Liebe Freunde des OSM,
es gibt Autoren, deren Werke ich immer wieder gern lese, und manchmal muss man sie dann leider portionieren, entweder, weil sie grundsätzlich nur wenig geschrieben haben und man sie dann wie edle Kostbarkeiten rationieren sollte, um das Vergnügen nicht gar zu schnell zu beenden … oder aber sie weilen nicht mehr unter uns, und damit ist dann ihr Textkorpus final begrenzt. Manches Mal ist auch beides der Fall.
Als ich vor über zehn Jahren diese Rezension verfasste, weilte Ray Bradbury noch unter den Lebenden, sodass Hoffnung auf „Nachschub“ bestand. Heute müssen wir uns von dieser Erwartung verabschieden, allenfalls können aus seinem Nachlass noch Geschichten zutage treten, wie das beispielsweise viele Jahre lang im Fall J. R. R. Tolkien passierte.
Doch verlassen wir diesen eher melancholisch stimmenden Gedanken und kommen zum vorliegenden Buch, das vergnüglicherweise auch die Melancholie, also die Schwermütigkeit, im Titel trägt. Ich fand es damals schwierig, eine Auswahl der Geschichten zu treffen, zu denen es zweckmäßig war, etwas zu sagen. Am Ende entschied ich mich für sieben von 22 – was nicht bedeutet, dass die anderen schlecht oder nicht erwähnenswert wären, aber ich wollte die Rezension nicht über Gebühr aufblähen, dies zum einen, und zum anderen soll es ja auch für jemanden, der das Buch nicht kennt, noch ein paar schöne Überraschungen geben.
Natürlich sind die Geschichten durch die Bank schon sehr alt und, wie etwa schon am Beispiel der „Mars-Chroniken“ gezeigt, astrophysikalisch in vielfacher Hinsicht angestaubt. Ihrem stilistischen Reiz tut das aber nur wenig Abbruch. Wenn man sich auf das literarische Abenteuer Ray Bradbury einlässt, haben diese Kurzgeschichten nach wie vor ihren Reiz, von den Thematiken manchmal ganz zu schweigen.
Drum zögere ich nicht, wiederholt zu konstatieren, dass Bradbury und seine Werke eine Entdeckung wert sind, ungeachtet ihres Alters.
Nicht überzeugt? Dann schaut mal weiter:
Medizin für Melancholie
(OT: A Medicine for Melancholy)
von Ray Bradbury
Heyne 3267
München 1980 (4. Auflage)
192 Seiten, TB (antiquarisch)
Übersetzt von Margarete Bormann
Manche Werke werden nicht alt, sie reifen vielmehr wie gut gekelterter und sorgsam gelagerter Wein, der Jahrhunderte überdauern kann, und sie tun dies aufgrund ihrer inneren Qualitäten, die sie zeitlos machen. Und es gibt Autoren, die sich allein durch ihre Resistenz gegenüber dem Zeitgeist behaupten, den Widerstand gegen den Druck des Mainstreams, der fast alle Autoren nivelliert und die Zeitlosigkeit ihres Werks aufweicht und zersetzt wie ein resistenter Mikroorganismus. Solche Autoren und Werke zu entdecken, ist für jeden Rezensenten mit einem Minimum an Stilgefühl eine köstliche Offenbarung.
Ray Bradbury ist ein solcher Autor.
„Medizin für Melancholie“ ist ein derartiges Werk, das ich – in gewissem Sinne wenigstens – zeitlos nennen möchte, ein vergessenes Kleinod, dem auch dreißig Jahre vergangener Zeit seit der Übersetzung nichts anzuhaben vermochten. Und schon damals datierten die ältesten Geschichten dieser Anthologie zurück ins Jahr 1948 (!), so dass sie bis heute mehr als ein Menschenalter auf dem Buckel haben. Braucht es noch mehr Beweise für ihre Zeitlosigkeit? Wohlan, dann folgt mir in das Abenteuer dieses Buches, das 22 hinreißende, höchst unterschiedliche Geschichten beinhaltet. Schauen wir uns ein paar genauer an.
