Rezensions-Blog 340: Tod im Lesesaal

Posted Februar 22nd, 2022 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

viele Zeitgenossen des Alltags pflegen in die Ferne zu schwei­fen, wenn sie Abenteuer und Aufregung suchen, zumeist in Ur­laubslocations exotischer Natur … gut, heutzutage in Corona-Zeiten fällt das schwer, aber davor und, so Gott will, auch da­nach, wird das sicher wieder Usus sein. Dabei ist es doch auch in diesem Fall so wie oft: das Gute oder in diesem Fall das Schreckliche liegt bisweilen überraschend nah.

So verhält es sich auch mit diesem heute vermutlich nahezu un­bekannten kleinen Bändchen, das auch nur durch einen un­wahrscheinlichen Zufall in meinen Besitz kam (siehe unten). Der Roman, der sich sehr an lokale Realitäten anlehnt, spielt im klei­nen, beschaulichen Wolfenbüttel, das im Zweiten Weltkrieg so stiefmütterlich behandelt und vom Bombenterror verschont blieb, dass gerade mal am Ortsrand ein paar verirrte Granaten einschlugen.

Auch die Herzog August Bibliothek, der Hauptschauplatz des Geschehens, erscheint eher bieder und schlicht, dem klassi­schen Topos entsprechend, dass Bibliotheken in ihrer Funktiona­lität unscheinbare Institutionen sind und meist nur dann in den Blick geraten, wenn sie katastrophisch entgleisen (man denke da nur an den Brand der Anna Amalia Bibliothek in Weimar vor vielen Jahren).1

Aber wie ich schon vor über sechzehn Jahren in der Rezension schrieb: „Der Tod kennt kein Tabu“, und so findet man denn sei­tens der Kriminalisten unvermittelt eine Leiche im Lesesaal, und erschossen worden ist das Opfer auch noch.

Und dann geht die Story los:

Tod im Lesesaal

von Rolf Buchholz

Eigenverlag

Braunschweig 1991

148 Seiten, TB

Mit Illustrationen von Ulli Kleinfeld

Der Tod kennt kein Tabu. Er schleicht sich überall ein, selbst in die ehrwürdigen Mauern der Herzog August Bibliothek (HAB) in Wolfenbüttel, und ehe man sich versieht, sitzt ein Toter im Lese­saal.

Die Kriminalkommissare Winckelmann und Keller, beide mit dem Leben auf Kriegsfuß stehend, beginnen am 23. April 1990 mit ihren Recherchen. Während Winckelmann von seiner Le­bensgefährtin verlassen wird und sich mit Darmproblemen her­umschlägt, sucht Keller sein Beziehungsglück in der HAB. Beide stellen bald fest, dass sie mit dem Mordfall ebenso zu kämpfen haben und letztlich einem kniffligen Rätsel auf der Spur sind:

Der Tote heißt O’Connor, Denis O’Connor. Er ist Brite, Archivar der Stadt Southampton und eigentlich Shakespeare-Forscher. Er wird in der Bibliothek erschossen, während er ein Manuskript von Johann Joachim Eschenburg2 studiert. Es gibt weder ein Ein­schussloch in den Fensterscheiben der Bibliothek noch ein er­kennbares Motiv, den 50jährigen Briten ausgerechnet an sei­nem Geburtstag zu ermorden.

Aber es ist einwandfrei Mord: ein abgebrochener Streichholz in der Sicherheitstür des Lesesaals beweist, dass der Täter sich in der Bibliothek sehr gut auskannte. Damit ist der Verdacht für Winckelmann naheliegend – der Mörder ist jemand aus der Bi­bliothek selbst oder jemand, der oft hier war. Und jemand, der O’Connor gut gekannt haben muss. So gut, dass er Grund für den Mord hatte.

Doch was genau ist das Motiv? Wer mag der Täter sein?

Die Bibliothekarin Grävemeyer, die am Morgen Aufsicht hat (und nichts mitbekommen haben will), ist verdächtig, da sie viel von O’Connors literarischen Fähigkeiten gehalten hat und sich ihm auch erotisch annähern wollte. Hat er sie zurückgewiesen und sie ihn deshalb getötet?

Was ist mit der zweiten Frau in O’Connors Leben, der Frau Ja­gner? Sie ist schwer erschüttert über seinen Tod, doch ist das vielleicht geschauspielert? Und nun scheint sie ihr Herz für den eigentlich eher unattraktiven Kommissar entdeckt zu haben.

Oder wie ist es mit dem EDV-Spezialisten Birnbaum, der vor­gibt, O’Connor nicht gekannt zu haben, aber später einräumen muss, dass er mit ihm einen Streit gehabt hat, in dessen Verlauf das ganze Haus via Lautstärke davon erfuhr?

Wie steht es mit dem Bibliotheksdirektor Howald? Oder mit dem undurchsichtigen Schröder, dessen Buchanforderung an­geblich die Grävemeyer aus dem Lesesaal fortrief, so dass der Mord möglich wurde? Und dann ist da noch die Frau an der In­formation, die mit Begeisterung Agatha Christie („Der Tote in der Bibliothek“!) liest und auf die Frage danach, ob sie den Mör­der schon kenne, deutlich verstört reagiert?

