Liebe Freunde des OSM,
Sherlock Holmes ist Kult, das brauche ich denen unter euch nicht explizit auf die Nase zu binden, die bereits ein paar Jahre meinem Rezensions-Blog folgen. Wer dies noch nicht tut, sei bei Interesse auf die Fußnoten in der Rezension verwiesen, die den Weg frei machen für neuen faszinierenden Lesestoff.
Die genannte Storysammlung ist schon recht betagt, und die meisten darin enthaltenen Stoffe haben noch ein paar mehr Jahrzehnte auf dem Buckel. Sei‘s drum! Sie sind mehrheitlich wirklich äußerst interessant und verändern den traditionellen Blickwinkel auf den Holmes-Kanon, indem sie den Geschichten ergänzend phantastische Aspekte abgewinnen. Aliens in verschiedenster Form tauchen auf, mal als Gefahren, mal als skurrile Sparringspartner, es kommt auch zu Zeitreisen, und phantastisch im Sinne von „unbedingt überraschend und lesenswert“ sind sie zudem auch noch.
Wer sich bislang nur mit Sir Arthur Conan Doyles traditionellem Geschichtenkanon anfreunden konnte, hat nun die Gelegenheit, mal über den Tellerrand hinauszublicken und zu sehen, was hier wirklich möglich und los ist.
Das lohnt sich und ist nicht zuletzt auch ein gutes Lachmuskeltraining. Insbesondere die Hoka-Geschichte hat da an diversen Stellen vergnügliche Passagen … auch wenn man vermutlich Holmsianer sich erst an das Setting gewöhnen müssen. Aber vertraut meinem Urteil, Freunde – es macht einen Riesenspaß!
Drum also nun Vorhang auf für ein Werk des Jahres 1987:
Mit Sherlock Holmes durch Zeit und Raum (1)
(OT: Sherlock Holmes through time and space (1))
von Isaac Asimov, Martin Harry Greenburg & Charles Waugh (Hg.)
Ullstein 31140
208 Seiten, TB (1987)
Aus dem Amerikanischen von Uwe Anton, Ronald M. Hahn und Silvia Frehse
ISBN 3-548-31140-7
Man fühlt sich hier im falschen Film, wenn man das Cover des vorliegenden Buches betrachtet und muss unweigerlich an den so oft heruntergeleierten Slogan „Sex sells“ denken, der im Zusammenhang mit Sherlock Holmes nun wirklich in nahezu überhaupt keinem Fall passt, sonst aber recht häufig zum Kauf animiert. Das Cover zeigt eine nackte Dame, die mit einer bizarren Art von Robotschlange „kuschelt“. Das soll wohl auf das SF-Element dieses Ullstein-Buches hinweisen. Niemand braucht die Dame oder die Schlange im Buch zu suchen, das ist völlig sinnfreie Anti-Werbung, die ein Sherlock Holmes nicht braucht.
Mit dem vorliegenden Band liegt der erste von zwei gleichnamigen Büchern vor, in denen sich Epigonen um den großen Detektiv aus der Baker Street kümmerten und ihn weitere Abenteuer erleben ließen, die in gewisser Weise phantastische Aspekte beinhalten. Die Holmsianer wissen ja, dass Arthur Conan Doyle am Anfang seiner Schriftstellerkarriere für das Übersinnliche noch nicht viel übrig hatte, was sich später dann ins extreme Gegenteil durch seinen naiven Glauben an Feen und Seancen verkehrte. In den Sherlock Holmes-Geschichten ist das Übernatürliche in der Regel nur als irreführende Camouflage zu finden, zur Tarnung eines Verbrechens. Man denke da nur an den legendären Hund der Baskervilles – der übrigens auch in diesem Buch „unvermeidlich“ ist, ebenso wie Professor Moriarty.
