Rezensions-Blog 302: Piranha

Posted Januar 5th, 2021 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

Piranhas sind eigentlich sehr hungrige, in der Regel verrufene Raubfische in südamerikanischen Gewässern. Aber mit diesen Tieren oder einem Horror-Schocker, in dem es um mutierte Fi­sche dieser Spezies gehen könnte, handelt es sich hierbei nicht im Entferntesten. Tatsächlich ist der Titel sogar etwas irrefüh­rend. Zwar weist er auf eine wichtige technische Errungenschaft hin, aber die wirkliche Gefahr schleicht sich unsichtbar an Juan Cabrillo und seine Crew heran, und am Anfang haben sie nichts als eine seltsame Zahlenfolge, die für sie völlig nutzlos ist – und doch bedeutet ihre bloße Kenntnis beinahe den Tod für die ge­samte Mannschaft der OREGON.

Mit Boyd Morrison betritt ein neuer Coautor bei Clive Cussler, dem jüngst verstorbenen Abenteuerroman-Autor die Bühne … und es ist ein echt phantastischer Glücksgriff, wie ich an diesem Roman erleben sollte. Ich empfehle euch ernsthaft: macht es nicht wie ich und versucht, einfach abends nur ein paar Kapitel anzulesen – ich bin sicher, ihr würdet daraus ebenso wenig wie­der aussteigen können, wie ich es konnte.

Das Buch ist ein echter pageturner, nicht zuletzt, weil man drin­gend wissen möchte, wie der Villain, mit dem es Cabrillo hier zu tun hat, eigentlich anstellt, der OREGON-Crew immer, teilweise auf fast mörderische Weise, einen Schritt voraus zu sein.

Das hat alles mit dem legendären und fiktiven Land „Oz“ zu tun, wie es scheint. Und mit einer Technologie, die schiere Science Fiction ist.

Vorhang auf für das Abenteuer:

Piranha

(OT: Piranha)

Von Clive Cussler & Boyd Morrison

Blanvalet 0309

2016, 9.99 Euro

512 Seiten, TB

Übersetzt von Michael Kubiak

ISBN 978-3-7341-0309-4

Man schreibt den 8. Mai 1902, als die SS Roraima im Hafen von St. Pierre auf der karibischen Insel Martinique vor Anker geht. Niemand ahnt, dass sie geradewegs in der Hölle gelandet sind – auch wenn der rauchende Feuerberg im Hinterland der Karibik­stadt finster dräut und das Meer voller Asche ist. Auch der deut­sche Physiker Günther Lutzen ahnt das nicht, der an Bord ist. Er wird ebenso wie nahezu alle anderen Menschen ringsherum ein Opfer des verheerenden Vulkanausbruchs des Mont Pelée, der an diesem Tag die Insel verwüstet und 30.000 Menschen um­bringt. Aber immerhin überlebt er das Inferno noch so lange, dass er einem Besatzungsmitglied der Roraima sein Tagebuch für seine Tochter übergeben kann. Seine letzten Worte lauten: „Sagen Sie ihr, dass ich dort war. Ich habe den Durchbruch ge­schafft. Alles wird sich verändern. Sie schimmerten wie Smarag­de, groß wie Baumstämme. Ich habe Oz gefunden.“

Der Leser, der „The Wizard of Oz“ gelesen hat (wie ich!), ist un­weigerlich fasziniert, denn Oz ist ein fiktives Land, und die Sma­ragdstadt darin hat es nie gegeben. Wie kann Günther Lutzen sie gefunden haben? Was bedeutet das alles? Es dauert sehr lange, bis man das verstehen kann.

Blende in die Gegenwart, neun Monate vor Handlungsbeginn: Das US-Militär testet in der Chesapeake Bay den Prototyp einer neuen Kampfdrohne. Die Konstrukteure Douglas Pearson und Lawrence Kensit haben sie entwickelt und sollen nun auf einem Schiff testen, dass die Drohne nicht von außen zu beeinflussen ist … leider ist sie es, und ehe sich die Forscher versehen, nimmt die Drohne Kurs auf ihr Schiff und sprengt es in die Luft. Es gibt keine Überlebenden.

