Liebe Freunde des OSM,
die Historie der Menschheit steckt voller dunkler, verhangener Geheimnisse, das ist ein Allgemeinposten, den jedermann kennt, der einmal mit dem Geschichtsvirus infiziert wurde (gut, diese Metapher mag in Jahren der Corona-Pandemie unpassend klingen, gleichwohl ist sie strukturell recht passend und nicht unappetitlich gemeint). Der weniger Kundige fragt sich womöglich, warum das so sein soll. Arglose Menschen mit einem kurzen Denkhorizont bezüglich der Historie nehmen eventuell sogar immer noch an, dass man doch alles von Relevanz im Internet finden kann.
Nun, von diesem Gedanken sollte man sich zügig verabschieden und daran erinnern, dass das Internet gerade mal gut 30 Jahre alt ist … ein Lidschlag der Zeit im Strom all der Jahrtausende, die zuvor verstrichen sind. Und ebenso schnell, wie einem die Energieversorgungsunternehmen die Energie sperren, wenn wir die Rechnungen nicht zu zahlen wissen, ebenso rasch kann es mit der perfekten Informationskultur vorbei sein.
Das ist keine neue Entwicklung, sie gilt auch in vorindustriellen Zeiten – hier waren Kulturstürme immer wieder an der Tagesordnung. Immer dann, wenn Kulturen untergingen, legten die Eroberer oder Nachfolgegenerationen insbesondere die Axt an gegenüber schriftlichen Überlieferungen und kulturellen Zeugnissen. Das ist nichts, was die Taliban oder die kulturbanausischen IS-Kämpfer der Gegenwart sich ausgedacht haben.
Eine Kultur verschwindet in der Regel je vollständiger, desto mehr Zeit verstreicht. Und irgendwann, wenn alle schriftlichen Zeugnisse verschwunden sind, bleiben nur noch die hartnäckigsten Spuren: steinerne Zeugnisse, rätselhaft wie die Moais der Osterinsel … ja, oder wie die Pyramiden auf den Kanarischen Inseln. Und damit sind wir beim Thema.
Als ich vor relativ kurzer Zeit ein seit langem in meinen Bücherregalen ungelesen verstaubtes historisches Sachbuch wieder entdeckte und zu schmökern begann, stieß ich geradewegs in einen historischen Parallelraum vor, was mich nicht eben wenig elektrisierte.
Schon vor ein paar Jahren versuchte ein italienischer Historiker, die Schauplätze der homerischen Werke an die Ostsee zu verlagern. Und nun ertappte ich Harald Braem dabei, wie er munter und durchaus eloquent und beweiskräftig Hand an die zentraleuropäische Vorgeschichte legte – die Megalithkultur, die weite Teile Zentraleuropas und des Mittelmeerraums geprägt hat, über die wir heutzutage aber, weil zahllose Tausende von Jahren darüber hinweggegangen sind, kaum mehr etwas wissen.
Die Entdeckungsreise fand ich überaus aufregend, und ich nehme euch mal mit auf diese Reise, auf dass euer Verstand womöglich im Kopf die Richtung wechselt und ebenfalls tradierte historische Überlieferungsmuster kritisch zu hinterfragen beginnt.
Vorhang auf für das Werk des heutigen Rezensions-Blogs:
Die Geheimnisse der Pyramiden
Auf der Suche nach dem Rätsel ihrer Entstehung
Von Harald Braem
Heyne-Sachbuch 19/307
352 Seiten, TB, 1994
ISBN 3-453-07804-7
Alles beginnt im Sommer des Jahres 1985 auf La Palma. Der deutsche Forscher Harald Braem ist auf der Suche nach Petroglyphen, und er hat gehört, dass sie auf La Palma allgemein recht verbreitet sind – was stimmt, wie er alsbald herausfindet. Was er bei dieser Exkursion mit Einheimischen aber nicht ahnt, ist die erstaunliche Entdeckung, die er macht und die ihn zu einer völlig ungewöhnlichen neuen Theorie inspiriert, die mit Pyramidenbau, Megalithkultur, transatlantischen Kontinentkontakten lange vor Kolumbus und den Wikingern und schließlich zur Postulierung einer unbekannten Kultur führt, die er mit dem legendären Atlantis-Mythos aus Platons Dialog Timaios in Verbindung bringt … aber ich sollte vielleicht Schritt für Schritt vorgehen.
Ja, Harald Braem findet zahlreiche Petroglyphen auf La Palma und den anderen Kanarischen Inseln, und die weitaus meisten von ihnen sind Tausende von Jahren vor Christi Geburt entstanden. Es gibt zahlreiche Theorien, woher die Ureinwohner der Kanaren, die Guanchen, einst gekommen sein mögen, die insulare Vergangenheit gibt nach Eroberung durch die Spanier leider nur noch bedingt realitätsnahe Vergangenheitszeugnisse hervor – die Parallelen zu den ebenfalls spanischen Eroberern in Süd- und Mittelamerika und ihre wenig ruhmreiche Rolle beim Erhalt der dortigen kulturellen Erzeugnisse sind hinreichend bekannt. Ähnliches hat sich auf den Kanaren abgespielt, mit dem entscheidenden Unterschied, dass die hiesigen schriftlichen Zeugnisse, wenn man sie so nennen möchte, weniger eindeutig waren und weit schlechter zu zerstören – weil in Stein gemeißelt. Menschenfiguren, Schiffe, Spiralmuster. Besonders letztere kommen Braem seltsam vertraut vor.
