Liebe Freunde des OSM,
manchmal verirre ich mich im Lesestoff auch zu nicht-phantastischen Stoffen (wie, ihr meint, das geschähe gar nicht so selten? Etwa, wenn mehrheitlich erotische Themen oder Krimis besprochen werden? Okay, ich rudere zurück und weite die Formulierung aus). Also, öfters bespreche ich auch nicht-phantastische Themen. Eins davon ist dieses kleine Werk des Schweizers Friedrich Dürrenmatt, was ich in der Schule kennenlernte und damals schon bizarr fand. Bei der ruhigen – und notgedrungen sehr kurzen – Neulektüre fand ich es noch interessanter.
Die Rezension ist selbst schon fast antik und über 15 Jahre alt, weswegen sie auch ein paar notwendiger bibliografischer Details entbehrt, die ich damals noch nicht im Blick hatte. Aber ich fürchte, das zentrale Thema des kleinen Dramas, das er aufführt, ist nach wie vor akut und vielleicht auch von gewissermaßen zeitloser Bedeutung: Gibt es Wissen aus der Forschung, das so brisant ist, dass der Fortschrittserfolg, der damit erzielt werden könnte, den Schaden, der daraus andererseits erwüchse, nicht aufzuwiegen imstande wäre? Und ist es mithin notwendig, um die Menschheit zu schützen, manchmal neue Erkenntnisse wirkungsvoll und dauerhaft zu verschütten?
Man lese die folgenden Zeilen mal unter dieser Prämisse, dann kann es einen aufmerksamen Zeitgenossen auch heutzutage in Pandemiezeiten noch gruseln. Und dazu muss man fürwahr kein Querdenker oder Verschwörungstheoretiker sein …
Die Physiker
von Friedrich Dürrenmatt
detebe 20837
Neufassung 1980 (O: 1962)
Zürich 1985
96 Seiten, TB
Wir befinden uns in einer Privatklinik in der Schweiz, direkt an einem See. Im Privatsanatorium der Frau Dr. Mathilde von Zahnd werden drei „Gäste“ dauerhaft betreut, drei Physiker, die, unter Wahnvorstellungen leidend, sich für berühmte Physiker der Vergangenheit halten bzw. sonst wie gestört sind. Das ist solange unproblematisch, wie nichts geschieht.
Leider aber hat schon Herbert Georg Beutler, genannt „Newton“, eine Pflegeschwester ermordet. Und nun hat Ernst Heinrich Ernesti, genannt „Einstein“, es ihm nun gleich getan. Kriminalinspektor Richard Voß, der mit seinem Ermittlungstrupp anrückt, um den Tatort zu sichern und den Täter zu befragen, kann letzteres nicht tun, stattdessen redet er mit der Oberschwester Marta Boll und der Irrenärztin Mathilde von Zahnd, die selbst nicht so ganz klar im Kopf zu sein scheint – und schließlich mit „Newton“, der ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut, ER sei „Einstein“, während Ernesti, der sich einbilde, Einstein zu sein, natürlich nur Ernesti sei …
Doch in Wahrheit, das kristallisiert sich schnell heraus, geht es im Wesentlichen um den dritten Physiker, Johann Wilhelm Möbius, der behauptet, ihm erscheine stets der König Salomo und diktiere ihm die Geheimnisse der Welt. Im Laufe des ersten Aktes spitzen sich die Ereignisse unvermeidlich dramatisch zu, um im zweiten, abschließenden Akt dann zwei grundlegende, desillusionierende Wenden zu erhalten …
Eine Komödie in zwei Akten nennt Dürrenmatt dieses Werk. Nun denn, in gewisser Weise hat er nicht Unrecht damit. Mit der absurden Verschachtelung der Personen ineinander, dem Tarnen und Täuschen, das hier konstitutiv zu fast allen Teilnehmern gehört, was tatsächlich bisweilen komödiantische, rollenwechselnde Züge trägt, führt er aber zugleich politische Überzeugungen ad absurdum und erteilt den Lesern so ein Lehrstück in angewandter Moral.
Zwar enthält diese Geschichte nahezu keine phantastischen Versatzstücke, aber die hierin verborgenen Erkenntnisse über den Missbrauch der Wissenschaften im Dienste der Ideologien herrschender Mächte sind, leider, muss man sagen, nahezu zeitlos. Die Kernfrage des Stückes ist halt die: Ist die Wissenschaft, hier die Kernphysik, nur dazu da, der Welt Wissen zu bescheren, oder muss es manchmal auch Zweck des Fortschritts der Erkenntnis sein, solches Wissen der Welt zu ihrem eigenen Besten vorzuenthalten?
Diese Frage macht es einfach notwendig, auf dieses schnell lesbare Stück von Dürrenmatt hinzuweisen. Bei aller gebotenen Knappheit des Stils enthält es doch das Wesentliche und zeigt wieder einmal die Brillanz des verstorbenen Autors, dessen Werk eine Entdeckung durch den Leser durchweg lohnt.
© 2006 by Uwe Lammers
Ein kurzes Vergnügen? Wahrhaftig, das galt sowohl für den Text selbst als auch für die Rezension. Doch seid beruhigt – in der kommenden Woche bin ich deutlich wortreicher. Das liegt am Topos: Zeitreisen!
Mehr dazu in sieben Tagen an dieser Stelle.
Bis dann, Freunde, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.