Liebe Freunde des OSM,
es ist schon kurios, was für Gedanken in mir aufkommen, wenn ich Gespräche mit lieben Freunden und Kollegen führe und ein wenig in meinen alten Werkelisten fahnde. Das heute vorgestellte Buch ist so ein Fall. Ich habe den dicken Schmöker im Jahre 2004 gelesen – fast ist man versucht zu sagen: durchgearbeitet (Menschen, die ängstlich vor jedem Buch zurückschrecken, das mehr als 250 Seiten besitzt, mögen das so sehen … und sich hier wie auch sonst in den meisten Fällen irren und interessante Lektüre versäumen) – und erinnere mich noch heute mit kaltem Frösteln an die zweite der hier vorgestellten Novellen.
Wie ich in der vergangenen Woche schon anlässlich des Buches „Der Tag der Auferstehung“ erklärte, behandelt eine Novelle dieses Buches hier die Spanische Grippe, die 1918 die Welt auf eine sehr ähnliche, aber deutlich dramatischere Weise überschwemmte wie heutzutage „Corona“, also das COVID-19-Virus. Dramatischer aus verschiedenen Gründen. Zum einen war die mediale Vernetzung der Welt nicht so weit fortgeschritten wie heute, Nachrichten brauchten also länger, um mit der Ausbreitung der Infektion Schritt zu halten. Zum zweiten befanden sich die serologischen Grundlagen, also die Entwicklung von wirkungsvollen Vakzinen noch in einem sehr frühen Stadium, so dass kaum an schnelle Bereitstellung eines wirkungsvollen Gegenmittels gedacht werden konnte. Und drittens war die internationale Staatengemeinschaft natürlich völlig ausgepowert nach vier Jahren zermürbenden weltweiten Krieges, es gab Millionen von ermatteten Soldaten, mangelernährten Zivilisten in sehr vielen Regionen der Welt – idealer Nährboden für eine Atemwegserkrankung, die viele Menschen anfangs mit einer „normalen“ Grippe verwechselten.
Was das für Konsequenzen hatte, schaut euch mal bei David Morrell an … ich konnte es damals fast nicht glauben, aber ich schätze, er hat nicht wirklich übertrieben, was die ungeheuerliche Mortalitätsrate anging.
Auch die anderen Geschichten dieses Bandes, eine für jedes Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, überwölbt von einer Rahmenhandlung, sind durchaus lesenswert. Wer deutlich mehr auf Horror steht, kommt fraglos eher auf seine Kosten als ich – ich fand manches in den Texten doch sehr grenzwertig, entsprechend durchwachsen fiel dann auch mein Fazit aus.
Alles in allem handelt es sich aber um ein interessantes literarisches Experiment, das vielleicht auch heute noch, gut 20 Jahre nach seiner Veröffentlichung auf dem deutschen Buchmarkt, unser Interesse verdient.
Macht euch einfach mal selbst ein Bild davon:
Offenbarungen
(OT: Revelations)
von Douglas E. Winter (Hg.)
Bastei 14193, 770 Seiten, TB
März 1999, Preis: 15.00 DM
Übertragen von Hannes Riffel, Susanne Zilla,
Frank Borsch und Dietmar Dath
ISBN 3-404-14193-8
Wenn ein Herausgeber einer Horror-Anthologie darüber nachdenkt, ein grandioses neues Projekt herauszugeben und es ihm nicht reicht, einfach einen Nachfolgeband aufzulegen (was problemlos möglich gewesen wäre), auf was mag er verfallen?
