Liebe Freunde des OSM,
Kontrafaktik, das habe ich bestimmt an dieser Stelle schon mal erzählt, ist die Lehre von den geschichtlichen Abläufen, wie sie eben gerade NICHT geschehen sind und ergo dem widersprechen, was in den Geschichtsbüchern steht. Unter traditionellen Historikern gilt Kontrafaktik meist als etwas anrüchig, schließlich handelt es sich formell um Fiktion … aber wiewohl jeder arrivierte Historiker, auf solche Dinge wie Kontrafaktik, alternative Geschichte, virtuelle Historie und wie die Variationen dieses Themas auch immer lauten mögen, abstreiten würde, sich seriös mit so etwas zu befassen, so wenig vermögen sie doch aus ihrer Haut zu schlüpfen.
Damit meine ich: Sie sind Menschen. Sie wissen, dass Geschichte gewissen strukturellen Pfaden folgt. Und dass Geschichte notwendig von Menschen gemacht wird – was in der Quintessenz dazu führt, dass eben diese Menschen selbstverständlich im Fall schicksalshafter Entscheidungen überlegen, wie die Geschichte „hätte verlaufen können“, wenn man bestimmte (meist fatale) Abzweigungen der Historie nicht genommen, gewisse Entscheidungen nicht getroffen hätte.
Will also heißen: Das Denken in historischen Alternativen ist nichts Abseitiges, es ist vielmehr zutiefst menschlich. Das ist Punkt 1. Und Punkt 2 ist insbesondere für kreative Geister, die Geschichten schreiben, noch sehr viel interessanter: bietet doch die Kontrafaktik beispielloses Potenzial für wilde Geschichtenideen. Je näher sie dem historischen Wendepunkt bleiben, desto plausibler sind sie. Wer sich natürlich ausmalt, dass beispielsweise Alexander der Große hoch betagt gestorben wäre denn als recht junger Feldherr, der gerät leicht auf schwankenden Boden. Mit zunehmender Distanz zum Kulminationspunkt, von dem ab die historischen und kontrafaktischen Linien abzweigen, mengen sich einfach zu viele unkalkulierbare Faktoren mit hinein. Da ist dann die Grenze zwischen historisch plausibler Spekulation einerseits und Science Fiction bzw. freier Erfindung recht unscharf.
Robert Cowley hat sich schon vor langer Zeit mit solchen Szenarien befasst. Ich las den vorliegenden Band schon vor beinahe zwanzig Jahren und fand, es sei dringend an der Zeit, ihn euch mal vorzustellen – nicht zuletzt, um die darin vermittelten, beeindruckenden Gedankenexperimente, die leicht ganze Romanserien zur Folge haben könnten, vor eurem neugierigen Auge auszubreiten.
Ich wünsche frohe Lektüre und hoffe sehr, viele dieser Anregungen in Folge fallen auf fruchtbaren Boden und ergeben beizeiten eigene Geschichten. Das würde belegen, dass weder Geschichte an sich noch kontrafaktische Geschichte trocken und uninteressant sind. Allerdings war das noch nie meine Ansicht, andernfalls hätte ich bestimmt nicht Geschichte studiert …
Was wäre gewesen, wenn?
(OT: What If?)
von Robert Cowley (Hg.)
Knaur 77609, München 2002
400 Seiten, TB
Aus dem Amerikanischen von Ilse Utz
ISBN 3-426-77609-X
Man bezeichnet sie als die geheimste Leidenschaft des Historikers, eine Frage, die so anrüchig scheint, dass jeder, dem man sie unterstellt, davor fast entrüstet zurückschreckt und meint, er stelle sich solch eine Frage nicht. Nein, das wäre unseriös, unwissenschaftlich und entbehre im Übrigen jeder Grundlage. Historiker beschäftigten sich doch mit dem, was geschehen ist, nicht mit der Frage Was wäre gewesen, wenn?
Diese Entrüstung ist künstlich.
