Liebe Freunde des OSM,
na klar, das konnte nur eine Frage der Zeit sein, nicht wahr, bis die bestimmte Frage aufkam: Sowohl Sherlock Holmes (wenn man von seiner realen Existenz ausgehen könnte) wie der Massenmörder Jack the Ripper, der nie gefasst wurde – soweit man weiß – , agierten zur gleichen Zeit in derselben Metropole, nämlich London. Also musste unvermeidlich die Frage aufkommen, wie Arthur Conan Doyle so blind sein konnte, seinen legendären Detektiv nicht auf diesen Kriminellen anzusetzen.
Nun, natürlich gab es diverse literarische Versuche, dies hier ist einer davon. Ein weiterer, und deshalb kam mir das Buch so unglaublich vertraut vor, ist die Filmversion, auf der dieses Buch mutmaßlich fußt, ein Film, in dem die junge Judi Dench – man kennt sie heutzutage besonders aus den James Bond-Filmen in der Rolle der „M“ – eine nicht unmaßgebliche Rolle spielte. Der Film heißt „A Study in Terror“ (1965) und ist durchaus sehenswert. Dieser kommt allerdings glücklicherweise ohne die närrischen und störenden Interventionen eines gewissen Ellery Queen aus.
Ihr merkt schon, ich bin von dem Roman nur bedingt angetan. Aber wer ein eingefleischter Sherlock-Fan ist, mag vielleicht danach suchen. Darum Vorhang auf für den Roman dieser Woche:
Sherlock Holmes und Jack the Ripper
(OT: Ellery Queen vs. Jack the Ripper. A Study in Terror)
Ein Ellery Queen-Krimi
von Ellery Queen (alias Frederic Danney und Manfred Benington Lee)
DuMont’s Kriminal-Bibliothek 1017
216 Seiten, TB, 1989
ISBN 3-7701-2188-0
Aus dem Amerikanischen von Manfred Allié
Warum, so fragt man sich seit mehr als hundert Jahren, hat sich wohl der legendäre Detektiv Sherlock Holmes aus der Baker Street in London, der anerkanntermaßen im Zeitfenster zwischen 1880 und 1914 in London und im südlichen England wirkte und Kriminalfälle mit scharfsinniger Klugheit und Kaltblütigkeit löste, sich wohl nie um den wohl blutrünstigsten und rätselhaftesten Killer gekümmert, der im Jahre 1888 im nebligen London sein Unwesen trieb und wenigstens fünf Frauen auf bestialische Weise ermordete?
Warum ermittelte Sherlock Holmes niemals gegen Jack the Ripper?
Lassen wir die Bemerkung mal außer Betracht, dass Holmes eine literarische Figur ist – und fragen uns, ob es denn wirklich keinen Ansatz von dieser Seite her gab, dem Schlächter von Whitechapel auf die Spur zu kommen? Nun, einen solchen Versuch wenigstens gab es schon.
So vermittelt es uns der vorliegende Roman, der uns geradewegs zurück führt in den düsteren Abgrund des Londoner Armenviertels Whitechapel und das Duo Holmes und Watson in der Tat ermitteln lässt.
Und alles kommt folgendermaßen ins Rollen …
Der Krimischriftsteller Ellery Queen (der, wiewohl selbst ein Pseudonym und damit eine fiktive Gestalt, hier als reale Gestalt behandelt wird, womit sich zusammen mit Holmes und Watson schon drei Phantome auf diesen Seiten tummeln, die sich materiell manifestieren – eine Konstellation, die nicht ohne Reiz ist) plagt sich mit seinem neuen Romanskript, als ihn der Freund und die millionenschwere Nervensäge Grant Ames III. aufsucht. Er trinkt ihm seinen Gin weg und tischt ihm eine obskure Geschichte auf. Nach Besuch bei einer Party fand er ein altes Manuskript in seinem Auto, das er bei Ellery Queen abgeben solle.
Die Seiten, offenbar aus dem Ende des 19. Jahrhunderts stammend, scheinen ein unbekanntes Sherlock Holmes-Werk aus der Feder von Dr. John Watson zu sein. Und dieses auf Herbst 1888 datierte Werk beschäftigt sich mit nichts Geringerem als der Jagd des Meisterdetektivs auf die mordende Bestie von Whitechapel, Jack the Ripper.
Zunächst erhält Holmes ein Chirurgenbesteck zugestellt, dem das Skalpell fehlt. Ein verborgenes Wappen führt zur Adelsfamilie derer von Shires. Der Herzog, dem Holmes das Besteck zurückgeben will, verleugnet, es zu kennen, ungeachtet des Wappens. Er meint aber, es habe wohl seinem verstorbenen Sohn Michael gehört, über den er nicht bereit ist, mehr zu erzählen.