Zusammenhang mit Prolog? Offensichtlich keiner, aber das täuscht.

Handlungsgegenwart: Puerto de la Cruz, Venezuela. Ein schäbi­ger, heruntergekommener Trampdampfer namens Dolos läuft in den Hafen ein. Der Leser, der mit den Abenteuern von Juan Ca­brillo und seinem Schiff, der OREGON, vertraut ist (dies ist der zehnte der Serie), weiß natürlich instinktiv, dass es sich um die OREGON handelt, das Tarnschiff der „Corporation“, das gele­gentlich für die CIA heikle Aufträge übernimmt, wenn der US-Geheimdienst selbst nicht in Erscheinung treten darf. So auch in diesem Fall. Es gibt Indizien, die darauf hindeuten, dass venezo­lanische Militärkreise dem nordkoreanischen Regime Hilfsdiens­te leisten. Cabrillo ist in Südamerika, um Beweise zu finden und gegebenenfalls zu vernichten.

Was er nicht ahnt, ist Folgendes: er stört auf diese Weise die Kreise einer Person, die man den „Doktor“ nennt, auch wenn das noch in gar keiner Weise erkennbar ist. Schlimmer noch scheint Faktum Nummer 2 zu sein, das er auch nicht kennt: Sei­te an Seite mit den Venezolanern taucht ein Chinese auf, der die OREGON von früher kennt und die Venezolaner vor ihrer Schlagkraft warnt. Dieser Mann namens Gao unterläuft so die Tarnung der „Corporation“ und liefert sie buchstäblich ans Mes­ser. Während Juan Cabrillo und seine Gefährten reichlich Indizi­en für die Verstrickung des venezolanischen Militärs in Rüs­tungslieferungen an die Nordkoreaner finden, laufen sie darum geradewegs in eine Falle und werden alsbald nach mächtigem Feuerzauber im Hafen von einem ausgewachsenen Schlacht­schiff verfolgt und offensichtlich von Admiralin Dayana Ruiz kur­zerhand versenkt. Dabei handelt es sich allerdings um ein höchst raffiniertes Täuschungsmanöver, mit dem sich die ORE­GON aus der Affäre zu ziehen versteht.

Unmittelbar davor jedoch gelingt es Cabrillo, die Chipkarte ei­nes Handys an sich zu bringen, auf der brisante Informationen über die Geschäfte mit den Nordkoreanern gespeichert sind. Und dann ist da etwas, was sie überhaupt nicht begreifen. Eine Reihe von vier Datensätzen. Ein Datum jeweils, und dahinter steht nur: „Alpha siebzehn, Beta neunzehn, Gamma zweiund­zwanzig, Delta dreiundzwanzig.“

Sie schicken diese Information, mit der sie nichts anfangen kön­nen, an die CIA unter Langston Overholt weiter (die damit auch nichts anfangen können), und dann machen sie entspannten Er­holungsurlaub auf Jamaika, den sie sich nach dem venezolani­schen Job verdient haben.

Es ist beinahe ihr letzter Urlaub.

Denn genau diese Datensatzfolge ist fast ihr aller Untergang. Niemand darf sie kennen – und wer von ihr erfährt, ist des To­des.

Jede Urlaubergruppe der OREGON wird auf einmal zum synchro­nen (!) Ziel von Killertrupps, und es ist nur einem unglaublichen Zufall zuzuschreiben, dass die raffinierten Anschläge allesamt scheitern. Dennoch – für Cabrillo und sein Team herrscht schlag­artig Alarmstufe 1. Irgendwer hat irgendwie die geschickte Tar­nung der „Corporation“ durchlöchert. Normalerweise ist keines der Besatzungsmitglieder namentlich bekannt, die Aufenthalts­orte werden sorgsam geheim gehalten. Aber gegen diesen Feind nutzt das überhaupt nichts.

