Liebe Freunde des OSM,
ich gebe ja zu, es ist ein wenig widersprüchlich, Peter F. Hamilton auf der einen Seite als einen meiner designierten SF-Lieblingsautoren der Gegenwart zu bezeichnen und ihn dann – im Rezensions-Blog wenigstens – glatte vier Jahre zu vernachlässigen. Bei der schieren Menge an Rezensionen und interessanten Büchern ist er tatsächlich lange Zeit stiefmütterlich behandelt worden, und als ich im Rezensions-Blog 71 zum letzten Mal von ihm sprach, hatte ich definitiv vor, bald danach seinen Commonwealth-Zyklus zu besprechen.
Das war allerdings zu einer Zeit, da ich noch nicht ahnte, wie häufig er dorthin noch zurückkehren würde. Faktum ist, dass er erst mit dem zweiten Band seines „Fallers-Zyklus“ vor relativ kurzer Zeit dieses Universum verlassen hat, und die Bände habe ich noch nicht gelesen. Insofern wird mein Zögern, die älteren Rezensionen hier zu bringen, doch ein wenig verständlicher.
Ich mache mit den ersten vier Bänden des Zyklus den Anfang, die weiteren folgen dann deutlich nach dem 300. Blogartikel. Vielleicht macht diese späte Publikation auch deshalb Sinn, weil dieser Zyklus nach dem Verlagswechsel von Bastei zu Piper nun neu aufgelegt wird und aktuell wieder in den Buchhandlungen zu finden ist. Ich beziehe mich hier allerdings noch auf die alten Bastei-Ausgaben, die mir optisch besser gefallen (aber hey, ich bin Historiker! Wundert euch also nicht).
Mit diesem Zyklus startete Hamilton jedenfalls ein absolut packendes Weltraumabenteuer, und als ich nach einer ziemlichen Pause wieder damals mit der Lektüre begann, fühlte ich mich ein wenig inspiriert, auf frühere Leseerfahrungen mit diesem Autor hinzuweisen. Freundlicherweise sind alle diese Rezensionen im Rezensions-Blog bei mir nachzulesen, ich habe die Bezüge dazu in den Fußnoten für diese Publikation aktualisiert.
Wer Peter F. Hamilton und diesen Zyklus bislang noch nicht kennen sollte, dem empfehle ich von Herzen, einen Lektüreversuch zu wagen – aber vorab eine Warnung: Legt euch die Folgebände sicherheitshalber schon parat, ihr kommt aus der Geschichte nicht mehr raus.
Und worum geht es nun im Detail? Schaut weiter:
Der Stern der Pandora
Commonwealth-Zyklus Roman 1, Teil 1
(OT: Pandora’s Star, Part I)
von Peter F. Hamilton
Bastei 23290, Januar 2006
752 Seiten, TB; 8.95 Euro
Deutsch von Axel Merz
ISBN 3-404-23290-9
Gut Ding will Weile haben, sagt ein deutsches Sprichwort, und auch in der Schriftstellerei tut man gut daran, sich an dieses Wort zu halten, zumal dann, wenn man zuvor einen Bestseller-Zyklus abgeliefert hat und natürlich an diesem gemessen werden wird. So ist es mit Peter F. Hamilton.
Hamilton, zuvor eigentlich nur bekannt geworden durch den dreibändigen, man möchte fast sagen: bodenständigen SF-Krimi „Mindstar“1, erhielt die Chance, eine lose Sammlung von Geschichten2 zu einem Romanzyklus auszuarbeiten, und was er in den Jahren 1996 bis 1999 schuf, war nichts Geringeres als ein Epos, das im Deutschen als „Armageddon-Zyklus“ bekannt wurde. Dieser voluminöse Zyklus, hierzulande aufgespalten in sechs dicke Taschenbücher3, begründete eigentlich den Ruf des erzählfreudigen Briten als wortgewaltiger Schriftsteller.
Danach, so möchte man meinen, nahm er sich ein wenig zurück und verlegte sich auf kürzere Geschichten. Soweit man das so nennen möchte. Seine Story „Den Bäumen beim Wachsen zusehen“ (2000) hat noch immer 130 Seiten und versetzt den Leser in eine interessante technologische Verlängerung des römischen Imperiums.4 Und schon sein nächster Streich, ein Jahr später, nämlich der sogenannte „Drachentempel“-Zyklus, der kein Zyklus war, sondern nur ein umfangreicher Einzelroman, der vom Verlag in Deutschland von neuem in zwei Teile zerlegt worden war5, demonstrierte nachdrücklich, dass kurze Werke ihm wirklich nicht lagen. Und dass die Zeit reif war für ein neues Werk von epochalen Ausmaßen.