Diese Spiralmuster gibt es doch auch in der Bretagne und auf den Britischen Inseln, auf Malta und an anderen Stellen des Mittelmeeres. Seltsam. Und dann diese Höhlenmumien mit ihrem blonden Haar, die Kultplätze auf hohen Felsen. Am verrücktesten aber sind die Pyramiden.
Pyramiden auf La Palma, ernsthaft. Einwandfreie, in jahrelanger harter Arbeit aus zusammengelesenen Feldsteinen errichtete Terrassenbauten, die eine frappierende Ähnlichkeit etwa mit der Stufenpyramide des Pharao Djoser in Ägypten haben. Nur sind sie dummerweise deutlich älter. Und sie haben offenbar nie als Begräbnisstätten gedient, sondern waren eher ein Kultzentrum für einen kombinierten Sonnen- und Fruchtbarkeitskult.
Als Braem mit einem Terra-X-Team die Sendung über die „Inseln des Drachenbaums“ dreht, hat er schon eine relativ wagemutige Hypothese über die seltsame Kanaren-Zivilisation. Aber er sucht Bestätigung und begibt sich damit nach Ägypten. Hier wie auch im alten Mesopotamien fallen Forschern schon seit langem die überraschenden Veränderungen im kulturellen Ablauf der dort lebenden Bevölkerung auf. Scheinbar ist sowohl die Kenntnis höherer Architektur wie der Schriftsprache fast „über Nacht“ erwacht, inklusive komplexer Schriftsysteme. Und das alles steht in den Mythologien in Verbindung mit legendären Gestalten, die übers Meer gekommen sein sollen. Bald stellt Braem ketzerisch in Frage, ob die ältesten Pharaonendynastien tatsächlich Ägypter waren oder ob sie nicht vielmehr aus dem Mittelmeerraum als Kulturstifter eingewandert sein könnten. Sehr frühe und eindeutig megalithisch strukturierte Gebäudekomplexe wie etwa in Kom Ombo oder beim Taltempel in Gizeh deuten zumindest auf entsprechende Einflüsse hin.
Braem durchleuchtet den Ursprung der Pyramidengründung und mutmaßt durchaus nicht unplausibel, dass die Mythen mehrheitlich von einer Erschaffung des festen Landes aus dem Wasser und von einem ursprüngliche Urhügel reden, der später in Form des Kerns einer so genannten Mastaba nachgeahmt wurde. Damit nähert man sich einem urtümlichen Fruchtbarkeits- und Schöpfungsmythos. Und die aufeinander gestapelten Mastabas gelten in manchen Forscherkreisen als Treppe zu den Göttern, eine Art steinerner Himmelsleiter, ein Nachhall vielleicht eines uralten Sonnenkultes, der sich in Ägypten dann durch komplexe mythologische Überformung weitgehend verloren hat.
Es geht um den Mythos einer großen Flut, den es sowohl in Ägypten wie im Zweistromland, in der Bibel (hier eindeutig aus Babylonien übernommen) und auch in vielen anderen Regionen der Welt gegeben hat. Und interessanterweise gibt es an vielen dieser Orte sehr ähnliche mythologisch-historische Volkserinnerungen, nicht allein im Mittelmeerraum, auch im keltischen Sagenkreis, genauso wie in Mittelamerika. Die Legenden von Quetzalcoatl und seltsam hellhäutigen Männern, die neue Kulturtechniken brachten und als Kulturbringer betrachtet wurden, führen Braem dann in abenteuerlichen Schlenkern und sehr lesenswerten historischen Exkursen zuletzt in die Bretagne und auf die Britischen Inseln. Und hier formt sich für ihn nach und nach ein atemberaubendes Bild einer untergegangenen Zivilisation, dessen Nachhall sich möglicherweise in Platons Atlantis-Mythos findet: die Umrisse einer Zivilisation, die er die „atlantische Westkultur“ nennt und die zwischen dem 5. und 3. vorchristlichen Jahrtausend unterging … und er weist nach, dass es sowohl auf den Kanaren wie überall rings um das Mittelmeer und an der französischen Küste noch jede Menge einstiger Terrassen-Pyramidenbauten gibt, die heutzutage immer noch in keine gescheite Theorie passen. Das Buch endet mit dem Aufruf, traditionelle Geschichtsbilder kritisch zu hinterfragen und diesen Denkanstößen nachzugehen.