Douglas Winter, der „Prime Evil“ (dt.: „Horror vom Feinsten“) in die Welt gesetzt hatte, kam auf den Gedanken, wie es wohl wäre, angesichts des bevorstehenden Jahrtausendwechsels gewissermaßen den „Roman des Jahrhunderts“ zu schreiben bzw. schreiben zu lassen. So verpflichtete er sieben Jahre lang – von 1990 bis 1997 – eine Reihe namhafter Autoren darauf, an diesem Projekt mitzuarbeiten, und es entstand ein voluminöser „Roman“, eher eine lose Geschichtensammlung, zusammengehalten durch die Klammern der Jahrzehnte. Ein Buch, das muss auch gesagt werden, das „eines der wenigen Bücher“ ist, „das einer Gruppe von Anwälten bedurfte, um bis in die Druckerei zu gelangen“, wie er im Nachwort erläutert. Der neugierige Leser hätte hier ein wenig mehr Details gehört, warum das wohl vonnöten war. Aber hier hält sich Winter bedauerlicherweise bedeckt. Schade …
Winter wusste nur zu gut um die Problematik, verschiedene Autoren einen einzelnen Handlungsfaden bearbeiten zu lassen. Das machte er denn auch nicht, sondern jeder der Autoren bzw. Duos schrieb über ein Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, manchmal eine summarische Geschichte, die durch die Jahre gleitet, manchmal eine solche, die auf wenige Tage oder sogar nur Stunden gerafft ein zentrales, gewissermaßen „charakteristisches“ Ereignis des Jahrzehnts beinhaltete. Was herausgekommen ist, ist ein ambivalentes Produkt eigentümlicher Natur, das seinen ganz eigenen Reiz ausstrahlt:
Clive Barker oblag es, eine Rahmenhandlung zu ersinnen, nachdem die Geschichten endlich fertiggestellt und zugeordnet waren. Er nannte es „Chiliade: Eine Meditation über den Menschen und die Sünde“ und kehrte am Ende des Buches mit „Chiliade: Ein Augenblick im Herzen des Flusses“ dorthin zurück … oder wenigstens halbwegs. Über diese Rahmenhandlung soll hier nichts verraten werden, sie ist sehr lesenswert.
Joe R. Lansdale beschäftigte sich in der ersten „richtigen“ Geschichte „Der große Knall“ mit den 1900ern. Konkret: mit einem spektakulären – und verbotenen – Boxkampf zwischen einem Weißen und seinem schwarzen Herausforderer, der durch Anheuern eines Killers gelöst werden soll. Wer denkt, dies sei langweilig oder uninteressant, schaut nicht genau genug hin. Allein der Spannungsaufbau des Werkes hat es in sich. Außerdem: Während sich beide Seiten auf ihre Weise auf den Kampf vorbereiten, nähert sich Anfang September 1900 ein Jahrhundert-Hurrikan der Karibik und bringt in seinem Gefolge die totale Zerstörung …
In „Wenn ich sterbe, bevor ich aufwache“, der unbestreitbar besten Geschichte dieses Buches, beschreibt David Morrell für die 1910er Jahre einen Alptraum, der ebenfalls gleichsam aus der Hölle zu kommen scheint:
Ende August 1918, in einem wirklich sehr heißen, trockenen Sommer, wird Dr. Jonas Bingaman mit einem ungewöhnlichen Fall von Fieber konfrontiert, der den Anfang vom Ende jener Welt darstellt, die er von Kindesbeinen an gewohnt ist. Mit der Wucht einer Naturgewalt überrollt die später „Spanische Grippe“ genannte Epidemie die Vereinigten Staaten und lässt alle fragilen Netzwerke der menschlichen Gesellschaft wie der gesunden Psyche zusammenstürzen gleich Kartenhäusern. Vergesst alle verharmlosenden Statements über Grippe, wenn ihr das hier lest …
F. Paul Wilson, der ja ein Faible für die Schrecknisse des Dritten Reiches besitzt, führt den Leser (und in diesem Falle den Historiker) mit seiner Geschichte „Arier und Absinth“ auf packende Weise in das Deutschland des Krisenjahres 1923. Bestürzend handfest schildert er den wechselwirkenden Einfluss der Inflation, die ganze Firmenimperien vernichtet, auf die Psyche der dort lebenden Menschen. Und seine Handlungsträger sind gleichfalls spannend: ein Währungsspekulant und ein jüdischstämmiger Deutscher, die gemeinsam in den Sog einer aufstrebenden neuen Partei geraten, geführt von einem seltsamen Wehrmachtsgefreiten mit skurrilem Bart. Ein Mann namens Adolf Hitler …
Die Welt der Poppy Z. Brite und Christa Faust liegt, wie schon der Titel der Story – „Triaden“ – ahnen lässt, in einer ganz anderen Weltgegend. Ende der 30er Jahre in Hongkong aufzuwachsen, zudem noch als Homosexueller und in der Knechtschaft einer billigen Theatertruppe gefangen, das ist für Lin Bao nicht einfach. Doch als er zusammen mit seinem Freund und Geliebten Ji Fung der Fron entkommen zu sein scheint, gerät er erst recht in den Sog der finsteren Familienvergangenheit. Und diese ist die düstere Halbwelt der Triaden …