Mit dem kurzweiligen und scheinbar völlig aus dem Rahmen fallenden Roman „Misspent Youth“ (2002)6, der mehr ein familiärer Problemroman zu sein schien, irritierte er seine Fangemeinde. Manch einer mochte wohl auch darüber spekulieren, ob Hamilton inzwischen „ausgebrannt“ sei, doch weit gefehlt. Das seltsame zweite Leben des Erfinders Jeff Baker, das der Autor in diesem Buch ausbreitete und sich geradezu irritierend verengt darstellte, entpuppte sich bei genauem Hinschauen und Verfolgen der Pläne Hamiltons als Vorstudie. Die Welt, die er hier zu entwickeln begann, ist jene, in der sein neuer Zyklus spielt.
„Der Stern der Pandora“, der erste von vier neuen Romanen (im Deutschen – im Original gibt es nur zwei voluminöse Bände, einmal „Pandora’s Star“, zum zweiten „Judas Unchained“), spielt im Jahre 2380 und hat sich damit vom Vorgänger-Einzelband um rund 340 Jahre in die Zukunft entfernt. Die Menschheit hat, gestaffelt in drei Besiedelungsschalen, insgesamt 600 Sternensysteme kolonisiert, die unterschiedlich stark technisch durchstrukturiert und diversifiziert sind. Wie es zu erwarten ist, entwickeln sich diese Welten unterschiedlich stark und werden in Hamilton-Manier sehr variabel dargestellt. Da gibt es Planeten, die von einzelnen Familien bewohnt und beherrscht werden, andere, auf denen Konzerne eine genetische Diktatur installiert haben, andere, die als Zielorte für New-Age-Versessene dienen, Industrieplaneten, Urlaubswelten und dergleichen mehr. Aber wie schon in „Armageddon“ bemüht sich der Autor, die jeweiligen Entwicklungen und Gesellschaften der unterschiedlichen Planeten differenziert und glaubwürdig darzustellen.
Das irdische Commonwealth, das über keine eigene Armee mehr verfügt und in dem Krieg grundsätzlich geächtet ist, hat sich mittels einer Technologie gesteuerter überdimensionaler Wurmlöcher entwickelt, durch die der Personal- und Transportverkehr über mehr als 400 Lichtjahre hinweg eigentlich reibungslos verläuft. Die menschliche Gesellschaft, die über zahllose Milliarden Bewohner verfügt, entwickelt sich allmählich, und sehr zur Beruhigung sozialer Probleme hat die Technologie der sogenannten Rejuvenation beigetragen sowie die Entwicklung der Memory Insert Module, mit deren Hilfe die Auslagerung von Erinnerungen sowie eine physisch-technische Wiedergeburt möglich wurde: man lädt seine Erinnerungen in externe Speicher, was routinemäßig gemacht wird, zudem werden in Klonierungskliniken genetische Muster der Individuen gehortet. Nach einem inzwischen sehr ausgefeilten Muster werden entweder Verjüngungen durchgeführt (wie bei Jeff Baker, nur viel perfektionierter) oder aber regelrechte Wiedergeburten, beispielsweise bei tödlichen Unfällen oder auch in Mordfällen bzw. dann, wenn Personen spurlos verschwunden sind.
Der Leser ahnt bereits, dass diese Technologien auch ganz neue Formen des Verbrechens möglich machen, und er hat vollkommen recht. Das ist ein Handlungsstrang dieses Romans: als der Polizeibehörde des Commonwealth (das Intersolar Serious Crimes Directorate) von einem Geschäftsmann gemeldet wird, dass an der Wiederbelebung seiner Ex-Ehefrau Tara Jennifer Shaheef und ihres Geliebten Wyobie Cotal irgendetwas unnormal sein soll, beginnt die Chefermittlerin Paula Myo, ihres Zeichens eine Legende im Commonwealth, weil sie als absolut unbestechlich gilt und angeblich noch nie versagt hat, sich mit dem Fall zu beschäftigen. So kommt ein Stein ins Rollen, dessen Größe momentan noch nicht abzuschätzen ist.
Die Einschätzung, dass sie noch nie versagt hat, ist übrigens falsch, und das ist ein zweiter Handlungsstrang: vor über hundert Jahren hat es einen furchtbaren terroristischen Anschlag gegeben, bei dem zahlreiche Kinder ums Leben kamen, also Menschen, die noch keine Erinnerungschips besaßen. Der endgültige Mord an diesen Kindern ist ein todeswürdiges Verbrechen, und der Mann, der dafür verantwortlich ist, Adam Elvin, ist ein sozialistischer Terrorist aus Überzeugung, der sich inzwischen einem anderen Extremisten angeschlossen hat – dem Sektierer Bradley Johansson.
