Liebe Freunde des OSM,
ach ja, Zeitreisen … das ist ein Sujet, um das ich mich sowohl in meinen eigenen Geschichten gern kümmere als auch höchst neugierig solche Romane anderer Verfasser schmökere, in denen es um derartige Reisen geht. Und hier liegt einer vor, den man mutmaßlich schon zu den Klassikern zählen muss. Nicht nur deswegen, weil er mit H. G. Wells und seiner „Zeitmaschine“ DEN Klassiker schlechthin zitiert.
Ich meine, auch wenn Romanstoffe verfilmt werden (über die Qualität von beidem lässt sich dann trefflich streiten), sollte man sich die Werke ein wenig näher anschauen. Im Fall des vorliegenden alten Heyne-Taschenbuchs lohnt sich das in der Tat – deutlich mehr als im Fall des Werkes, auf das ich in der vergangenen Woche zu sprechen kam.
Karl Alexander versucht auf durchaus nette Weise, sowohl Wells‘ Klassiker fortzuspinnen als auch das Mysterium um das Verschwinden von Jack the Ripper aufzuhellen. Derlei Versuche gab es ja bekanntlich zahlreiche.
Also folgt mir einfach mal ins neblige London Ende des 19. Jahrhunderts und sodann, schwupp, via Zeitreise ins sonnige Kalifornien des Jahres 1979:
Flucht ins Heute
(OT: Time After Time)
von Karl Alexander
Heyne 3943
München 1983
272 Seiten, TB
Aus dem Amerikanischen von Reinhard Heinz
ISBN 3-453-30871-9
Man schreibt das Jahr 1893. Der Schriftsteller Herbert George Wells versammelt seine Freunde und Kritiker in einer abendlichen Runde, um ihnen seine neueste Erfindung zu präsentieren – eine waschechte Zeitmaschine, mit der man sich aus dem Hier und Jetzt lösen kann. Doch dummerweise vermag er sie ihnen nicht vorzuführen, da es zu einer verhängnisvollen Komplikation kommt.
Ehe er zur Vorführung schreiten kann, stürmen Polizisten von Scotland Yard das Haus. Sie suchen einen berüchtigten Verbrecher, niemand Geringeren als Jack the Ripper, der nach fünf Jahren Pause wieder mit seinem blutrünstigen Handwerk begonnen hat.
Die Suche bleibt erfolglos – aber Wells entdeckt mit Entsetzen im Anschluss dieses Vorfalls in der Tasche seines Freundes und Gastes John Leslie Stevenson unleugbare Beweise, dass er der Gesuchte ist … und dann muss er feststellen, dass seine Zeitmaschine verschwunden ist.
Jack the Ripper ist entkommen, dank seiner Erfindung!
Glücklicherweise gibt es eine Rückholschaltung, und Wells kann die Verfolgung durch Raum und Zeit aufnehmen, bangen Herzens, denn tief in seinem Herzen ist er ein friedliebender Mensch, und Gewalt ist ihm verhasst. Er empfindet es dennoch als seine Pflicht, den Verbrecher einzufangen und der Gerechtigkeit zuzuführen.
Zu seiner nicht geringen Verwirrung findet er sich im Jahre 1979 wieder (dem Ersterscheinungszeitpunkt des vorliegenden Romans, daraus resultiert der deutsche Titel), und zwar in San Francisco. Allerdings wird ihm schnell klar, woran das liegt: Seine Zeitmaschine „Utopia“ ist hier Teil einer Wanderausstellung.
Das Abenteuer 20. Jahrhundert durch die Linse von Wells´ Augen zu erleben, ist eine amüsante Achterbahnfahrt, die äußerst lesenswert ist. Für eine Weile verschwindet fast das Missionsziel aus dem Blick, einen blutrünstigen Massenmörder aufzuhalten – zumindest solange, bis Jack the Ripper in der amerikanischen Metropole zu morden beginnt. Und diesmal scheint es ganz so, als ob die Zeit selbst sein Verbündeter ist …
Den vorliegenden Roman las ich erstmals im Dezember 1988, als ich ihn als Teil eines umfangreichen Romankonvoluts eines Antiquariats erwarb. Damals versäumte ich es allerdings, ihn zu rezensieren, und die Erinnerung an das Werk war nach knapp 30 Jahren Lesedistanz entsprechend diffus. Es handelte sich aber auch bei der Zweitlektüre um ein ordentliches Vergnügen. Solide übersetzt, kommen der Wortwitz und die bizarren Trugschlüsse von Wells und Stephenson sowie die amüsanten Wortgefechte vergnüglich herüber.
Dass es sich indes, wie der Klappentext vollmundig verspricht, um einen „brillanten Roman“ handelt, „der auch die vertrackteste Logik der Zeitparadoxa mühelos überspielt“, kann man eher nicht behaupten. Handwerklich gelungen, ja, kompliziert … eher nicht. Die „komplexe Handlung“ ließe sich mit wenigen Sätzen zusammenfassen, und es gibt hier gewisse Standardzutaten wie die leichtlebigen Frauen von San Francisco sowie die phantasielosen Polizisten … dass es von Karl Alexander offensichtlich keine weiteren Veröffentlichungen gegeben hat, spricht eher für die Deutung, dass der Autor in diesem Werk schon sein ganzes Pulver verschossen hatte. Es ist zwar so, dass der Roman im Erscheinungsjahr erfolgreich als Film unter der Regie von Nicholas Meyer in die Kinos kam, aber von weiteren Romanen von Alexander (1938-2015) ist gleichwohl nichts bekannt. Lediglich ein Sequel des o. g. Werks aus seiner Feder wird noch erwähnt, das aber wahrscheinlich nie ins Deutsche übertragen wurde.
Gleichwohl – wer Zeitreiseromane mag, eine romantische Ader besitzt und vielleicht noch neugierig darauf ist, warum wohl Jack the Ripper nie gefasst wurde, der ist mit diesem Roman gut versorgt und kann ein paar Stunden lang auf angenehme Weise aus der Gegenwart ausklinken. Es gibt definitiv sehr viel trübsinnigere Lektüren, wie ich finde. Das Buch wird auch nach zweimaliger Lektüre gewiss in meinem Bücherregal verbleiben.
Klare Leseempfehlung.
© 2016 by Uwe Lammers
In der nächsten Woche kehren wir dann in den Schlussakkord der „Calendar Girl“-Romanreihe zurück und erfahren endlich Näheres über die vertrackten Familienverhältnisse von Mia Saunders und darüber, ob sie nun ihr Liebesglück findet oder eher nicht.
Neugierig bleiben, Freunde!
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.