Und dann ist da diese Auskunft aus Southampton, die O’Con­nors Background aufhellt – seine Herkunft aus armen Verhältnis­sen, seine Probleme mit den staatlichen Organen, vielleicht sei­ne Nähe zu sozialistischen Idealen. Ist der Mord eine politisch motivierte Tat gewesen? Das raffinierte Werk eines Auftragskil­lers?

Je tiefer Winckelmann und sein Dressman Keller (der deshalb dennoch nicht viel mehr Erfolg bei Frauen hat) in die ihnen denkbar fremde Materie des 18. Jahrhunderts eindringen, um ein Motiv zu finden, desto verwirrender wird die Sachlage – auf einmal geht es um Multitalente, Verleger und wortgewaltige Briefkorrespondenten, es geht um Moses Mendelssohn und Les­sing und, ja, um Eschenburg und das Eschenburg-Projekt.

Verschollene Originalbriefe, gefälschte Abschriften, ein geheim­nisvolles Manuskript, das eine Verbindung mit Shakespeare her­stellt, legt plötzlich nahe, dass das Motiv vielleicht doch im rein wissenschaftlichen Sektor zu suchen ist statt im Feld der zwi­schenmenschlichen Beziehungen. Nur: wie beweist man einem eiskalten Mörder, dass er ein Verbrecher ist, wenn alle Beweis­stücke vernichtet worden sind …? Wie überführt man ihn? Die Lösung des Falles steht auf der Kippe.

Es ist schon mitunter erstaunlich, auf welche verblüffenden Din­ge man durch schieren Zufall stößt. So war es meine Chefin, Frau Professor Dr. Eva Engel-Holland3, die mir dieses Buch zu­gänglich machte, und der Grund war alles andere als nahelie­gend:

Der Verfasser Rolf Buchholz war vor vielen Jahren Mitarbeiter am Moses-Mendelssohn-Projekt und kannte von daher die Ört­lichkeiten in Wolfenbüttel wirklich bestens. Er schenkte diesen Romanerstling seiner damaligen Chefin 1991, und sie grub ihn aus, weil sie meine Neugierde für verschiedenste Arten von Ro­manen kannte. In Anbetracht der Kenntnis, die Buchholz über die Literatur des 18. Jahrhunderts an den Tag legt – auch der Name des Kriminalkommissars Winckelmann ist natürlich eine Anspielung auf den Winckelmann des 18. Jahrhunderts, ebenso mag Keller eine ähnliche Anspielung sein – ist es beeindru­ckend, wie geradlinig und doch lange Zeit undurchsichtig er sei­nen Stoff darbietet und verschiedenste Verdachtsmomente auf­baut.

Wären nicht zwischen einst und heute fast 15 Jahre vergangen und zahlreiche Personen nicht mehr in der HAB angestellt, so könnte man sich neugierig auf die Suche nach den „Vorbildern“ machen. Eine ist sofort evident, wenn man ein bisschen genau­er schaut: die „kleine, weißhaarige Frau mit der flüsternden Stimme“ ist eindeutig Frau Professor Dr. Engel selbst, auch wenn sie hier „Frau Löwe“ genannt wird. Der kenntnisreiche Le­ser schmunzelt.

Man mag am Ende ein wenig enttäuscht davon sein, dass der spannendste Handlungsstrang – der nämlich einer komplexen Intrige innerhalb der HAB – nicht umgesetzt wird, richtig ent­täuscht wird der Leser durch die Lösung aber nicht. Einzig är­gerlich sind die ausgesprochen vielen Schreibfehler im Manu­skript (ein Schnitt von drei Fehlern je Manuskriptseite ist nor­mal). Hier wäre Herrn Buchholz ein gründliches Lektorat hilf­reich gewesen. Die (möglicherweise fiktiven) Kommentare im „Off“, die von der „Sunday Times“, dem „Spectator“ und dem „Daily Mirror“ stammen, können darüber nicht hinwegtäuschen.

Alles in allem sonst jedoch ein faszinierendes Buch, dem man insbesondere in der Region mehr Leser wünschen würde. Heut­zutage ist es fraglos nur noch antiquarisch zu erhalten.

© 2005 by Uwe Lammers

Wie gesagt, das war eine vergnügliche Erfahrung, den Ort, an dem ich gerade selbst wissenschaftlicher Mitarbeiter war, als Schauplatz eines Romans zu entdecken, den ich eben las … das passiert wirklich nicht allzu häufig. Hat einiges Vergnügen berei­tet, soviel steht fest.

In der nächsten Woche reisen wir dagegen wieder in die Verei­nigten Staaten und kümmern uns weiter um Gideon Cross und seine Geliebte …

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

1 Vgl. dazu Uwe Jochum: Vernichten durch Verwalten. Der bibliothekarische Umgang mit Büchern, in: Mona Körte und Cornelia Ortlieb (Hg.): Verbergen. Überschreiben. Zerrei­ßen, Berlin 2007, S. 106-119.

2 Lehrer am Braunschweiger Collegium Carolinum (1743 – 1820), der Vorgängereinrich­tung der Herzoglichen Technischen Hochschule.

3 Anmerkung von 2021: Sie war damals schon sehr betagt und ist inzwischen seit eini­gen Jahren verstorben.

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