Jeder Historiker von Namen, den man sich denken kann, hat irgendwo in seinen Werken mehr oder weniger lange Passagen, in denen er sich Gedankenspiele gestattet und ausmalt, was nicht geschehen ist: was wohl hätte geschehen können, wenn jener Feldherr nicht an diesem Tag schlecht geschlafen hätte; wenn er seinen Soldaten eine Ruhepause gegönnt hätte, um sie erst dann in den Kampf zu führen. Die Weltgeschichte könnte anders ausgegangen sein, wenn man bestimmte Dinge getan oder unterlassen hätte. Das geht bei so profanen Dingen wie einem falschen Abendessen los und hört bei verlorenen Nachrichten oder Statusgehabe auf, das der offensichtlichen Logik der Entscheidungen mitunter im Weg steht.
Lange Zeit behandelten die Historiker von Namen dennoch die so genannte Spekulation, die Frage, „Was wäre gewesen, wenn?“ herablassend, geringschätzig. Inzwischen hat sich das Blatt etwas gewendet, ja, es ist ein regelrechter Zweig der Geschichtswissenschaft entstanden, der sich mit kontrafaktischen Geschichtsverläufen beschäftigt (von contra factum = etwas, das gegen die Tatsachen verstößt bzw. sich nicht ereignet hat). Die einen sprechen von kontrafaktischer Geschichte, andere von „virtueller Geschichte“, was dasselbe meint und nur vornehmer klingt.
Bei solchen Untersuchungen wird die Grenze, die Geschichtswissenschaft und Science Fiction trennt, regelmäßig eingerissen. Deshalb ist dieses Gebiet so eminent wichtig für die SF, gewissermaßen ein Feld interdisziplinärer Forschungen. Hier stoßen arrivierte Historiker in die Gefilde der Phantastik vor, in parallele Welten, in alternative Räume, in denen Imperien entstanden, die es nie gab; in denen Reiche untergingen, obwohl sie in unserer Zeit weiterbestanden. Hier starben wichtige Leute früher oder lebten länger, und die sich daraus ergebenden Folgewirkungen sind mitunter von einer extremen Dramatik.
Robert Cowley, der Gründer des Quarterly Journal of Military History (MHQ), hat sich im Jahre 1999 die Mühe gemacht, ausgehend von dieser geänderten Haltung der Historiker – insbesondere natürlich der Militärhistoriker – , Experten zu befragen, was sie als Wendepunkte der Geschichte betrachten würden und wie die Geschichte wohl anders hätte verlaufen können, wenn sie gewissermaßen „am Rad der Zeit drehen könnten“.
Herausgekommen ist ein Band mit beeindruckend und manchmal erschreckend deprimierenden Geschichten, mit Verläufen, die dem halbwegs historisch gebildeten Leser die Haare zu Berge stehen lassen.
Ein paar Beispiele gefällig?
Im Jahre 701 vor Christus stehen die jüdischen Reiche vor der Kapitulation. Eine Stadt nach der anderen fällt an die assyrischen Eroberer unter König Sanherib. Nur eine kleine, unbedeutende Ortschaft namens Jerusalem wehrt sich hartnäckig gegen die Eindringlinge und wird belagert. König Hiskia von Juda vertraut auf seinen Gott Jahwe und auf die Wehrfähigkeit seiner Stadtmauern. Er hat Glück: eine Seuche wütet unter den Belagerern, die daraufhin die Belagerung abbrechen. Sein Kult wird gestärkt, und die Keimzelle des heutigen Judentums, Christentums und Islams entsteht.
Wäre die Seuche jedoch nicht gewesen, hätte Sanherib Jerusalem eingenommen, womöglich ergrimmt über die lange Belagerungszeit seinen Leuten die Plünderung, das Vergewaltigen und Brandschatzen erlaubt und die Bewohner Jerusalems mehr oder minder ausgelöscht. Es gäbe kein Judentum … Man denke munter weiter.
