Rezensions-Blog 314: Die Muschel auf dem Berg

Posted März 31st, 2021 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

heute stelle ich euch mal wieder ein echtes kleines Schmankerl der Wissenschaftsgeschichte vor, das ich ausdrücklich als Ent­deckung ans Herz lege. Vor fünfzehn Jahren kaufte ich das Buch neugierig und verschlang es binnen vier Tagen – das passiert mir mit Belletristik natürlich häufig, aber historisch-biografische Werke brauchen in der Regel etwas länger.

Hier war das Thema so unwiderstehlich, die Prosa so flüssig übersetzt und die Vita von Nicolaus Steno so pointiert darge­stellt, zudem die wiedergegebenen landläufigen Ansichten des 17. Jahrhunderts derart … ja, ich sage mal, bizarr, dass ich ein­fach zum unentwegten Weiterlesen animiert wurde.

Und was es da nicht für verrückte Ideen gab. Kristalle, die man für „versteinertes Eis“ hielt. Versteinerungen, die wahlweise von der Erde selbst als Manifestationen ausgeschwitzt wurden oder vom Himmel fielen … abenteuerlich für uns Heutige. Aber wenn man den Denkhorizont der meisten, überwiegend christlich sozialisierten und zudem nahezu komplett analphabetischen Men­schen von einst berücksichtigt, durchaus auf eigenwillige Weise konsistent.

Die Welt war, wiewohl dieselbe, auf der wir heutzutage weilen, mental doch eine vollkommen andere. Der Glaube an die unbe­dingte Zuverlässigkeit antiker Autoren und Philosophen bzw. der Heiligen Schrift erzeugte, wenn man auf Phänomene stieß, die man sich einfach nicht erklären konnte, eine verwegene Form von legitimierender Erklärung, die dann freilich durchaus heid­nischer Natur sein konnte … ohne dass man da einen impliziten Widerspruch zur Bibel sah.

Eine eigenartige Welt, eindeutig. Und Nicolaus Steno als wacher Geist und Wissenschaftler machte sich daran, die alten Denkge­wohnheiten durch kritisches Hinterfragen in einer äußerst un­willkommenen Weise zu kontrollieren, und in mancherlei Fällen kam er zu dem Schluss, dass die bisherigen Mutmaßungen eben nur dies waren, nämlich Mutmaßungen. Und dass sie in den weitaus meisten Fällen sehr weitab lagen von der Realität (die allerdings auch er nur in Umrissen erkannte, dafür war die Zeit meistenteils noch nicht reif).

Wer gern in die seltsame Denkwelt des 17. Jahrhunderts eintau­chen will und die Denkpfade von Nicolaus Steno verfolgen möchte, um herauszufinden, was mit der titelgebenden „Mu­schel auf dem Berg“ denn nun konkret gemeint ist, der sollte einfach mal weiterlesen:

Die Muschel auf dem Berg

(OT: The Seashell on the Mountaintop)

Über Nicolaus Steno und die Anfänge der Geologie

von Alan Cutler

Knaus-Verlag, 2004

260 Seiten, geb.

ISBN 3-8135-0188-4

Deutsch von Harold Stadler

Das Phänomen war schon lange bekannt, und niemand hatte das Rätsel jemals lösen können: bereits in antiken Zeiten be­richteten Geschichtsschreiber und Autoren, ja, selbst Philoso­phen von Reisen in ferne, meist gebirgige Gegenden der Welt, und was brachten sie von dort für Kunde mit?

Sie hatten in Steinbrüchen, an den Hängen und auf Hügeln doch tatsächlich seltsame Dinge gefunden, die ihnen auf obskure Weise vertraut schienen: Steine, die aussahen wie Muscheln. Oder wie Seeschnecken. Oder wie Korallen. Andere wieder, etwa die legendären „Zungensteine“, sahen fast so aus, als wä­ren es zu Stein erstarrte Zähne blutgieriger Raubfische.

Das alles war natürlich völlig unmöglich, denn wie sollte bei­spielsweise ein Haifisch auf einen Acker im Innern der Insel Mal­ta gelangen und dort seine Zähne verlieren? Zudem gab es na­türlich keine Fische, deren Zähne aus Fels bestanden, und Fels war es unbestreitbar.

Auch wuchsen selbstverständlich keine Muscheln in den Gebir­gen, schließlich hatte Gott der Schöpfer selbst bestimmt, dass sie nur im Meer vorkamen. Und in Anbetracht der Tatsache, dass die Erde selbst erst im Jahre 4004 vor Christus vom Schöp­fer erschaffen worden war, gab es, als das Christentum schließ­lich die vorherrschende Denkrichtung wurde, die die Welt erklär­te, gewisse Schwierigkeiten mit diesem Phänomen.

Nun, oder auch nicht.

