Liebe Freunde des OSM,
es ist lange her, dass ich etwas von Eric Hobsbawm gelesen habe, und fast so lange mag es her sein, ihn rezensiert zu haben. Einmal schon habe ich euch ein Werk von ihm vorgestellt, das war vor inzwischen auch schon vier realen Jahren … aber es gibt noch mehr von ihm zu lesen und zu lernen.
Der am 1. Oktober 2012 hoch betagt verstorbene britische Historiker hat 1999 ein sehr ausführliches und tiefsinniges Interview gegeben, das in der deutschen Wiedergabe ein gesamtes Buch füllte – sehr zu meiner Überraschung, als ich 2009 nach dem Werk griff und es las … wie ihr sehen könnt, hat es mich so animiert, dass ich es unbedingt ausführlich rezensieren musste.
Selbst mit einer Distanz von 12 Jahren zur Rezension ist es absolut beeindruckend, die von mir reflektierten Überlegungen des alten Wissenschaftlers noch einmal Revue passieren zu lassen. Wer denkt, dass Bücher aus dem Jahre 1999 oder Rezensionen aus dem Jahr 2009 verstaubt oder inzwischen längst überholt sein sollten, dem empfehle ich, die folgenden Seiten einmal sorgsam und gründlich zu lesen. Er/Sie wird entdecken, dass diese Einstellung ein Irrtum ist.
Eric Hobsbawm warf wirklich einen Blick in die „Kristallkugel des Historikers“ und skizzierte viele Entwicklungen der damaligen Gegenwart hellsichtig, prognostizierte beeindruckende Entwicklungslinien der nahen Zukunft … nein, natürlich konnte er „Corona“ nicht vorhersehen, wie auch? Aber vieles andere von dem, was er klug konstatiert, kann man selbst heute noch unterschreiben. Ost- und Westdeutschland sei zusammengewachsen? Nach 20 Jahren (2009 also, als ich die Rezension schrieb) war das sicherlich nicht der Fall. Und auch heutzutage gibt es berechtigte Zweifel daran.
Der Beitritt der Türkei zur EU ist inzwischen erfolgt? Nein, wir sind davon weit entfernt. Demokratiedefizite, Bevölkerungsentwicklung, Umweltschäden … schaut euch an, was er alles anspricht, und dann sagt mir noch mal, das Buch sei veraltet.
Ich halte es nach wie vor für großartig und empfehle es jedem, der intelligente, nahezu zeitlose politische Literatur lesen möchte. Das lange Interview macht Appetit auf mehr von Hobsbawm, darauf möchte ich wetten.
Also, lest weiter:
Das Gesicht des 21. Jahrhunderts
(kein OT genannt, obwohl angeblich Übersetzung aus dem Englischen!)
von Eric Hobsbawm
dtv 30844, 224 Seiten, TB
2002, 2. Auflage 2004
Aus dem Englischen von Udo Rennert
ISBN 3-423-30844-3
Eric Hobsbawm ist nicht irgendwer.
Der knorrige, 1917 geborene Historiker und Sozialist, der seit vielen Jahren Wirtschaftsgeschichte und Politikgeschichte sowie Alltagsgeschichte betreibt und auf bemerkenswerte Weise die Leser immer wieder durch seine unerwarteten Herangehensweisen und Betrachtungen an historische Themenstellungen irritiert und verblüfft, ist einfach jemand, dem man zuhört, wenn er etwas zu sagen hat. Wer – wie der Rezensent – etwa seine Aufsatzsammlung „Ungewöhnliche Menschen“ (2001) gelesen hat1, wird wissen, wovon ich rede.
Dieses Buch entstand im Jahre 1999 als langes Gespräch mit Antonio Polito, und es drehte sich, während es schließlich fast 220 Seiten Text füllte, um so interessante Themen wie: Können wir aus der Vergangenheit lernen? Wie wirkt sich die Globalisierung auf die Weltkultur aus? Hat der Nationalstaat noch eine Zukunft? Wie können Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, also die Prinzipien der Französischen Revolution, weiterentwickelt oder erhalten werden? Das sind nur ein paar der Themen, um die es in diesem beeindruckenden Werk geht.