Im Jahre 480 vor Christus sammeln sich die völlig verzweifelten Athener, die schon ihre Stadt aufgegeben haben, zu einer letzten, heroischen Kraftanstrengung, um die Streitkräfte der persischen Eroberer unter ihrem König Xerxes in der Bucht von Salamis zu stellen. Doch sie unterliegen, die Seeschlacht ist das Ende der griechischen Flotte, die Perser überrollen ganz Griechenland und machen Stadt um Stadt zu ihrem Vasallen, bis sich kein Widerstand mehr rührt. Die griechische Philosophie mutiert zum religiösen Kult, der sich an persischem Vorbild orientiert. Das Christentum entsteht nie …
Wäre Alexander der Große schon bei seinem ersten Vorstoß nach Persien gestorben – und er war nur sehr knapp am Tode vorbeigekommen, genauer gesagt, um einen einzigen Schwerthieb – , dann wäre die makedonisch-griechische Armee wohl in die Flucht geschlagen worden und hätte es nicht mehr gewagt, sich Persien zuzuwenden, sondern ihr Expansionsziel im westlichen Mittelmeer gesucht, in Sizilien. Doch dort erwächst ihnen mit den Karthagern in Nordafrika eine kampfesfreudige Rivalenstreitmacht. Als sich Athen als wiedererstarkte Militärmacht auf dem Peloponnes mit Karthago einen verlustreichen, viele Jahrzehnte dauernden Kleinkrieg leistet, wird dadurch die römische Machtposition gestärkt, bis diese in Griechenland einfallen und Athen belagern. Doch: „Die hartnäckige Weigerung der Athener, sich nach einer langen Belagerung zu ergeben, stellte die Geduld der Römer auf eine harte Probe. Als die Mauern der Stadt schließlich fielen, liefen die römischen Soldaten Amok. Die Bevölkerung wurde massakriert, die Stadt niedergebrannt …“
Man kann sich die Folgen für unsere Geschichte denken.
Im Jahre 1242 überrennen die Mongolen Europa. Zwei große Ritterheere werden mit mongolischer Perfektion so brutal und rücksichtslos niedergemetzelt, dass sie nicht den Hauch einer Chance besitzen (realer Ablauf!). Zehntausende von kampferprobten Reitern finden sich im Sommer des Jahres 1242 vor den Mauern von Wien ein, andere fallen über Breslau her, über Krakau und Belgrad. Und von dort ziehen sie weiter, hinterlassen Scheiterhaufen aus brennenden Städten: Wien, Prag, Buda, Hannover, Venedig, München, Rom … als sich die Horde schließlich zurückzieht, in deren Gefolge Pest und andere Seuchen kamen, liegt ein Kontinent in Trümmern, der sich über Jahrhunderte von dieser kulturschänderischen Barbarei nicht erholen wird. Das Mittelalter verlängert sich um ungezählte Jahrhunderte …
Oder was wäre geschehen, wenn die Azteken den schon gefangen genommenen Eroberer Hernán Cortez in Tenochtitlan am 30. Juni 1521 doch geopfert und sein Herz herausgerissen hätten?
Was hätte passieren können, wenn am 8. August 1588 der Wind anders gestanden hätte und der spanische König ein bisschen weniger starrköpfig gewesen wäre? Hätte Spanien England mit der Armada erobert? Große Gegenwehr war nicht zu erwarten …
Auch die Amerikanische Revolution stand an mindestens dreizehn Punkten unmittelbar vor dem Scheitern, einmal hätte sogar ein Soldat der Gegenseite George Washington bequem und problemlos aus dem Sattel pusten können. Er tat es nur nicht, weil er keinem Menschen in den Rücken schoss (hinterher hat er sich wahrscheinlich über seine Skrupel geärgert).
Napoleon ist natürlich ein beliebtes Ziel der Spekulation, das ist auch in diesem Band so. Ebenso die abenteuerliche Geschichte des amerikanischen Bürgerkriegs, wobei besonders das Szenario „Vietnam in Amerika, 1865“ von beklemmender Faszination ist, wenn man sich ein bisschen mit spanischer Geschichte zu napoleonischer Zeit auskennt – denn hier tobte 1809 ein langjähriger, blutiger Guerillakrieg, der schließlich drei Fünftel von Napoleons Armee, einige hunderttausend Mann also, band und seinen Vorstoß nach Moskau schwächte. Und wenn man dann noch weiß, dass der deutsche General Gneisenau ernsthaft erwog, im Jahre 1806 nach der Niederlage gegen Napoleon in Preußen einen Volkskrieg zu führen …1
Unter der Überschrift „Bitte keine Zigarre“, die ich nicht verstand, findet man ein knapp zweiseitiges Szenario, das so unglaublich war, dass ich es dreimal lesen musste. Ich konnte es einfach nicht glauben: Im November des Jahres 1889 befindet sich in Berlin-Charlottenburg Buffalo Bills Wildwest-Show, und der Höhepunkt der Show ist Annie Oakleys Zielschießen. Auf ihre scherzhafte Frage, wer aus dem Publikum nach vorne kommen wolle, um sich die Asche von der Zigarre schießen zu lassen, springt auf einmal ein junger, drahtiger Mann in schneidiger Uniform aus der königlichen Loge: Kaiser Wilhelm II., der erst seit einem Jahr auf dem Thron Deutschlands sitzt. Niemand kann ihn zurückhalten.