Ein Jahrzehnt später, Tausende von Kilometern weiter im Westen, finden wir „Auf dem Rücken des Schwarzen“ Charles Grants eigenwillige, träge wie erstarrender Honig dahinfließende Welt eines Schwarzen, der eine ganze Stadt in Angst und Schrecken versetzt, obwohl er alt und offenbar harmlos ist. Als ein junger, dynamischer und skrupelloser Vertreter einer Fernsehgesellschaft hier auftaucht und ihn erpressen möchte, muss der Neuankömmling auf schreckliche Weise erkennen, dass es Dinge gibt, die sich sein moderner Verstand nicht einmal entfernt auszumalen gewagt hat, die einfach unmöglich sind …
Whitley Strieber lag vermutlich im Fieber, als er sich zu sehr an seinen Protagonisten Dr. John von Neumann anlehnte, um ihm seine ersterbenden, halluzinierenden Gedanken für seine Geschichte „Die offenen Türen“ abzulauschen. Ein wirres Kaleidoskop, flirrende, wahnverzerrte Bilder, in denen von Neumanns jüdische, europäische Vergangenheit, die Gräuel des Nationalsozialismus, hysterische Beichtsitzungen mit jenem Priester, der ihm die Sterbesakramente verabreichen soll, sowie der Absturz von Außerirdischen und das Horten der Leichen im „Area 51“ eine Rolle spielen. Very strange …
„Fixtures of Matchstick Men and Joo“, die Anlehnung an einen Musiktitel von Status Quo, brachte den Übersetzer Frank Borsch offenbar so ins Schleudern, dass er den Titel bestehen ließ. Elizabeth Massie schickt den Leser auf einen beunruhigenden Trip in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts. Zunächst verliert der Polizist (oder Soldat) Gary seinen Glauben in den Staat und erfährt von einer Kommune namens „Sunrise“, die seinem Leben wieder einen Sinn geben soll. Wenig später stößt die ungewollt schwangere Sharon, die sich eigentlich in eine Schlucht zu stürzen beabsichtigte. Zusammen erreichen sie „Sunrise“. Doch „Sunrise“ ist ein seltsames Paradies mit noch viel seltsameren kleinen Kindern, und ehe die beiden sich versehen, werden sie von dem schrecklichen Geheimnis der Gemeinschaft vollkommen vereinnahmt …
Gewissermaßen gleich beim Thema bleibt Richard Matheson, als er die Geschichte der Rockband „Whatever“ in einem wilden Puzzle von Meldungen, Tagebuchaufzeichnungen und (höchstwahrscheinlich) fiktiven Zeitungsmeldungen darbietet. Auch diese Geschichte ist voll von bizarren Parties, Woodstock, Drogen, Hippie-Kultur, sexuellen, zügellosen Exzessen und politischen, gelegentlich derben Anspielungen (etwa auf Richard Nixon). Und das Ende der Geschichte, die Sache mit dem Flugzeug … nein, die darf hier nicht verraten werden …
„Den Festungsbau schleifen“, das haben David J. Schow und Craig Spector vor. Wir befinden uns im Berlin des November 1989, in einem Hochhaus mit gutem Blick auf das Menschengewimmel an der Mauer, die gerade gestürmt und überrannt wird. Ein japanischer Manager macht sich bereit, im Menschengewühl aufzubrechen und in Ostasien eine neue Identität anzunehmen. Zwei Skinheads vergewaltigen an einem versteckten Stück der Mauer eine amerikanische Journalistin. Eine Spitze Alt- und Neunazis trifft sich in einem bombensicheren Keller, um einen synthetischen Adolf Hitler anzubeten, und zugleich ist ein Killer unterwegs, der eine Vergangenheit aufweist, die zurück in die Aschengruben der Konzentrationslager führt …
Für die 1990er Jahre offeriert uns Ramsey Campbell mit der Geschichte „Das Wort“ eine Erfolgsgeschichte der ganz eigenen Art: der offensichtlich magenkranke Kritiker Jeremy Bates (alles, was er tut, ist eigentlich Geschichten, Bücher und Fanzines verreißen) trifft auf einem SF-Convention einen literarischen Newcomer, Jess Kray, den, wie er meint, schlechtesten Schriftsteller aller Zeiten. Mit ihm will er überhaupt nichts mehr zu tun haben. Kray aber läßt sich nicht von solchen Kritiken entmutigen. Und ehe sich Bates versieht, taucht unerwartet ein Buch von Kray auf, das nur „Das Wort“ heißt. Mit einer beängstigenden Geschwindigkeit breitet sich die Popularität dieses Buches aus, erst national, dann international.