Als im Jahre 1666 der dänische Anatom Nicolaus Steno in Flo­renz im Auftrag seines Gönners aus dem Haus der Medici den Kopf eines gigantischen Haies sezierte, schien dieses Thema vollständig fern zu sein und nicht im Mindesten mit dem zu tun zu haben, was er tat, und doch sollte Nicolaus Steno sich hart­näckig an der Frage der „Muscheln auf dem Berg“ festbeißen und eine eigene Theorie entwickeln, die schließlich entgegen al­ler Wahrscheinlichkeit langfristige Gültigkeit beanspruchen wür­de.

Nicolaus Steno, 1638 in Kopenhagen auf der Insel Seeland ge­boren während der Wirren des Dreißigjährigen Krieges, die sich hier in fortwährenden militärischen Gemetzeln zwischen den Dänen und den Schweden äußerten, war anfangs kein vom Schicksal begünstigter Mann. Sein Vater starb früh, seine Mutter verheiratete sich wieder, Stenos Studium der Medizin musste er abbrechen, konnte es dann aber im Ausland später vollenden, mit Hilfe von Gönnern, die sein Talent erkannten.

Stenos Talent lag in einer beispiellos ruhigen Hand und einer un­wahrscheinlich präzisen Beobachtungsgabe verborgen, die ihn geradezu zum Anatomen prädestinierte. Bei der Sektion von Leichen entdeckte er dabei allerdings Dinge, die ganze Genera­tionen von Anatomen vor ihm schlicht nicht entdeckt hatten. Und wie das bei anerkannten „Autoritäten“ auch heute gern so ist, wurde Stenos Entdeckung zunächst als Irrtum interpretiert … und dann von Stenos auf diese Weise bloßgestelltem Vorgesetzten als eigene Entdeckung ausgegeben. Der durchaus streitlustige Däne machte so nachdrückliche negative Erfahrungen mit dem wissenschaftlichen Establishment.

Schlimmer noch: indem er durch seine anatomischen Untersu­chungen feststellte, dass der von ihm verehrte (und kurz zuvor verstorbene) Philosoph René Descartes schlicht Unrecht hatte mit seiner mechanistischen Lehre vom Ursprung der menschli­chen Bewegungen, erwachte in ihm ein skeptischer Argwohn gegen jede Art von etablierter Doktrin und Lehre.

Universell gebildet und weit herumgekommen, unter anderem auch in den Sammlungen europäischer Adeliger und Professo­ren, kam es schließlich auch, dass er in Florenz bei der Sektion des Haifischkopfes ein besonderes Augenmerk auf die Zähne legte.

Denn er hatte dergleichen schon gesehen, freilich aus Stein: so­genannte „Glossopetren“, also „Zungensteine“, die besonders häufig auf der Insel Malta gefunden wurden. Es gab einige in seinen Augen recht abenteuerliche Erklärungsversuche. Ein paar seien mal aus dem Buch zitiert:

Weil die Zungensteine oft verstreut auf der kargen Krume ge­funden wurden, glaubten viele Menschen, sie fielen vom Him­mel.“

Nicht sehr plausibel? Na, wie ist es dann mit dieser Erklärung?

Glossopetren waren am häufigsten nach starken Gewittern zu finden (behauptete der römische Naturphilosoph Plinius, der es als anerkannte Autorität ja wissen sollte), was die alternative Theorie aufkommen ließ, es handle sich um Scherben von Blit­zen.“

Auch das konnte Nicolaus Steno nicht sonderlich überzeugen.

Die Bibel berichtete ferner von einer dritten Erklärungsmöglich­keit, die akzeptabler schien. Sie hatte zu tun mit einer Reise des Apostels Paulus, die ihn auf Malta stranden ließ (und man erin­nere sich, dort fand man besonders viele Zungensteine). Hier wurde der Apostel von einer giftigen Schlange gebissen. Weiter hieß es: „Doch zum Erstaunen aller schüttelte Paulus die Schlange ohne jegliche Folgen ab. Die Malteser glaubten, Pau­lus habe die Schlangen deshalb mit einem Fluch belegt und ih­nen die Giftzähne geraubt. Zum Gedenken an das Wunder des Paulus habe die Natur Steine in Form von Schlangenzähnen her­vorgebracht. Diese Geschichte lieferte nicht nur eine Erklärung für die Steine selbst, sondern auch für deren Wirkung gegen Gif­te.“

Wie gesagt, all das überzeugte den streng gläubigen, damals noch protestantischen Dänen nicht. Für die meisten Menschen schien das, so erstaunlich uns das heute anmutet, aber auch gar kein Problem zu sein. Ganz im Gegenteil! Denn sowohl für die Zungensteine als auch für Muscheln im Fels boten sich eine Vielzahl anderer Deutungen an, die offensichtlich freimütig ak­zeptiert wurden:

Nach dem Denken der Zeit gab es viele weitaus plausiblere Er­klärungen für das Wachstum von Muscheln im Gestein als et­waige Verschiebungen von Land und Meer. Der Kosmos wurde als Netz astraler Einflüsse und okkulter Wechselwirkungen an­gesehen. Die Erde lebte und bebte vor ‚plastischen Kräften‘ und ‚generativen Prinzipien‘ und triefte von ‚gesteinsbildenden Säf­ten‘ und ‚feuchten Ausdünstungen‘. Steine von jeder erdenkli­chen Gestalt wuchsen wie Pflanzen und fielen auch mit dem Re­gen zu Boden.“