Zunächst geht es darum, Hobsbawms generelle Thesen für die Zukunft im 21. Jahrhundert anzusehen, nämlich in der Einleitung, die faszinierend belletristisch „Die Kristallkugel des Historikers“ genannt worden ist, als ob der Forscher ein Wahrsager auf einem Jahrmarkt wäre. Diese Hoffnung muss der britische Historiker jüdischer Abstammung freilich relativieren und abschwächen. Dennoch kann Hobsbawm mithilfe seiner Biografie, die in Alexandria/Ägypten, Wien und Berlin beginnt, dann zur NS-Zeit und zum Eintritt in die britische kommunistische Partei mäandert und schließlich bis in die USA reicht, zahlreiche faszinierende Entwicklungslinien ziehen und gleichsam den Ring für die Diskussion aufspannen.
Am Leitfaden der NATO-Intervention im Kosovo-Krieg 1999, also der aktuellen Zeitgeschichte zum Zeitpunkt des Gesprächs werden dann die Themen „Krieg und Frieden“ erörtert, wobei das ganze „kurze 20. Jahrhundert“ einbezogen wird. Der Terminus stammt von Hobsbawm selbst, und er bezog ihn auf die historischen Zäsuren von 1914 und 1989/91 für den Zusammenbruch des Ostblocks, dessen unabsehbare Folgen wir alle, wie er hier sagt, erst noch spüren werden. Schon heute, 2009, gibt ihm die Geschichte darin Recht. Leider auf eher bestürzende Weise …
Es folgt eine Analyse des „Niedergangs des westlichen Imperiums“, womit er sowohl die USA als auch Westeuropa im Allgemeinen meint. An manchen Stellen ist er hier sehr desillusionierend, ohne freilich in irgendeiner Weise „kommunistische Propaganda“ zu machen. Davon ist er ohnehin weit entfernt. Schon in früheren Jahrzehnten neigte Hobsbawm dazu, auch den Kommunismus russischer Prägung zu kritisieren, wobei er es aber geschickt vermied, ins Lager der Konvertiten eingemeindet zu werden. Seine wache Kritik am kapitalistischen Lebensstil und der Kultur des rigorosen Individualismus zeugt aber von einer intensiven Reflexionsfähigkeit, die jetzt im Alter vielleicht noch deutlicher hervorleuchtet als früher.
In dem „Das globale Dorf“ betitelten Abschnitt des langen Interviews korrigiert der Historiker sehr geschickt, das Schlagwort „Globalisierung“ allein auf die Finanzwirtschaft abzustellen. Wenn er betont, „dass das Problem mit der Globalisierung in ihrem Bestreben liegt, einen tendenziell egalitären Zugang zu Produkten in einer Welt zu garantieren, die ihrem Wesen nach ungleich und mannigfaltig ist“ und „eine Spannung zwischen zwei abstrakten Begriffen“ konstatiert, so kann man nur vermuten, dass dies den Kern des Problems trifft. Er prognostiziert auch Hindernisse gegenüber einer zunehmenden internationalen Vereinheitlichungstendenz, die „Homogenisierung“ genannt wird. Dabei kritisiert Hobsbawm gleichzeitig die Tendenz von Staaten, sich aus der Verantwortung zu schleichen, indem sie bestimmte Staatsleistungen privatisieren. Dies könne nur zu einem gewissen Teil funktionieren, manche Dienstleistungen seien einfach nicht sozialverträglich zu privatisieren. Darin ist ihm ohne Frage zuzustimmen.2
„Was ist von der Linken geblieben?“, erkundet der vierte Abschnitt, der sich speziell unter der forcierten Vorwärtsentwicklung einer neuen sozialistisch orientierten Kraft in Deutschland (DIE LINKE) interessant liest. Hier weist Hobsbawm besonders darauf hin, dass die Entpolitisierung weiter Massen der Gesellschaft als neuer Trend die politische Kultur in jüngster Zeit stark verändert hat und prognostiziert, dass sich die politischen Parteien darauf einzustellen haben werden. Er bringt dies auch – m. E. zu Recht – mit dem Phänomen der Konsumgesellschaft in Verbindung, das zu einer Erodierung politischer Forderungen zugunsten ökonomischer Befriedigung beigetragen hat. Und ja, natürlich geht es um die Ideale der linken Bewegungen allgemein.