Es geht gut. Annies Hand zittert nicht. Aber wenn sie statt der Zigarre seinen Kopf getroffen hätte …
Der brillante Militärhistoriker John Keegan beschreibt, wie Adolf Hitler den Zweiten Weltkrieg hätte gewinnen können – indem er sich dem Nahen Osten zuwandte und die Ölquellen eroberte.
Es wird vom Scheitern des D-Day in der Normandie 1944 gesprochen.
Robert Cowley diskutiert die atemberaubende Möglichkeit eines von den Russen rasch noch besetzten Hokkaido, so dass nicht nur Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg geteilt gewesen wäre, sondern auch Japan. Was die gesamte Geschichte dieser Weltregion komplett umgekrempelt hätte.
Und Robert L. O’Connell erzählt davon, wie wir Europäer und Weltbürger Anfang November 1983 um Haaresbreite einem nuklearen Krieg der Supermächte entgangen sind …
Der Möglichkeiten sind viele, und hier sind Dutzende von Visionen, von alternativen Handlungsszenarien und Entscheidungen aufgeführt, von denen viele in Katastrophen, manche aber auch wieder zurück in die reale Geschichte münden. Sehr plausibel und nüchtern wird hier Szenario um Szenario entworfen, um den geschichtskundigen Leser schaudern zu machen. Doch der SPIEGEL macht es sich zu einfach, wenn er auf dem Klappentext schreibt, es sei „angenehm gruselige Lektüre“.
Es ist mehr.
Man lernt viel über die Geschichte im Allgemeinen und ihre Wendepunkte im Besonderen. Man lernt zudem sehr viele Personen mit all ihren Schwächen und Stärken kennen und bekommt ein Gespür dafür, wie viel in unserem Leben und der menschlichen Geschichte doch vom blanken Zufall diktiert wird. Eine Kugel, die einen Menschen tötet, kann Jahrhunderte verändern. Unter anderem. Es gibt aber auch viele weitere Möglichkeiten, Geschichte umzuschreiben.
Für Phantasten ist dieses Buch fraglos eine ganz erstaunliche Quelle unzähliger Geschichten-Ideen, und jeder, der sich ein bisschen für Geschichte interessiert, sollte sich hierin vertiefen. Er wird sehr bereichert aus diesen Seiten hervorgehen!
© 2002/2018 by Uwe Lammers
Man merke, ich war damals wirklich ganz von der Rolle wegen dieses Buches, und in gewisser Weise bin ich das noch heute. Eine in jederlei Beziehung packende Lektüre und sicherlich eine gute Gelegenheit, verstärktes Interesse für Geschichte im Allgemeinen zu entwickeln – leider Gottes wird ja vielen Schülern durch inadäquaten Geschichtsunterricht genau dieses Interesse abgetötet. Ich hatte da Glück … aber ich gestehe, ich war auch zuvor schon sehr an Geschichte interessiert, wenngleich auch nur an bestimmten Epochen der frühen Antike. Das hier führt dann zu einem wesentlich breiter angelegten Interesse an der Geschichtswissenschaft. Und vielleicht zu mehr …
Soviel für heute. Macht es erst mal gut und bis bald, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Ich habe über dieses Thema in einer Hausarbeit geschrieben: „Die Idee des Volkskriegs in Preußen“, 1995 (unveröffentlicht).