„Zur warmen Jahreszeit“ beleuchtet einen Nachmittag der Touristen George und Alice Smith, die in Biarritz die Zeit am Strand verbringen. George ist nicht ganz bei der Sache – er ist kunstvernarrt und muss immerzu an Picasso denken, an seine Gemälde, die (damals) wenigstens 5000 Dollar kosteten. Er sehnt sich so sehr danach, und dann, als der Strand sich schon leert, macht er auf einmal eine unglaubliche Entdeckung von bittersüßer Faszination, die ihn Demut lehrt …
„Der Drache“ versetzt uns ins Jahr 900 auf ein verlassenes, kaltes Moor. Zwei Ritter, von denen der eine zutiefst fatalistisch ist und sich keinerlei Chancen ausrechnet, warten darauf, eine Heldentat zu vollbringen – einen mörderischen Drachen zu erlegen, der das Land verwüstet und bislang noch jeden Recken ins Jenseits beförderte. Und dann taucht das Ungeheuer auf und der Kampf beginnt … ein Kampf, der buchstäblich die Jahrhunderte umspannt …!
„Die Stadt, in der niemand ausstieg“, ist eine Stadt, die irgendwo im amerikanischen Mittelwesten liegen könnte, eine Ortschaft, wie man sie immer wieder einmal sieht: ein Ort, dessen Namen man sogleich vergisst, wo der Zug zwar hält, aber niemals jemand aussteigt. Ist es nicht unwichtig, was in solchen Orten vor sich geht? Nehmen wir „Rampart Junction“. Der Ich-Erzähler ist eigentlich auf dem Weg nach Los Angeles, aber er hat Zeit. Und er gibt – scheinbar – dem ziellosen Impuls nach, in diesem Ort auszusteigen, in dem er niemanden kennt. Und, seltsam genug, es gibt gleichwohl jemanden, der auf ihn wartet. Und ihn fortan mit einem finsteren Ziel verfolgt …
„Der Duft der Sarsaparilla“ ist der Geruch der Vergangenheit. Mr. William Finch ist sich dessen ganz sicher, und er ist auch überzeugt von dem Gedanken, dass Dachkammern Zeitmaschinen sind. Sie müssen es schon allein deswegen sein, weil sich in ihnen allerlei alter Krempel sammelt, das Strandgut eines langen Lebens, und nun, wo sich sein altes Leben allmählich dem Ende nähert, da steht er drei Tage lang morgens und nachmittags unbeweglich in der zugigen, dunklen Dachkammer und wartet darauf, dass sich die Tür in seine Vergangenheit wieder öffnet, in die Zeit vor vierzig Jahren. Nur seine Frau Cora will nichts davon wissen …
„Sie waren dunkelhäutig und goldäugig“, so wird es wenigstens von den alten Marsianern erzählt, den Bewohnern jener alten Gebirgsstädte auf dem uralten Planeten Mars, wo nur noch die verlassenen Kanäle und die leeren Paläste von ihrem Glanz und ihrer Vergangenheit erzählen. So jedenfalls empfinden es die Kolonisten von der Erde. So denkt sich das auch Harry Bittering, immer erfüllt von der Sehnsucht nach der Erde.
Doch auf der Erde beginnt ein Krieg, und die Raumschifflinien zum Mars brechen in sich zusammen. Da beschließt Harry, sein eigenes Raumschiff zu bauen, um zurückzukehren, denn unheimliche Dinge ereignen sich auf dem Mars: die Früchte ihrer Ernten haben die falschen Farben, die falschen Geschmäcker, dann verändert sich die Farbe der Augen der Kolonisten … und das ist alles nur der Anfang …
„Die Mäuse“ ist nicht etwa eine Fabel, wie man des Titels wegen denken könnte, sondern sie handelt von sehr eigenartigen Menschen – einem älteren mexikanischen Arbeiterehepaar, das seit drei Jahren zur Miete in einem Haus wohnt und nach und nach den Argwohn der Vermieter erregt. Die Wohnung ist immerzu dunkel. Die Leute haben kein Radio, keinen Fernseher, kein Telefon, sie haben keine Zeitung und Zeitschrift abonniert. Zum Gruß lächeln sie nur und laufen davon, manchmal rufen sie auch den Vermietern zu: „Sie sind verrückt! Verrückt!“ Absonderliche Menschen … aber was genau verbergen sie in den vier Wänden ihres Heims für seltsame Geheimnisse …?