Der Unbekannte im Hintergrund, der „Doktor“, dirigiert unter Zuhilfenahme eines beinharten und nahezu „unkaputtbaren“ Söldners namens Hector Bazin eine Armee von haitianischen Soldaten, die auf so blinden Gehorsam konditioniert sind, dass sie sich lieber selbst umbringen statt irgendetwas zu verraten.

Das ist schon schlimm genug. Aber die Ziele des „Doktors“ sind völlig nebulös, niemand begreift, was er vorhat, und aus den Andeutungen wird der Leser auch lange Zeit überhaupt nicht schlau. Was etwa soll das bedeuten, dass „die Welt in vier Ta­gen eine andere sein wird als jetzt“? Was geschieht in vier Ta­gen? Wo? Wie kann man das aufhalten? Und warum, um alles in der Welt, ist der „Doktor“ imstande, jeden Schachzug, wirklich jeden einzelnen, den Cabrillo und sein Team unternehmen, vor­auszusagen? Er scheint geradewegs durch jede Wand zu sehen, in jedes Gebäude und jeden Bunker, selbst in die Kommando­zentrale der OREGON, eindringen zu können. Als sei er Gott selbst, für den es keine Geheimnisse gibt. Er wird sogar Zeuge eines Mordes auf hoher See und nimmt diesen auf Video auf, um mit ihm einen hochrangigen Politiker in den USA zu erpres­sen. Es ist nachgerade unmöglich.

Das alles hat auf sehr raffiniert verwobene Weise mit dem vor Martinique verstorbenen Günther Lutzen und seinem an die Tochter damals weitergesandten Tagebuch zu tun. Und mit ei­nem unheimlichen Ort, den Lutzen „Oz“ nannte und der inzwi­schen ein technologisches Wunder beinhaltet, mit dem der „Doktor“ die Weltmächte gegeneinander ausspielen kann und sich zum Herrscher über die Welt aufschwingen will.

Doch wie kämpft man gegen einen Feind, der alles sieht und ge­gen den Gegenwehr offenbar sinnlos ist? Juan Cabrillo stand de­finitiv noch niemals einem Gegner gegenüber, der so allmächtig ist … und der Wettlauf mit der Zeit hat längst begonnen …

Eigentlich hatte ich ja nur vor, ein paar Anfangskapitel an dem Buch zu lesen, so als Schlummerlektüre kurz nach Mitternacht … als ich dann mit dem Lesen vorerst stoppen konnte, befand ich mich auf Seite 148, und es war zwei Uhr nachts.

Verdammt, dachte ich, das ist ein Höllenstoff, das ist ja unglaub­lich! Und in der Tat passierte mir dann das, was mir bei Clive Cussler noch nie passiert ist – bis zum Abend dieses Tages hatte ich das Buch komplett verschlungen, weil ich nicht mehr aufhö­ren konnte zu lesen. Das will echt was bedeuten bei jemandem, der mehr als 50 Cussler-Romane gelesen hat.

Mit Boyd Morrison findet der nächste Coautorenwechsel bei den OREGON-Romanen statt. Nach Craig Dirgo, der ja nur die ersten beiden Romane durchhielt, und Jack du Brul, der kongenial die packenden OREGON-Abenteuer weiterschrieb, hat Clive Cussler nun mit dem Ingenieur und Schauspieler Boyd Morrison jeman­den gefunden, der auf sehr bemerkenswerte Weise Hightech-Ideen in die OREGON-Geschichten einwebt. Dieses Debüt ist zu­gleich der schlagende Beweis, dass er nicht nur technisch ver­siert ist, sondern auch dramaturgisch äußerst packend zu schreiben versteht. Man kommt aus dem Buch buchstäblich nicht mehr raus.

