Rezensions-Blog 291: Ricardos ewige Liebe

Posted Oktober 20th, 2020 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

das Thema der Seelenwanderung hat mich immer schon in den Bann gezogen, und es ist sehr stark anzunehmen, dass das nicht allein für mich gilt. Schon im Jahre 1984 verfasste ich bei­spielsweise mit der damals stilistisch noch sehr bescheidenen Fähigkeit (man bedenke: ich zählte damals gerade mal 17 Lenze und befand mich ganz am Anfang des Schreibens von autono­men Kurzgeschichten), die mir eignete, ein Werk, das genau in diesem Bereich handelte.

Mit „Ein Passagier der R.M.S. TITANIC“ (im Januar 2015 in einer vollständig überarbeiteten und sehr ausgedehnten Form zur Ti­telgeschichte meiner zweiten E-Book-Kurzgeschichtensammlung avanciert), da verfolgte ich genau eine derartige Spur zweier Menschen, die ein neues Dasein lebten und die zugleich von den Erinnerungen ihrer früheren Leben heimgesucht wurden.

Als ich im Dezember 2005 das Buch las, das ich heute vorstel­len möchte, war das ein wenig wie ein Blitzschlag – und in der Tat las ich es binnen von gerade einmal 2 Tagen rauschhaft aus. Allein das ist schon ein Indiz für die Qualität, und ebenso natür­lich, dass ich mich nach 15 Jahren so intensiv daran entsinne.

Dies ist ein Buch über Leben und Tod, aber eben auch über Schicksal und das, was nach dem Tode kommen mag – und es ist auf eine überaus reizvolle Weise mit meiner Lieblings-Kykla­deninsel Thera/Santorin verbunden, dass es unvermeidlich so kommen musste, wie es kam. Es ist eine spannende, leiden­schaftliche Geschichte über eine Liebe, die auf unglaubliche Weise den vermeintlichen finalen Cut, den Tod, überwindet.

Schaut es euch mal genauer an:

Ricardos ewige Liebe

(OT: Des jours et des nuits)

von Gilbert Sinoué

Droemer-Hardcover

324 Seiten, 2003

Aus dem Französischen von Ralf Stamm

ISBN 3-426-19600-X

Die Träume sind die Eingangstore zur Seele, nicht wahr? Die Psychologen wissen das spätestens seit Beginn des 20. Jahrhun­derts, seit jenen Tagen, in denen Sigmund Freud und Carl Gus­tav Jung sich mühsam in die Tiefen der menschlichen Kammern der Erinnerung vorantasteten und die Erinnerungsmuster und Archetypen ans Tageslicht beförderten. Doch kann es nicht auch sein, dass gelegentlich oder vielleicht sogar häufig in jenen Tie­fen Dinge zu finden sind, die eben nicht auf Erfahrungen zu­rückzuführen sind, die wir in unserer Kindheit gemacht haben … sondern früher? In einem Leben vor unserem Leben?

Wenn dem so sein sollte, was geschähe dann in einem solchen Fall, wenn man sich an solche Dinge zu erinnern beginnt, und wie geht man damit um, wenn es sich als unmöglich erweist, diese Erinnerungen zu ignorieren?

Ricardo Vacarezza wächst als einziger Sohn eines argentini­schen Großgrundbesitzers in Buenos Aires heran und hat ein­fach alles, was er benötigt – er ist der Erbe seines verstorbenen Vaters, reich und gut aussehend, er hat Erfolg bei Frauen, er hat eine Verlobte, Flora de Mendoza, die er demnächst heiraten möchte, was beide mit glühender Vorfreude erfüllt. Eine wun­derbare Zukunft steht ihnen offen, wie es scheint.

Man schreibt den Sommer des Jahres 1930. Das ist der Zeit­punkt, in dem Ricardo, auf die Vierzig zugehend, in eine Krise gerät, die er zunächst nicht als solche wahrnimmt. Es beginnt alles mit einem seltsamen Traum von einer wunderschönen Frau, deren Gesicht er nicht erkennen kann. Eine Frau, die ihn „Morgendämmerung meines Lebens“ nennt, sich ihm nackt zeigt und ekstatisch mit ihm vereinigt … doch dann erbebt die Erde, das Gebäude, in dem sie sich aufhalten, stürzt ein – und Ricardo erwacht.

Das allein scheint noch nicht das Problem zu sein, denn lebhafte Träume hat man durchaus öfter. Aber seine Verlobte Flora be­hauptet steif und fest, er habe im Schlaf gesprochen: in einer fremden Sprache und mit der Stimme eines anderen Mannes!

Das wird beiden unheimlich, doch es bedarf noch einiger weite­rer Träume, in denen Ricardo wiederholt jene Unbekannte sieht – zuletzt sogar das schwarz umrahmte Gesicht mit dem aparten Schönheitsfleck nahe der Nase – und einiger anderer Zufälle, wie es scheint, um ihm klar zu machen, dass es sich hierbei ver­mutlich nicht nur um Einbildung handeln kann. Ricardo kommt langsam zu der bestürzenden Überzeugung, dies alles ließe sich auch nicht nur mit Psychoanalyse erklären. Inzwischen hat er auf Anraten seiner Frau die Psychoanalytikerin Adelma Maizani zu Rate gezogen.

