Liebe Freunde des OSM,
lang, lange ist es her, dass ich diesen Roman las und rezensierte – insgesamt 16 Jahre. Das ist auch der Grund, warum wieder mal die bibliografischen Angaben unvollständig überliefert sind, auf die ich damals weniger Wert legte, als es sinnvoll wäre. Aber ich denke, das ist eine lässliche Sünde.
Wieso denke ich das? Nun, zum einen natürlich, weil Friedrich Dürrenmatt, wiewohl schon lange tot, heutzutage immer noch ein klingender Name ist. Zweifelsohne gehören „Die Physiker“ noch zum Lektürekanon des Deutschunterrichts, und das sicherlich nicht nur in der Schweiz. Es dürfte jedem Interessierten also kaum schwer fallen, dieses vorliegende Büchlein ausfindig zu machen.
Zum anderen ist das Thema nach wie vor aktuell. 1986 überschattete die NS-Historie beispielsweise das benachbarte Österreich in der Affäre um Kurt Waldheim, und dass auch die Schweiz in der Nazizeit nur bedingt eine gute Figur machte und NS-Verbrecher mit neuer Identität nach dem Krieg wieder an die alten Karrieren anzuknüpfen vermochten … das alles sind Fakten, die vergleichsweise zeitlos daherkommen und die uns Nachgeborene nach wie vor beschäftigen.
Dürrenmatt führt in diesem schmalen Bändchen exemplarisch dieses Szenario vor Augen und entwirft einen moralischen Mikrokosmos von beunruhigender Intensität, dessen Untiefen man als jemand, der an der jüngsten Zeitgeschichte interessiert ist, unbedingt ausloten sollte.
Und darum schaut euch einfach mal an, wie mein Lesefazit damals ausfiel, und bei Interesse macht euch selbst ein Bild durch die Eigenlektüre:
Der Verdacht
von Friedrich Dürrenmatt
Diogenes 21436
128 Seiten, 1986
Kosten: damals 5.00 DM
Wie entsteht ein Verdacht im Innern eines Menschen, ein tiefsitzender Argwohn, der hartnäckig jedem Versuch widersteht, entkräftet zu werden? Mit dieser Frage betritt der Leser das Feld der Intuition, jenes diffusen Grenzbereichs, in dem die Trennungslinien zwischen Realität und Fiktion, Erdichtetem und Wahn verschwimmen, und so liest sich denn auch ein guter Teil des Romans ernstlich wie der Bericht eines Ertrinkenden, der allerdings aus eigenem Verschulden in diese Misere geraten ist. Und das alles geschieht folgendermaßen:
Man schreibt den November 1948, als Kommissär Bärlach von der Berner Polizei, schon betagt und nach außen hartschalig und abweisend, in ein Krankenhaus eingewiesen wird. Die Diagnose schmettert ihn nieder: Dr. Hungertobel, ein Freund, der ihn behandelt, versucht ihm schonend klarzumachen, dass ihm nur noch ein Jahr bleibe, um seine Sachen zu ordnen.
Da eine Gesundheitsbesserung erkennbar nicht in Sicht ist, wird Bärlach aus dem Dienst in den Ruhestand entlassen. Doch statt hier der Depression zu verfallen, macht der besessene Kriminalist einen überraschenden Zufallsfund. In einer Ausgabe von LIFE entdeckt er ein vages Foto des verbrecherischen KZ-Arztes Dr. Nehle. Und Hungertobel rutscht unwillentlich heraus, dass er ihn an jemanden erinnere, den er selbst persönlich schon lange kenne …
Natürlich, das sei absurd, schließlich ist Dr. Nehle gewiss tot, und der Mann, an den ihn das Foto erinnere, ist ein renommierter Arzt: Dr. Fritz Emmenberger, eine Kapazität, an die sich heute nur die steinreichen Männer und Frauen wenden. Er besitzt die Klinik Sonnenstein auf dem Zürichberg. Aber das, was Bärlach argwöhnt, sei einwandfrei völliger Unfug. Dr. Emmenberger sei während des Krieges schließlich in Chile gewesen und nach Kriegsende in die Schweiz zurückgekehrt …
Dennoch, da ist er – der Verdacht.
Was, denkt sich Bärlach, wenn dieser Dr. Emmenberger doch identisch sei mit Dr. Nehle? Was, wenn die Schweiz unter dem Deckmantel der Ärztezunft ein Ungeheuer berge, das im KZ Stutthof ohne Narkose operiert habe, einen Kriegsverbrecher also, der der Gerechtigkeit überantwortet werden müsste?
Ja, was dann?
Dr. Hungertobel bemüht sich, diesen Verdacht des Kranken zu zerstreuen und bringt weiteres Beweismaterial bei. Aber das Rätsel verstärkt sich eher noch, ein gähnender Abgrund der Ratlosigkeit tut sich auf. Und so beschließt Bärlach endlich, obschon aus dem aktiven Dienst ausgeschieden und so entkräftet, dass er keine Bedrohung mehr für irgendwen darstellt, dem Geheimnis auf den Grund zu gehen. Ohne es zu ahnen, reißt der Autor damit den Leser in einen philosophisch-weltanschaulichen Strudel mit hinunter, bis endlich sich die Falle erbarmungslos zuzieht und der Strick bereits Bärlach zu strangulieren beginnt.
Ja, Bärlach selbst …
Dürrenmatt, dessen kurzer autobiografischer Lebenslauf hinten an diesen kurzen Roman angehängt ist, erweist sich wieder einmal (z. B. nachzuprüfen in „Die Physiker“) als wandlungsfähiger Meister unterschiedlichster Genres. Sowohl anklagende, langatmige Reden findet man hier als auch fein gesponnene Beweisanalysen, die einem Juristen zur Ehre gereicht hätten. Zeitungsmeldungen und Pamphlete heben sich von dem Rest des Textes merklich ab, und von den Charakterzeichnungen der Hauptpersonen wollen wir mal kaum sprechen: von dem unheimlichen Zwerg, dem scheinbar untoten Hünen „Gulliver“, von dem Journalisten Fortschig und natürlich den beiden Antagonisten – Bärlach und Emmenberger.
Auf subtilen, langsamen Pfoten nähert sich so das Grauen hinter der physisch sichtbaren Geschichte dem hilflosen und doch innerlich so stahlharten Kommissär Bärlach. Es nähert sich so an, bis es den Leser und den Protagonisten gleichermaßen umschlingt und nicht mehr loslässt, bis man den Roman ausgelesen hat. Was stets ein Qualitätsurteil eines guten Romans darstellt, wenigstens für mich.
Der 1921 geborene Dürrenmatt sagt noch ganz zum Schluss seiner seltsam unvollständigen Autobiografie einen denkwürdigen Satz, den es lohnt, zu zitieren, denn ich denke, nicht nur ich stimme mit dieser Feststellung überein: „Die Erzählungen, denen man als Kind lauschte, sind entscheidender als die Einflüsse der Literatur.“
Es lohnt sich deshalb, den Dürrenmatt zeitiger zu entdecken, als es bei mir der Fall ist. Man kann von dem unbequemen, knorrigen Schweizer Schriftsteller-Urgestein noch eine Menge lernen. Nicht nur, aber natürlich auch historisch …
© 2005 by Uwe Lammers
Ja, was wäre gewesen, wenn ein NS-Verbrecher unter neuem Namen Zuflucht in der Schweiz gefunden hätte? Das ist das Thema der Geschichte. Und weitere „Was wäre gewesen, wenn?“-Szenarien schauen wir uns in der kommenden Woche an.
Bis dann, Freunde, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.