Das hat verschiedene Gründe: Zum einen möchte man natürlich wissen, was die Quelle der Allmacht ist, die der „Doktor“ befeh­ligt (die Lösung ist naturwissenschaftlich wirklich Furcht erre­gend und hat eindeutig Science Fiction-Komponenten!). Man rätselt einfach die ganze Zeit herum, wie das, was er macht, möglich ist, und man kommt dabei natürlich auf die verschie­densten Ideen – ob etwa eine KI wie „Eagle Eye“ dafür in Frage kommt (aus dem gleichnamigen Film), eine Art subversiver Computervirus andererseits, vielleicht so etwas wie das „Auge Gottes“ (aus den „Fast & Furious“-Filmen) … aber ich versichere euch, es ist noch sehr viel heftiger.

Auf einer zweiten Schiene fragt man sich, was um alles in der Welt es mit „Oz“, Günther Lutzen und Martinique zu tun haben mag, was da gegenwärtig geschieht. Und was der „Doktor“ letz­ten Endes für einen Plan anstrebt, der immer nur in bizarren, zusammenhanglosen Details zu sehen ist.

Besonders positiv wirkt sich aber aus, dass die Gegenseite Ca­brillos nicht aus ausgesprochenen Dumpfbacken besteht, son­dern aus höchst gefährlichen, klugen und sehr robusten Geg­nern. Ob es die venezolanische Admiralin ist, die sich als sehr viel wichtiger entpuppt, als man anfangs denkt; ob es sich um den skrupellosen Bazin handelt, der wie ein Springteufel immer genau dort auftaucht, um Cabrillos Pläne zu durchkreuzen, wo er der Logik halber überhaupt nicht auftauchen DÜRFTE (etwa in Berlin), weil er von Cabrillos Reiseplänen keinerlei Kenntnis haben dürfte, da sie außer ihm selbst keiner kennt (!), oder eben um den sinistren „Doktor“, dessen Identität und Aufent­haltsort sehr, sehr lange völlig im Unklaren bleiben … das alles zusammen ergibt einen hochexplosiven Cocktail für den Leser, der die Spannung konstant hoch hält.

Garniert wird das alles von den Klassikern bei Clive Cussler: Ver­folgungsjagden zu Land, zu Luft und im Wasser, Unterwasser­abenteuer, verdeckte Operationen, spektakuläre Explosionen und jede Menge Humor. Außerdem hat mir sehr gefallen, dass Boyd Morrison mit Kapitän Maria Sandoval und der Admiralin zwei bemerkenswert starke Frauenfiguren in die Geschichte ein­geschrieben hat, die nicht nur schmückendes Beiwerk der Story sind.

Alles in allem: ein beeindruckendes Romandebüt, das unbedingt empfehlenswert ist und neugierig auf weitere Romane des Duos macht.

Ach, und was es mit dem Titel „Piranha“ auf sich hat? Nein, das Geheimnis sei an dieser Stelle noch nicht verraten, nur soviel darf ich sagen: Es passt perfekt. Vielleicht nicht zum Cover, das schön zum Martinique-Desaster passt, aber der „Piranha“ ist ge­wissermaßen ein Kernstück der Geschichte (wenn auch thema­tisch aus einem Bond-Film etwas geklaut, aber das trübt die Story definitiv nur minimal ein).

Ein rundum empfehlenswerter Roman. Nehmt euch Zeit dafür, Freunde, ihr kommt aus der Story nicht mehr raus, ehe ihr sie in einem Rutsch gelesen habt!

© 2019 by Uwe Lammers

Definitiv – ein Hammerroman! Ich vergebe so ein Prädikat wirk­lich nicht oft oder leichtfertig. Wäre es nicht der zehnte Roman einer Serie, würde ich sagen … wer Clive Cussler & Co. lieben möchte, sollte hiermit einsteigen. So empfehle ich die OREGON-Abenteuer in toto … nach dem ersten, spätestens dem zweiten wollt ihr gar nicht mehr aufhören.

Soviel für diese Woche. In der kommenden Woche gehen wir auf Schatzsuche … na, eine etwas andere Schatzsuche. Ihr werdet es erleben.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

Leave a Reply

XHTML: You can use these tags: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>