Als Ricardo im letzten Traum die Frau seiner Träume an einem Kaffeetisch sieht mit einer griechischen Zeitung vor sich, die erst vor neun Jahren gegründet worden und in Argentinien gar nicht erhältlich ist, da ist er vollends überzeugt, dass sich in die­sen Träumen etwas Übernatürliches ausdrückt – eine Liebe nämlich, die vor ungezählten Jahrtausenden irgendwo auf der Welt begonnen hat und auf tragische Weise endete, zugleich aber auch eine Liebe, die nun wieder möglich ist, weil sie beide ein neues Leben führen, in anderen Körpern, mit anderen Na­men, doch im Herzen und tief in der Seele mit dem Wissen um jene Vergangenheit, in der sie eins gewesen sind, unzertrennbar außer durch den Tod.

Er und sie, so sagt er, sind wiedergeboren worden, um einander von neuem zu finden und ihre alte, unsterbliche Liebe zu vollen­den: Ricardos ewige Liebe tritt ihre neue Blüte an.

So kommt es, dass sich Ricardo schließlich auf den Weg macht von Argentinien aus in die Ägäis, wo er scheinbar hoffnungslos jene „völlig runde Insel“ aus seinen Träumen sucht und jene ge­heimnisvolle Frau, die er „Sara“ genannt hat und von der er überzeugt ist, dass sie auch ihn kennen muss, von ihm träumen und nach ihm auf der Suche sein muss. Er weiß ganz sicher, nur mit ihr und an ihrer Seite wird er selig sein, und Ricardo ist er­füllt von der Gewissheit, dass es „Sara“ ganz genauso gehen wird.

Doch könnte es sein, dass er sich täuscht …?

Der Roman des französischen Bestsellerautors Gilbert Sinoué („Die Straße nach Isfahan“, „Der blaue Stein“) ist, so muss man fürchten, ein relativ unbekanntes Werk, das ein wirkliches klei­nes Juwel unter den Büchern der französischen Literatur der Ge­genwart darstellt. Nicht nur wird hier mit großer Liebe zum De­tail und zur Stimmung ein faszinierendes Panorama des Argenti­nien der frühen 30er Jahre entworfen, nicht nur bekommt man einen schönen, ungemein romantischen Hauch mit von der da­mals noch sehr provinziellen Kykladeninsel Thera (meine desi­gnierte griechische Lieblingsinsel, was nicht nur auf Platons Dia­log Timaios zurückzuführen ist, aber natürlich auch), sondern vor allen Dingen wird man als Leser von dem Sog einer aufrei­zenden, sehr lesbaren Geschichte gepackt und gleichsam wie in einen Strudel hinabgesogen. Ein wunderbares Gefühl für dieje­nigen, die solche Erfahrungen schon einmal gemacht haben.

Wenn man als Leser gewisse romantische Neigungen hat, dann geht es wohl jedem so wie mir, der ich für das Buch lediglich zwei Tage gebraucht habe. Ab einem bestimmten Punkt des Ro­mans, und er kommt recht schnell, ist man einfach außerstan­de, das Buch aus der Hand zu legen, weil man bei Ricardos Su­che so sehr unvermittelt mitfiebert und sich bangend und sehn­lich hoffend dabei ertappt, dass er doch Erfolg haben möge.

Und, natürlich, fragt man sich unwillkürlich, ob er wohl Recht hat oder ob es vielleicht doch noch den Hauch einer möglichen rationalen Erklärung gibt. Ist es denkbar, dass es sich eben NICHT um eine dreitausend Jahre währende, den Tod überdau­ernde Liebe handelt, sondern um eine ungeheuerliche Aneinan­derreihung von Zufällen?

Es gibt meines Erachtens nur zwei Wermutstropfen in der Ge­schichte, und sie kulminieren beide leider in der Unmöglichkeit des Autors, den alten Faden detailliert aufzudröseln. Man sehnt sich als Leser danach, auch die letzten Rätsel zu entschleiern, doch diesen Gefallen tut einem Sinoué nicht. Er gibt einige Auf­hellung, aber nicht genug, Sinoué, nicht genug! Ah, welch Tragik! Ah, welch schönes Buch, das noch ein bisschen besser hätte sein können, hätte es nur ein angenehmeres Ende und nicht diesen bitteren Nachgeschmack!

Doch bis dorthin ist der Kelch zu neigen und zu leeren, und wer einen leckeren Wein gerne mit einem guten Buch – oder umge­kehrt – vergleicht, der sei ausdrücklich auf das starke, süße Bu­kett dieses Werkes hingewiesen, das schnell zu Kopf steigt und die Phantasie sehr befeuert. Ebenso wie die Hoffnung auf ein Fortbestehen jenseits des dunklen Nichts des Todes.

Möge das Buch also viele Leser finden, es lohnt sich …

© 2005 by Uwe Lammers

Ihr merkt, ich war schwer beeindruckt, und genau genommen bin ich das heute immer noch. Das Buch hat nicht umsonst im­mer noch einen Ehrenplatz in meiner Bibliothek.

Kommende Woche werden wir wieder ein wenig diesseitiger, auch wenn der Autor – Clive Cussler – inzwischen in jenen fins­teren Abgrund hinabgestiegen ist, über den Sinoué oben schreibt. In das Tal des Todes. Seine Romane überdauern ihn.

Bis nächste Woche, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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