Zugegeben, das Buch ist über 25 Jahre alt. Und ich gebe auch zu, dass ich es ebenso lange im Regal ungelesen stehen hatte, bis es mir jüngst wieder vor die Augen kam und dann in gut 2 Wochen neugieriger Lesetätigkeit verschlungen wurde. Wohltuend unaufgeregt und nicht ideologisch beginnt der Autor seine Analysen und stellt dabei durchaus diverse Theorien zur Debatte, etwa die so genannte „Inselberber-Theorie“, die davon ausgeht, dass die Kanaren von Nordafrika aus besiedelt worden sein sollen. Er weist experimentell nach, dass das quasi unmöglich war, polemisiert aber nicht gegen die verworfenen Theorien, sondern lässt sie durchaus als alternative Denkansätze stehen. Als solchen versteht er auch seine eigene Theoriebildung von der atlantischen Westkultur. Und ich finde, seine Ansätze haben durchaus einiges für sich.
Gar zu lange hat man sich insbesondere in Historikerkreisen eingeredet, dass Zentraleuropa über Jahrtausende hinweg quasi ein kulturloses Land gewesen sei, bevölkert allenfalls von primitiven Bauerngruppen und Nomadenstämmen. Und dann fallen auf einmal astronomisch und architektonisch atemberaubend durchkonstruierte Gebilde wie etwa Stonehenge und andere Megalithanlagen offenbar vor Tausenden von Jahren irgendwo aus dem Nichts … errichtet von kulturlosen Barbaren? Das klingt wenig plausibel.
Und wenn man bedenkt, dass vor wenigen Jahren ganze Hochkulturzentren mitten in Deutschland nachgewiesen wurden, offenbar mit Fürstentümern, Königsdynastien und ausgefeilten Kultplätzen, dann erscheint das, was Braem mit der atlantischen Westkultur entwickelt und zu einem systematischen Zivilisationssystem am Rande der Steinzeit projiziert, nicht mehr gar so abenteuerlich dahergesponnen.
Es ist beispielsweise hinreichend bekannt, dass die Phönizier lange vor Christi Geburt ihre Reisen mindestens bis England ausdehnten und Afrika umsegelten. Wenn man also annimmt, dass sie Teil oder Nachkommenschaft einer solchen Seefahrerkultur waren, die möglicherweise in der Bretagne ihr kulturelles Zentrum besessen hat und sich bis Skandinavien und Nordafrika ausdehnte und die insbesondere architektonische Techniken und Götterkulte bis ins Nildelta ausbreitete, dann kann man viele archaische Zeugnisse des alten Europa eventuell völlig neu interpretieren.
Was mich nicht überzeugte, war hingegen der Aspekt der Schriftkultur. Denn es gibt doch sehr zu denken, dass die atlantische Westkultur zwar im Zweistromland die Keilschrift und in Ägypten die Hieroglyphen als Kommunikationssystem entwickelt haben soll, aber zuvor in ihrer eigentlichen kulturellen Hochburg nicht viel mehr als Spiralformen und Bildzeichen schuf und hinterließ.
Es ist auch wenig glaubwürdig, wenn man annimmt, dass es diese höher entwickelten Bildzeichen etwa auf Holz gegeben haben könnte, was sich nicht erhalten hätte – das klingt nicht schlüssig. Für mich gab es, wenn an Braems Theorien etwas dran ist, mindestens zwei Kulturwellen. Eine mag durchaus eine megalithisch orientierte aus Zentraleuropa gewesen sein, die ostwärts durchs Mittelmeer schwappte. Aber zugleich oder wenig später muss es dann eine weitere gegeben haben, die aus dem Osten in Richtung Westen vordrang.
Hier würde ich die Indus-Kultur als Keimzelle vermuten, über die wir leider sehr wenig wissen. Aber soviel ist klar: architektonisch hochwertig gebaute Städte wie Mohenjo Daro zeigen heute noch, dass diese Erbauer sowohl technisch unglaublich versiert waren als auch über ein eigenes Schriftsystem verfügten. Zudem bauten sie mit Lehmziegelbauweise – und das passt hervorragend zu den frühesten Bauwerken im Zweistromland und den frühen Mastaba- und Pyramidenbauten in Ägypten.
Moderne Archäologie, die sich zudem auf dem recht wasserdichten Pfad der Archäogenetik bewegt, könnte Braems Theorieansätze sehr schön falsifizieren oder bestätigen. Solange so etwas nicht geschehen ist, scheint es mir sinnvoll zu sein, diese Denkansätze zumindest als Alternativen zu bisherigen Migrations-Kulturgeschichten zuzulassen.
Auch nach 25 Jahren ist dieses Buch deshalb noch für Gedankenanstöße und Inspirationen gut. Zur Lektüre für aufgeschlossene historische Geister sehr zu empfehlen.
© 2020 by Uwe Lammers
In der kommenden Woche bleiben wir bei den unglaublichen Zumutungen der Realität, aber diesmal auf eine durchweg bodenständige Weise. Da geht es etwa um eine bizarre Glibbermasse, die für ein Alienhirn gehalten wird … mehr sei noch nicht verraten.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.