Als Watson und Holmes auf dem Rückweg über den zweiten Sohn des Herzogs stolpern, Lord Carfax, und seine kleine Tochter Deborah, da entdecken sie, dass Michael vermutlich nicht tot ist, sondern nur für tot erklärt wurde, weil er eine Prostituierte geheiratet hat, während er in Paris Medizin studierte. Sein Vater hat ihn von da ab verstoßen.
Von dort führen die Recherchepfade in die verschlungenen Gassen von Whitechapel, zu einem undurchsichtigen Pfandleiher, einem Armenhaus und einer benachbarten Leichenhalle sowie zu einem verrufenen Gasthaus. Und wiewohl Holmes eigentlich kein Interesse verspürt, sich mit Jack the Ripper zu befassen, führen die verheerenden Pfade doch direkt zu diesem Ungeheuer hin und unausweichlich zur direkten Konfrontation …
Ich muss zugeben, ich habe das Buch – sehr kurzweilig geschrieben übrigens, ungeachtet aller Kritik – binnen von zwei Tagen neugierig verschlungen. Aber ab Seite 126, als mir ein unentschuldbarer Kanon-Verstoß auffiel, hat mein Interesse doch sehr deutlich nachgelassen. Da elf von 24 Kapiteln brüske Ausbrüche aus der Handlungsvergangenheit darstellen, wird man als Leser doch immer wieder auf unschöne Weise aus der Handlung gerissen. In dem offenkundigen Versuch, witzig zu sein, erreichen die beiden Autoren, wenigstens bei mir, der ich noch keine weiteren Ellery Queen-Romane kenne, dass eine gewisse unterschwellige Dauerfrustration eintritt.
Ich möchte daran zweifeln, dass ich der charakteristische Ellery Queen-Leser bin oder werden kann, wenn dieser Roman symptomatisch für ihre Art des Schreibens ist. Kurz gefasst wäre der vorliegende Stoff wohl nur für eine Novelle tauglich gewesen. Das Buch macht darum einen etwas „aufgepumpten“ Eindruck, wenn man mir die wenig schmeichelhafte Bemerkung gestattet.
Da man Toten nichts übermäßig Unschönes nachsagen soll – die Verfasser sind 1982 bzw. schon 1971 verstorben, das Buch selbst anno 1966 entstanden – möchte ich mich mal kurz halten bei dem entdeckten Fehler, der unabweislich belegt, dass es sich entgegen der suggerierten Fiktion hierbei natürlich nicht um ein Originalmanuskript von Dr. Watson (aka Arthur Conan Doyle) handelt. Auf der Suche nach einer Erklärung, wer hinter den Vorkommnissen rings um Michael und das Chirurgenbesteck wohl die Fäden ziehen mag, kommt Watson auf Seite 126 auf die Idee, es könne „Professor James Moriarty“ sein, was Holmes sofort zurückweist.
Ich dachte, ich bekomme gleich Zahnschmerzen.
Moriarty, der „Napoleon des Verbrechens“ und großer Antagonist von Sherlock Holmes, wird erstmals von Watson in der Geschichte „Das letzte Problem“ erwähnt. Danach ist Holmes aber bekanntlich 3 Jahre verschwunden gewesen und wurde für tot erklärt. Wenn man, wie die gängige Chronologie recht übereinstimmend aussagt, den Reichenbach-Vorfall (und Holmes´ wie Moriartys vermeintlicher Tod) in das Jahr 1890 oder 1891 datiert, so kann Watson von Moriarty erstmals dann erfahren haben. Was also hat Moriarty in einem Fall zu suchen, der fast tagesgenau in den Herbst 1888 datiert ist?
Richtig: gar nichts.
Da Watson solche Erinnerungsfehler wohl selbst in hohem Alter nicht unterlaufen wären, liegt der Fehler eindeutig bei schlampiger Vorrecherche der Verfasser. Der Grund für Moriartys Auftauchen ist zugleich so plump wie verständlich: die Autoren suchten händeringend nach einem Schurkennamen, den sie als „spiritus rector“ für das Verbrechen heranziehen könnten, und der einzige, der ihnen einfiel und den Doyle jemals (abgesehen von Irene Adler, die hier aber allein schon aus geschlechtsspezifischen Gründen nicht in Betracht käme) in seinem Werk genannt ist, ist eben: Moriarty.
Peinlich, weil sofort als Fehler zu erkennen, bleibt das gleichwohl.
Noch peinlicher fand ich, dass auch dem Verfasser des durchaus sehr tiefgründigen Nachwortes, Volker Neuhaus, dieser Lapsus nicht auffiel. Womit er leider ebenfalls dokumentierte, dass er zwar in den Marginalia im Falle Doyle sowie in der Literaturgeschichte der Holmsiana gut bewandert ist, hier aber einen betrüblichen blinden Fleck aufweist und die Chronologie nicht wirklich beherrscht.