Hier ist es zum Teil anders, denn da kommen schon sehr seltsame Dinge vor, die selbst ein Arthur Conan Doyle absonderlich gefunden hätte. Phantasten, die sich nicht als beinharte Holmsianer verstehen und die Abweichungen vom traditionellen Kanon hinzunehmen bereit sind, finden hier ein faszinierend breit gestreutes Feld von verblüffenden Werken.
Neben dem Vorwort von Isaac Asimov finden wir acht Geschichten vor, von denen Sharon N. Farbers „Das große Geheimnis des Studentenwohnheims“ und Barbara Williamsons „Was draußen wartet“ so kurz sind, dass ich sie hier kurzerhand übergehen möchte, um nicht unmäßig viel zu verraten.
Ich werde auch kaum etwas zu Conan Doyles eigener Story „Der Teufelsfuß“ sagen, die jeder Holmsianer natürlich kennt. Sie wurde offensichtlich der Storysammlung vorangestellt, damit der weitgehend ahnungslose Leser eine Originalprobe von Holmes´ Deduktionsmethode zu sehen bekommt, um sodann zu schauen, wie gut es den Epigonen gelungen ist, seine Darstellung zu erreichen.
Beginnen möchte ich die Vorstellung der vorliegenden Geschichten also mit Philip José Farmers Geschichte „Das Problem der verdrossenen Brücke – unter anderem“, für die der Autor in die Rolle des Harry Manders schlüpft, des legendären Weggefährten des Gentleman-Einbrechers Arthur J. Raffles. Da ich selbst die Raffles-Geschichten nur vom Hörensagen kenne, ist mir zweifellos einiges an Anspielungen entgangen, aber das hat den Reiz der Geschichte nicht geschmälert.
Schon der Titel der Geschichte ist geeignet, Stirnrunzeln auszulösen. Und das verstärkt sich noch, wenn man im Verlauf der Story über so bekannte Namen wie Mr. James Phillimore und Isadora Persano stolpert (ungeachtet des weibischen Vornamens ein Mann). In mir schrillten sofort einige Alarmsirenen, da ich zumindest von Phillimore schon mal gehört hatte – und zwar vor dreizehn Jahren, als ich die wunderbar raffinierte Geschichte „Das Rätsel des Warwickshire-Wirbels“ von F. Gwynplaine McIntyre las.1 Das Geheimnis eines Mannes, der noch mal kurz in sein Haus zurückgeht, um seinen Regenschirm zu holen, und der nie wieder gesehen wird. Als – in der vorliegenden Story – die Polizisten das Gebäude durchsuchen, finden sie nichts.
Kurz darauf steigen auch Raffles und sein Kompagnon Mander in das Haus ein und stoßen auf der Suche nach Juwelen auf etwas sehr viel Ungeheuerlicheres. Unvermittelt werden sie mit außerirdischem Leben konfrontiert und in eine Jagd auf Leben und Tod verwickelt.
Exzellente Geschichte!
Anne Lear schreibt eine andere literarische Tradition fort. In der Geschichte „Das Abenteuer des Weltreisenden“ geht es nur mittelbar um Holmes, aber wesentliche Elemente für eine Geschichte aus dem Holmes-Kanon sind einwandfrei gegeben. Sicherlich erinnern sich zahlreiche Leser an H. G. Wells´ „Die Zeitmaschine“ und den dort im gesamten Buch namenlos bleibenden Erfinder. In der vorliegenden Geschichte wird er nun endlich mit Namen genannt. Aber warum das in einem Dokument aus dem 17. Jahrhundert geschieht und was das konkret mit Sherlock Holmes zu tun hat (und das hat es, vertraut mir!), sei nicht verraten. Und da ich sowohl Holmes mag als auch Zeitreisegeschichten, fühlte ich mich hier doppelt heimisch. Vielleicht schmeichelt Anne Lear der Hauptperson etwas zu sehr und macht sie unangemessen genial – aber die daraus destillierte Geschichte ist schön gebaut und diente vielleicht später Michael Crichton als Anregung für seinen spannenden Zeitreise-Roman „Timeline“.2 Wundern täte es mich nicht.