Unter „Homo globator“ greifen Interviewer und Interviewter das Thema Globalisierung und Fundamentalismus auf, das auch das 21. Jahrhundert bestimmen wird. Die offensichtliche Polarisierung zwischen beiden Polen ist, meint Hobsbawm, wesentlich bestimmt durch einen Abgrenzungs- und Dominierungsprozess. Die Globalisierung der Kultur im positiven wie negativen Sinne führt dazu, dass traditionalistische Bewegungen Abwehrreflexe kultivieren, und das seit der Jahrtausendwende verstärkt zu beobachtende Phänomen des Terrorismus sei daher zu erwarten gewesen.
Außerdem gibt der Historiker in diesem Zusammenhang auch offen zu, dass ihm die Entwicklung der modernen Naturwissenschaft Angst macht. Der Möglichkeitswahn früher utopischer wissenschaftlicher, insbesondere medizinischer Ziele, enthält massives Konfliktpotenzial für die Zukunft, und auch hierin ist Hobsbawm Hellsichtigkeit und Weitblick zu konstatieren.
Im 6. Teil des Buches konzentriert er seinen „Blick auf Deutschland“ und stellt fest, dass nach seiner Beobachtung (im Jahre 1999, als das Interview geführt wurde), die „Mauer“ als soziales Phänomen offensichtlich noch Bestand hat. Diese Einschätzung lässt sich mancherorts auch für das Jahr 2009 immer noch bestätigen (dass dieses Jahr „20 Jahre Wiedervereinigung“ zelebriert wird, ist dagegen vergleichsweise belanglos, die soziale Kluft zwischen Ost- und Westdeutschland lässt sich nicht „wegfeiern“). Deutschland, so Hobsbawm, ist noch auf dem Weg zu sich selbst, und auch diese Ansicht ist heute nach wie vor treffend.
Die Bevölkerungsbombe wird unter dem Titel „Der sechsmilliardste Mensch“ im nächsten Abschnitt thematisiert, und hier sind die Perspektiven finster, wie er meint – langfristige Bevölkerungsprognosen hätten sich bislang stets als falsch erwiesen. In Anbetracht der hohen Zahl insbesondere junger Menschen in Staaten, in denen der unbeschränkte Zugang zu Information eher eine Ausnahme darstellt oder gar nicht gegeben ist, sei kaum eine Normalisierung des Bevölkerungswachstums aufgrund rationaler Entscheidungsprozesse zu erwarten.
Hinzu kommt die Frage globaler Migrationsbewegungen im 21. Jahrhundert. Durch die Umverteilung von Arbeitsprozessen in Länder der Dritten Welt oder Schwellenländer ergebe sich, führt er aus, unter Umständen auch eine Verschiebung ethnischer Populationen. Er bringt hier faszinierenderweise ein Beispiel von Thessaloniki in Griechenland und von amerikanischen Gemeinden im Grenzbereich zu Mexiko.
Auch Rassismus sei in diesem Zusammenhang ein Thema, auf das zu achten sein werde, warnt Hobsbawm. Zwar irrt er vermutlich, wenn er die Ansicht äußert, dass der Beitritt der Türkei zur Europäischen Union mehrheitlich deshalb verzögert wird, weil sie ein im Wesentlichen muslimisches Land ist – die Demokratiedefizite und die Unfähigkeit, innere Konflikte und die nationale Vergangenheit aufzuarbeiten, wie es andere Länder Europas geschafft haben, sind hier wohl bedeutsamer – , doch ist dies natürlich ein Punkt, der ebenfalls im 21. Jahrhundert für politischen Zündstoff sorgen wird.
Großen Raum nimmt in diesem Kapitel das gewichtige Thema der ökologischen Katastrophen ein, und das vollkommen mit Recht. Hobsbawm schätzt sehr realistisch, dass die ökologischen Konsequenzen der ungehemmten menschlichen Ausbreitung gravierend sein werden, und die Ansätze davon sind heutzutage schon sehr deutlich erkennbar. Indes sieht er auch Hoffnungsschimmer, wenn er die Renaturierung beispielsweise von stillgelegten Industriebrachen in England betrachtet. Alles gipfelt letzten Endes – in diesem Teil des Buches – in der Frage, wie man wirtschaftliche Erschließung der Welt in Einklang bringen kann mit der Erhaltung von Natur auf internationaler Ebene, und das ist natürlich intensiv verzahnt mit zahlreichen anderen komplexen Themen wie eben der Weltbevölkerung.
