbedingt für sorgfältige Arbeit. Dabei ist indes das Lektorat besser als damals bei Heyne.
Alles in allem ist dies ein Roman, der ungeachtet all dieser kleinen Mankos den Kauf wirklich sehr lohnt. Wie es auf dem Heyne-Band damals der Werbetext der New York Times treffend sagte: „Gehen Sie zurück in diese wunderbare Welt und verbringen Sie – während Sie das tun – eine wunderbare Zeit!“ Das passt ausgezeichnet, wiewohl man bei Klappentexten immer skeptisch sein sollte.
Ich würde das Werk dennoch nicht als „Kriminalroman“ bezeichnen und auch nicht in eine Reihe mit „Die Einkreisung“ von Caleb Carr stellen, wiewohl es auf der Neupublikation gemacht wird. Stattdessen handelt es sich mehr um einen klassischen SF-Roman mit starkem Fantasy-Einschlag (durch die Art und Weise der Zeitreise) und zudem um eine sehr romantische Huldigung an das alte New York, das durchsetzt ist mit einer sanften, schönen Liebesgeschichte, die, dem Stil der damaligen Zeit sehr entsprechend, äußerst dezent ist.
Natürlich ist eine Krimihandlung da, und im letzten Viertel des Buches geht es dann auch äußerst dramatisch zur Sache. Vorher jedoch kann man einfach nur die Mysterien und die kleinen und seltsamen Alltäglichkeiten des New York von 1882 genießen. Man muss, so glaube ich, nicht Historiker sein, um das tun zu können, obwohl es sicherlich hilft, eine historische Ader zu besitzen.
Dies ist ein Buch für Romantiker, und es ist, auch nach zweimaligem Lesen innerhalb von 20 Jahren, eines der besten, das ich kenne. Das sollte Inspiration und Ansporn genug sein …
© 2006 by Uwe Lammers
Wie gesagt, der Roman – und die Rezension strahlt das meiner Ansicht nach recht deutlich aus – aktiviert die romantischen Gefühle im Leser auf schwer zu beschreibende Art und Weise … aber auf eine schöne, wie ich finde.
In dem Leseabenteuer der kommenden Woche bespreche ich mal der Kürze wegen zwei Romane in einer Rezension, und wie üblich wechselt das Genre. Diesmal geht es um einen erotischen Club … Näheres dann in sieben Tagen an dieser Stelle.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.