Poul Anderson und Gordon R. Dicksons Kooperationsarbeit „Die Rückkehr des Hundes von Baskerville“3 ist die bei weitem älteste, sie stammt aus dem Jahre 1953, war mir aber auch unbekannt – und es war einfach nur köstlich, sie zu lesen, auch wenn sie anfangs … gewöhnungsbedürftig war. Immerhin spielt sie nicht mal auf der Erde, und die Hauptpersonen sind auch keine Menschen. Und das kommt so:
Wir befinden uns in einer fernen Zukunft. Die Menschheit hat sich über weite Teile der Galaxis ausgebreitet und leistet hier bei Fremdvölkern Entwicklungsarbeit. Dazu zählt die kleinwüchsige Spezies der Hokas auf dem Planeten Toka. Hier wird die irdische Kultur verehrt. Aus etwas rätselhaften Gründen hat es den pelzigen Hokas ausgerechnet das viktorianische England angetan. Sie sind noch dabei, das alte London nachzubauen und haben beispielsweise noch ganz andere Dinge nachgebaut – und wie fanatische Schauspieler sind sie unfassbar textsicher und gehen voll in der „nachgebauten“ Kultur auf. Heutzutage würden wir dies als frühe Vorläufer der modernen reenactment-Kultur bezeichnen, die besonders in den USA blüht.
Nun, Whitcomb Geoffrey und Alexander Jones von der Kosmischen Entitäten-Liga (KEL) sollen einen Alien-Schmuggler hochnehmen, der sich irgendwo auf Toka verbirgt. Aber wo anfangen? Jones schlägt vor, sie sollten sich an die Gepflogenheiten auf Toka halten und, da sich der Gesuchte offensichtlich im „viktorianischen England“ versteckt, bei Scotland Yard beginnen. Hier machen sie die schon etwas erschütternde Begegnung mit dem „Obersten Stümper“ (Türschild!), einem Hoka, der sich als Inspector Lestrade versteht. Und dieser wiederum möchte gern den weltbesten beratenden Detektiv mit in den Fall einbeziehen – Sherlock Holmes!
Die Hokas sind offenbar außerstande, zwischen realer Historie und Fiktion zu unterscheiden und behandeln Holmes ganz so wie eine physisch existente Person. Whitcomb Geoffrey wird von „Holmes“ kurzerhand in „Gregson“ umbenannt (eine Scotland Yard-Gestalt bei Conan Doyle!). Alexander Jones hat in die Rolle des Dr. John Watson hineinzuschlüpfen, und ehe sie sich versehen, jagen die Gefährten wider Willen im nachgebauten Moor von Devonshire einen großen, rotäugigen Höllenhund – den Hund der Baskervilles … na, wem das nicht vertraut vorkommt!
Sterling Lanier berichtet in „Die Geschichte eines Vaters“ auch von etwas sehr Eigenartigem, das mir vertraut erschien. Warum? Weil es um die „Matilda Briggs“ geht, ein Segelschiff, das in dem Holmes-Kanon einmal erwähnt wird als ein Fall, in dem Holmes vermeintlich versagte. Er spielt Anfang der 1880er Jahre im indonesischen Archipel, und ich hatte davon bereits zwei Varianten gelesen.4
Nun also die dritte Variante. Der Vater des Erzählers berichtet von einer Reise in den indonesischen Archipel, damals als Offizier der britischen Armee, der einen zerlumpten Mann auf einem Schiffswrack findet und aufpäppelt. Und dieser Mann, der nur „Verner“ genannt werden möchte, führt den Offizier und seine Männer in ein grässliches Gemetzel gegen Wesen, die alles andere als menschlich sind. Man fühlt hier den Schatten von Dr. Viktor Frankenstein und Dr. Moreau überdeutlich.