Der Fall selbst … nun ja, Ellery Queen beweist einiges analytisches Geschick, das das eines Dr. John Watson in diesem Fall deutlich übertrifft. Aber wenn man sich mal die relativ schmale Basis an Verdächtigen ansieht und die Hintergrundmotive, dann muss man sich schon fragen, warum der Detektiv so lange erkennbar im Trüben fischt, ehe er auf dramatische Weise einer Nebenspur nachgeht und das Grauen dann schließlich – mit massiver Mithilfe Dritter – doch noch zum Abschluss bringen kann.
Interessant sind natürlich gewisse Details, die darauf schließen lassen, dass die Romanverfasser sich zumindest ein kleines bisschen in die Ermittlungen im Fall Jack the Ripper eingelesen hatten.1 So wird verschiedentlich angedeutet, dass vermögende Personen in die Geschichte verwickelt gewesen sein könnten (es gibt Spekulationen, die das britische Königshaus in die Angelegenheit hineinzogen – was hinreichend Anlass für Vertuschungsaktionen gewesen wäre). Und es gibt zumindest eine Passage, die auf einen Maler hindeutet. Erst 2002 ging die Krimiautorin Patricia Cornwell diesen Indizien nach und schloss, dass der Maler Walter Sickert in Wahrheit Jack the Ripper gewesen sei.2 Die tatsächliche Identität des Rippers ist bis heute nicht zweifelsfrei geklärt.
Die Gesamtanalyse des vorliegenden Romans ergibt darum für mich das Bild eines klassischen Trittbrettfahrers, das Endergebnis ist entsprechend durchschnittlich. Um es böse zu formulieren: den Verfassern fiel gerade kein gescheiter Krimistoff ein, also griffen sie auf ein fiktives Manuskript von Dr. John Watson zurück, klaubten ein paar Fakten zu Whitechapel und Jack the Ripper und kochten daraus ein unterhaltsames kleines Krimisüppchen … mit dem bedauerlichen Nachteil, dass man relativ bald unter besserer Berücksichtigung der Motive ahnt, wer der Mörder unweigerlich sein MUSS. Auch wenn Watsons Tagebuch hartnäckig einen anderen Kandidaten ins Visier nimmt.
Netter Versuch, aber nicht wirklich als gelungen zu bezeichnen (in den Ellery-Kapiteln spürt man ständig den Widerwillen, sich des Stoffes ernsthaft anzunehmen … für Leser nicht eben angenehm!). Echte Holmsianer wären davon mit Fug und Recht ziemlich enttäuscht, und jeder, der sich im Fall des Jack the Ripper ein wenig auskennt, ebenso. Ein bisschen mehr Mühe hätte hieraus ein interessantes Werk gemacht – so blieb es leider Durchschnitt, gerade einmal geeignet für ein oberflächliches, vermutlich primär amerikanisches Leseklientel. Oder für unerschütterliche Ellery Queen-Fans, die gibt es vielleicht ja auch.
© 2019 by Uwe Lammers
Versprochen, Freunde, in der kommenden Woche wird es wieder deutlich interessanter. Da landen wir – mal wieder, mag manch einer von euch seufzend sagen – bei Clive Cussler & Co., aber der Roman hatte eine bemerkenswerte Überraschung in petto.
Mehr dazu in der kommenden Woche.
Bis demnächst, Freunde, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
(BS, 10. Juli 2020)
1 Allerdings nicht sehr gründlich, wie mir scheinen will, wenn man sich die Chronologie der Morde anschaut. Mary Ann „Polly“ Nichols, die als einzige hier namentlich erwähnt wird, ist das erste der fünf Ripper-Opfer und stirbt am 31. August 1888. Hier hat es den Anschein, als sei sie ein späteres Opfer geworden, aber vor dem Mord an ihr wird vom Ripper noch gar nicht gesprochen! Erst danach macht er sich in Briefen an Scotland Yard einen Namen als „Ripper“ und wird zum Alptraum von London. Die anderen Opfer folgen am 8. September (Annie Chapman), 30. September (keine Verstümmelungen), ebenfalls am 30. September Catherine Eddowes, und schlussendlich Mary Jane Kelly am 9. November, die in einem Zimmer geradezu ausgeweidet wird. Der Roman vermittelt demgegenüber die Vorstellung, alle Morde seien im Laufe weniger Tage oder Wochen geschehen, nicht verteilt über ein Vierteljahr. Die Daten stammen aus Shirley Harrison: Das Tagebuch von Jack the Ripper, Bergisch-Gladbach 1998.
2 Vgl. Patricia Cornwell: Wer war Jack the Ripper?, Hamburg 2002.