Im letzten Teil des Buches, sinnigerweise „Hoffnungen für die Zukunft“ betitelt, wird Eric Hobsbawm um einen Ausblick gebeten. Das ist insbesondere deshalb sehr sinnig, als er schon qua Alter einen klassischen Repräsentanten des 20. Jahrhunderts darstellt und den größten Teil des 21. Jahrhunderts nicht mehr erleben wird. Gleichzeitig ist es natürlich auch ein Wagnis, denn wie er selbst amüsiert feststellt (bezogen auf seinen Enkel Roman, der 1998 geboren wurde): „Entsprechend glaube ich auch, dass die Erfahrung von jemandem, der wie Roman 1998 geboren wurde, keinen Berührungspunkt mit dem Leben eines Menschen hat, der wie ich 1917 zur Welt kam. Zuviel ist in der Zwischenzeit passiert.“ Dennoch, beharrt er darauf, ist sowohl Menschen wie ihm als auch denen, die in der Gegenwart geboren würden, der Wunsch gemeinsam, eine bessere Welt zu schaffen als diejenige, aus der sie kamen. Und er zitiert den amerikanischen Multimillionär Andrew Carnegie, der einmal – als Atheist und politischer Radikaler – gesagt haben soll: „Ein Multimillionär, der als Multimillionär stirbt, hat sein Leben verschwendet.“ Daraus schließt Hobsbawm, „dass es noch etwas anderes von Bedeutung gibt, als reich und berühmt zu werden.“ Und das ist dann doch durchaus hoffnungsvoll …
Wenn man einmal von dem ein wenig gekünstelt wirkenden „versöhnlichen“ Schluss absieht, enthält das Buch ein ausgezeichnetes, sehr ausführliches „Statement“ eines der bedeutsamsten Historiker unserer Gegenwart, intensiv in seinen Reflexionen und hellsichtig in seinen Ausblicken. Hobsbawm beweist mit diesem langen Interview, das man wirklich jederzeit genießen kann, dass er auch mit über 80 Jahren hellwach und gedanklich am Puls der Zeit ist, nicht eingefahren in alten Geleisen der Forschung oder des Denkens. Das Buch sei deshalb jedem, der diese Denkwelt kennen lernen möchte, sehr ans Herz gelegt. Das Urteil der Süddeutschen Zeitung, „die Dichte des Gesprächs lohnt jede Leseminute“, ist uneingeschränkt zu teilen.
Klare Leseempfehlung!
© 2009 by Uwe Lammers
Ihr merkt schon an meiner modernen Einleitung – ich habe den Text beim Durchgehen an einigen Stellen redigiert, wo die Wen-dungen nicht so recht passten und ihn der Gegenwart etwas angeglichen – , dass ich von dem Buch damals mächtig angetan war. Mit Recht, wie ich immer noch finde. Die Welt ist so übervoll von mittelmäßigen, schwachen Reflexionen in politisch-historischen Büchern, dass jemand, der gleich Hobsbawm auf einen reichen Erfahrungsschatz zurückgreifen kann UND dann auch noch unterhaltsam und geschickt zu argumentieren weiß, eine wahre Wohltat ist. Das ist ein wenig wie mit einem bunten Strauß von belletristischen Schriftstellern, aus denen einige wenige durch ihre brillante Wortwahl herausragen.
So jemand war Eric Hobsbawm, und glücklicherweise hat er in seinem enorm langen Leben jede Menge faszinierende Bücher geschrieben, die mein hungriges Auge erst noch goutieren darf. Ich freue mich darauf schon jetzt.
In der kommenden Woche kehren wir in den erotischen Kosmos um Eva Tramell und Gideon Cross zurück.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Vgl. dazu den Rezensions-Blog 122 vom 26. Juli 2017.
2 Man sollte sich wünschen, dass dieses Büchlein von unseren Regierenden hinreichend gelesen und verinnerlicht wird. Das würde möglicherweise manche abstrusen Pläne der staatlichen Deregulierung für immer in der Mottenkiste verschwinden lassen, und das wäre gut so.