Überhaupt machten sich selbst die gelehrten Wissenschaftler und Theologen, die sich an griechischen Klassikern orientierten, nur relativ wenige Gedanken darüber, dass sich die Altvorderen vielleicht getäuscht haben mochten. Es ist unwahrscheinlich, dass viele Leute die Behauptung antiker Autoren hinterfragten, derzufolge Kristalle nichts anderes seien als „versteinertes Eis“.1

Es konnte also nicht ausbleiben, dass uralte Denkmuster sich hartnäckig hielten:

Nach der alten Hypothese der Spontanzeugung konnten Mu­scheln ebenso leicht auf dem trockenen Land entstehen wie im Meer … Es entsprach ihrer Natur (schrieb Aristoteles), überall dort spontan zu wachsen, wo günstige Bedingungen herrschten. Wieso sollten Muscheln und Austern, vielleicht nach einem or­dentlichen Regenguss, nicht in salzigen Wüstenböden oder kal­kigem Gebirgsgestein sprießen?“

Außerdem ging man davon aus, dass „die charakteristischen Merkmale einer Tier- oder Pflanzenart … nicht durch ein vererb­tes inneres Programm bestimmt …, sondern von der Weltseele und der Sphäre der Ewigen Formen in diese hineingestrahlt (wurden) … Von allen irdischen Sphären reichten die Berggipfel am nächsten an die himmlische Sphäre heran, in der die Ewi­gen Formen angeblich wohnten. War es nicht denkbar, dass sie bisweilen Muschelemanationen abfingen, die für den Meeresbo­den bestimmt waren …?“

Und dann kam Nicolaus Steno, der nur dem traute, was seine scharfen Augen und sein flinker Verstand ihm sagten. Naturge­mäß begann damit auch eine Krise des Denkens und der hart­näckigen Auseinandersetzungen …

Der englische Paläontologe und Geologe Alan Cutler hat mit die­sem schmalen Bändchen ein Buch vorgelegt, das er ausdrück­lich als „nicht wissenschaftlich“ bezeichnet, das sich also an den interessierten Laien richtet. Es arbeitet ausführlich das Leben des Anatomen, Geologen und Theologen Nicolaus Steno heraus, ausdrücklich vor dem uns faszinierend fremden Denkhinter­grund der Mentalität des 17. Jahrhunderts, in einer Zeit also, in der Theologie und Mystik noch mehrheitlich die Welterklärung leisten und Aberglaube in den unterschiedlichsten und abenteu­erlichsten Schattierungen Gang und Gäbe ist.

Wer als Wissenschaftler, insbesondere als Historiker dieses Buch liest, wird vielleicht bedauern, dass es nicht über eine Fuß­notenkommentierung verfügt, dürfte aber durch das mehrseiti­ge alphabetische Register und das Literaturverzeichnis entschä­digt werden. Zudem muss man Cutler und seinem Übersetzer attestieren, dass das Buch sowohl flüssig geschrieben als auch übersetzt worden ist, und Langeweile kommt wahrhaftig nir­gends auf.

Ganz im Gegenteil: Wer wie ich das Buch binnen von 4 Tagen liest, wird neue Fragen in sich aufsteigen fühlen. Etwa diese: Wer genau war dieser Universalgelehrte Athanasius Kircher, und wie konnte er auf diese absolut abenteuerlichen Lehren kom­men, die sich im 18. Jahrhundert, durchaus mit Billigung der Kir­che, europaweit ausbreiteten? Denn er war, wenn man genau ist, quasi ein „Bestsellerautor“ des 18. Jahrhunderts. Oder auch die Frage: Wie ging die Kirche mit dem wirklich sehr weit ver­breiteten Aberglauben an eine mit Selbstzeugungskraft beseel­te Erde um, die ja eine direkte Konkurrenz zur kirchlichen Lehre darstellte?

Bücher, die spannende Fragen aufwerfen und uns wie von Ar­chäologen gegrabene Schächte einen Blick in die Tiefen der menschlichen Geschichte und der dort beheimateten Psyche werfen lassen, halte ich persönlich für gelungene Werke. In die­sem Fall sei Cutlers Buch all jenen empfohlen, die sich nicht vom vermeintlich „trockenen“ Gegenstand der Geologie ab­schrecken lassen. An diesem Gegenstand ist fürwahr gar nichts Trockenes! Auch wenn man die fossilen „Muscheln auf dem Ber­ge“ nun einmal selten im Meer antrifft …

© 2006 by Uwe Lammers

Ihr merkt, ich bin immer noch sehr angetan von diesem Werk. Lektüre lohnt sich also auch nach all der langen, seither verstrichenen Zeit unbedingt. In der kommenden Woche bleiben wir bei Biografien, landen aber mitten im 20. Jahrhundert in Deutschland. Und, versprochen, es wird phantastisch!

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Vgl. GEO 2/1984.

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