Bates weigert sich, das Werk zu lesen und hofft, als Kray in einem Interview sein Buch in einem missverständlichen Zusammenhang mit dem Koran und der Bibel nennt, dass die islamischen Gelehrten ihn doch möglichst bald mundtot machen mögen. Doch das geschieht nicht. Ganz andere Dinge nehmen ihren atemberaubend-verstörenden Lauf …
Sieht man nach fast 800 Seiten am Ende auf das Buch hinab, auf die gelegentlich wirklich erschöpfenden Seiten, so bleibt ein zwiespältiger Eindruck zurück, wie schon einleitend angedeutet. Sieht man von Barker und Campbell ab, ist eigentlich nicht viel „Offenbarendes“ oder „Revolutionäres“ an dem Buch. Man erfährt eine Menge über die Sicht der Autoren auf bestimmte Zeiten des Jahrhunderts, auf gewisse Charaktere oder Situationen, Rassenfragen, politische Anschauungen usw. Es gibt eine Menge wirklich beeindruckender Bilder, komplexer Zusammenhänge und höchst beklemmender Situationen. Ja.
Leider gibt es auch eine Vielzahl von furchtbaren, ekligen und häufig völlig sinnlosen und überflüssigen Blutszenen, wo Blut und schlimmere Dinge fließen und die Atmosphäre deshalb nicht richtig wirken kann. Während Barker, Morrell, Wilson, Grant und Campbell solche Effekte eher dosiert einsetzen, verwechseln Autoren wie Brite und Faust sowie Schow und Spector blutrünstige Szenen mit Handlung und eine abstoßende Sprache mit Stil. Stilistische Entgleisungen, obszöne Sprache und dergleichen entwerten auch einige der anderen Geschichten, doch allgemein läßt sich sagen – mit Ausnahme von Campbell – , dass zum Ende des Buches hin die Geschichten finsterer, ekliger und schwerer zu ertragen sind.
Dabei wird leider nicht ersichtlich, ob es sich hierbei um einen intendierten, gewissermaßen „abgestimmten“ Degenerationseffekt der Kultur, Sprache und menschlichen Gesellschaft handeln soll. Sonst wäre es zwar schlimm, aber noch halbwegs plausibel.
Ich finde dieses Fazit bedauerlich, denn die oben hervorgehobenen Geschichten hätten es durchaus sehr verdient, gelesen zu werden. Das Gesamtkunstwerk, um in den Begriffen der gehobenen Künste zu bleiben, scheint mir jedoch das Ziel verfehlt zu haben.
Es entstand ein Buch, das zwar überwiegend Horrorautoren vereint, ohne als ein Horrorbuch ausgewiesen zu sein, und manchmal, besonders zu Beginn, schafft die Sammlung es, literarisch zu sein und mit großen Strichen ein mächtiges, beeindruckendes Panorama zu zeichnen. Später jedoch – wieder mit Ausnahme von Campbell, obgleich er seltsam provinziell bleibt – , später jedoch bricht dieses beeindruckende Panorama zugunsten plumper, primitiver Effekte in sich zusammen.
„Roman des Jahrhunderts“ ist also leider zweifelsfrei sehr übertrieben. Aber es war ein schöner Versuch.
Nächste Runde!
© 2004 by Uwe Lammers
Nun, ihr merkt deutlich, dass dieses durchaus experimentelle Werk sowohl seine Stärken wie auch Schwächen aufweist. Wer allerdings sowieso Fan des einen oder anderen Autors ist, mag über letztere geflissentlich hinwegsehen. Ich bemühte mich da um einen relativ neutralen Standpunkt. Und fand das Gesamtprodukt immerhin so gut, dass es bis heute in meinem Bücherregal verblieb … das schafft nicht jedes Buch aus jener Lesezeit.
In der nächsten Woche ist es wieder einmal soweit, dass ich euch eine Gesamtaufstellung der bisher im Rahmen meines Rezensions-Blogs besprochenen literarischen Materials vorstellen möchte. Dann also kein neues Werk, sondern kurz vor Heiligabend 2020 eine breit angelegte Gesamtschau.
Macht es gut und bis bald, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.