„Das Erdbeerfenster“ ist eine weitere Geschichte, die auf dem Mars spielt, diesmal aber ganz anders als die letzte. Wieder siedeln Menschen dort, aber nun geht es um etwas anderes. Sechs Monate lang ist die kleine Familie nun auf dem Mars, aber die Ehefrau Carrie kann und kann sich nicht eingewöhnen. Da fasst der Ehemann eines Tages einen extremen Entschluss, um alles gründlich zu verändern …
22 wundersame, bisweilen wirklich bestechende, manchmal beunruhigende Erzählungen präsentiert uns Ray Bradbury in diesem Buch, das einen Schaffenszeitraum von 12 Jahren abdeckt. Wie auch in der Anthologie „Geh nicht zu Fuß durch stille Straßen“1 erweist sich Bradbury als ein Meister seines Faches im Bereich der Kurzgeschichte, wobei ergänzend gesagt werden sollte, dass er auch in den längeren Erzählungen durchweg zu brillieren versteht. Nicht zuletzt sind „Der wunderbare Eiskrem-Anzug“ und „Sie waren dunkelhäutig und goldäugig“ mit 25 und 16 Seiten die längsten Geschichten, und sie zählen zum Besten, was die Anthologie zu bieten hat.
Man sollte natürlich, namentlich im Bereich der mit Raumfahrt und dem Mars verknüpften Geschichten berücksichtigen, dass Bradbury nicht von der naturwissenschaftlichen Seite herkommt. Sein Mars beispielsweise ist der klassisch verklärte Mars der „Mars-Chroniken“, und die Existenz künstlich geschaffener Marskanäle (Schiaparelli lässt grüßen) und das Vorhandensein einer uralten, ersterbenden oder schon abgestorbenen (humanoiden) Marskultur ist dort gängiger Topos, wie beispielsweise früher auch in Erzählungen von Edgar Rice Burroughs. Das heutige Bild, das uns „Mars Express“, „Spirit“ oder „Opportunity“ von der wahren Marsoberfläche zeichnen, muss man also vergessen können, um in Bradburys Marsgeschichten einzutauchen.
Doch bleibe ich dabei, es lohnt sich allein schon der stilistischen Brillanz wegen, diese alten Geschichten und Bradbury als Schriftsteller neu zu entdecken. Da der 1920 geborene Bradbury noch immer am Leben und als Schriftsteller aktiv ist, hält sein Schaffensdrang unaufhaltsam an.2 Im Gegensatz zu vielen anderen Autoren, deren Werk banal oder im Laufe der Jahre schal wird, ist Bradbury stets für eine Überraschung gut, und manche seiner Werke prägen sich dem Leser wirklich über viele Jahre tief ein.3 Das ist in meinen Augen ein höchst wirksames Qualitätskriterium.
Sucht nach Bradbury, Leute! Er lohnt sich!
© 2010 by Uwe Lammers
Tja, es macht einfach Spaß, mal wieder einen solchen Klassiker der Science Fiction-Literatur zur Abwechslung zum zeitgenössischen Lesefutter hier einzubringen. Es gibt noch mehr davon, beizeiten.
In der kommenden Woche wandeln wir auf amüsant-bizarre Weise auf den Pfaden eines Erotik-Bestsellers der Gegenwart, und daraus entwickelt sich eine abenteuerliche Geschichte, die das Leben mehrere Menschen gründlich durchschüttelt. Wer Näheres erfahren möchte, sollte in sieben Tagen wieder hier hereinschauen. Ich glaube, das wird ganz witzig.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Vgl. dazu Ray Bradbury: „Geh nicht zu Fuß durch stille Straßen“, Heyne 3292 (1980), auch diese Anthologie enthält 22 Kurzgeschichten von höchst faszinierender Brillanz.
2 Nachtrag aus dem Jahr 2021: Das ist, wie oben erwähnt, leider überholt.
3 So werde ich beispielsweise aus der in Fußnote 1 erwähnten Anthologie die unglaublichen Geschichten „Das Nebelhorn“, „Die Früchte ganz unten in der Schale“, „Ferner Donner“ und „Die Wiese“ wohl kaum jemals vergessen, auch wenn ich sie seit 20 Jahren nicht mehr gelesen habe …