Und schließlich ist da noch Mack Reynolds, ein dezidierter Science Fiction-Autor, der sich hier ebenfalls in ein Holmes-Abenteuer verirrt und den Detektiv als wirklich steinalten Mann schildert, dessen Kompagnon Dr. John Watson ihm schon insgeheim zunehmende Senilität stillschweigend unterstellt. Und als er in „Das Abenteuer mit dem Außerirdischen“ für einen kaum weniger betagten Klienten Außerirdische in London ausfindig machen soll, hat Watson endgültig das Gefühl, dass es mit Holmes steil bergab geht. Aber er erlebt eine Überraschung …
So unpassend das Titelbild auch immer sein mag – vergesst es einfach und kümmert euch um den zum Teil wirklich exquisiten Inhalt. Allein die Hokas-Geschichte ist den antiquarischen Kauf des Buches wert gewesen, aber auch die anderen Werke sind nicht ohne. Man sollte sich die Geschichten schön portionieren beim Lesen und gemächlich eine pro Tag im Höchstfall wegschmökern, sonst ist das Lesevergnügen einfach zu schnell vorbei.
Aber es gibt noch einen Lichtblick: wie schon der Titel sagt, gibt es noch einen weiteren Band gleichen Titels, den ich noch nicht in den Händen halte (aber bald) und bislang nicht lesen konnte. Zweifellos werde ich mir das Vergnügen nicht entgehen lassen, auch diese Anthologie zu rezensieren.
Demnächst in diesem Kino, versprochen.5
Im Gegensatz zu seinem Schöpfer ist Sherlock Holmes der unsterbliche Detektiv geblieben, und es gibt erstaunlich viele Geschichten, die sich noch um ihn ranken können. Wir erleben das Jahr für Jahr von neuem in den Buchhandlungen. Und solange ich solche Funde mache, bin ich jederzeit bereit, sie euch vorzustellen.
© 2019 by Uwe Lammers
In der kommenden Woche machen wir wieder mal einen Abstecher in den Bereich der Archäologie. In einem wirklich schon seit sehr langer Zeit in meinen Bücherregalen verharrenden Werk, das noch nicht gelesen werden konnte, brach ich auf in ein phantastisches Deutungsabenteuer der tiefen Vergangenheit … mehr dazu in der kommenden Woche.
Bis bald, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Vgl. dazu Mike Ashley: „Sherlock Holmes und der Fluch von Addleton“, Bergisch-Gladbach 2003, in der diese Geschichte enthalten ist. Auch diese Sammlung von Holmes-Epigonengeschichten ist sehr zu empfehlen (vgl. dazu den Rezensions-Blog 5 vom 29. April 2015).
2 Vgl. dazu auch den Rezensions-Blog 216 vom 15. Mai 2019.
3 Korrekt müsste es natürlich heißen: „…des Hundes der Baskervilles“, da Baskerville immer noch ein Adelsgeschlecht ist und kein Ort. Aber irgendwie scheinen Herausgeber das nie so richtig zu kapieren. Dieses Mal ist es eindeutig ein Übersetzungsfehler, denn im O-Ton heißt die Story „The Adventure of the misplaced Hound“. Da ist nix von den Baskervilles zu sehen.
4 Die beiden Varianten waren: Rick Boyer: „Sherlock Holmes und die Riesenratte von Sumatra“, Bergisch-Gladbach 2006, gelesen und rezensiert 2007 (vgl. dazu auch den Rezensions-Blog 74 vom 24. August 2016), und Jörg Kastner: „Sherlock Holmes und der Schrecken von Sumatra“, Bad Tölz 1997, gelesen und rezensiert 2017 (vgl. Rezensions-Blog 173 vom 18. Juli 2018).
5Wie ihr spürt, wurden die obigen Zeilen deutlich vor Ausbruch der Corona-Pandemie geschrieben. Infolgedessen und in Anbetracht der Situation unserer Kinolandschaft dürft ihr meine obigen Worte besser gar nicht erst auf die Goldwaage legen.