Johansson, und damit kommen wir dem Zentrum dieses Buches wirklich nahe, ohne den Anfang bisher angesprochen zu haben (man verzeihe dem Rezensenten, dass er das Pferd gewissermaßen von hinten aufzäumt, hier macht es durchaus Sinn), Johansson war Wissenschaftler, der auf der Phase-III-Randwelt Far Away, also am äußeren Rand des Commonwealth, an der Untersuchung eines Alien-Raumschiffwracks mitarbeitete, das den sinnigen Namen „Mary Celeste“ bekommen hat.7
Hier geriet er, sagt er später aus, unter die mentale Kontrolle des einzigen Besatzungsmitglieds dieses Wracks, eines Wesens, das er „Starflyer“ nennt und das die Fähigkeit besaß, Menschen geistig zu versklaven. Auf diese Weise entkam der „Starflyer“ von Far Away und drang ins menschliche Commonwealth ein, wo er – sagt Johansson – die menschliche Elite unterwanderte und seither danach strebt, das Reich zu vernichten.
Für das ISCD und insbesondere Paula Myo ist Johansson aber der Drahtzieher hinter Adam Elvin und damit nichts anderes als ein Terrorist, den es dingfest zu machen gilt. Doch ebenso wie Elvin ist Johansson irgendwo in den Tiefen des Commonwealth untergetaucht. Hinter ihm steht seine Sekte, die „Guardians of Selfhood“, die auf Far Away leben, und ihr Ziel besteht darin, die Menschheit vor dem „Starflyer“ zu retten – an den außer ihnen und ihrem Anführer niemand glaubt.
Mehr als zwei Jahrhunderte ist die Lage mehr oder weniger statisch. Dann macht ein alter Astronom auf einer weiteren Randwelt des Commonwealth eine atemberaubende Entdeckung: viele hundert Lichtjahre jenseits des von Menschen besiedelten Raumes hüllt sich ein Sternenpaar ganz plötzlich in ein Energiefeld. Dieses Ereignis muss vor etwa tausendzweihundert Jahren eingetreten sein, aber allein die Berechnung, was für eine Technologie für so einen Aufwand erforderlich ist, lässt die Forscher gruseln. Sie ist allem überlegen, was das Commonwealth aufzubieten hat.
Nachdem das erst einmal klar ist, sehen sich die Verantwortlichen der Menschheit dazu gezwungen, herauszufinden, was dort draußen vor sich geht. Da kein Wurmloch so weit reichen wird und der Aufwand in keinem Verhältnis zum erwarteten Nutzen steht, wird beschlossen, erstmals seit Jahrhunderten wieder ein Raumschiff zu bauen – die „Second Chance“. Diese Mission soll herausfinden, was genau dort bei „Dyson Alpha“ und „Dyson Beta“ vorgefallen ist und nach Möglichkeit Kontakt mit der fremden Rasse aufnehmen, wenn es sie noch gibt.
Doch indem dieses Schiff gebaut wird, werden die Konstrukteure und Raumfahrer damit automatisch zu Zielscheiben für Bradley Johansson. Denn dieser Fanatiker ist der festen Überzeugung, dass niemand Geringeres als der „Starflyer“ der Initiator dieser Reise ist – und das Ziel besteht in der Vernichtung der gesamten Menschheit …
Man muss wirklich sagen: das Warten hat sich gelohnt. Die Leser, die der Ansicht sein mögen, dass der „Armageddon-Zyklus“ vielleicht nicht mehr zu toppen wäre, dass Hamilton hier nur unablässig wieder von sich selbst abkupfern könne, sollen sich wirklich mal überraschen lassen von der Vielzahl interessanter Charaktere, verblüffender Motivationskonflikte, neuartiger Erfindungen wie interaktiver Tattoos, der Arrays, der CST-Portale und aller möglichen anderen Dinge.
Sicher, es ist für Leser, die „sofort Action“ wollen, ein wenig anstrengend, den Roman zu lesen. Er ist nicht langweilig, meiner Meinung nach an keiner Stelle, aber es ist eben erst das Entfalten des Tableaus, das Ausbreiten der Möglichkeiten und Handlungsschauplätze für den Rest des Zyklus, was wir hier sehen. Doch genau das macht die Sache interessant. Ich fühlte mich ein wenig an den ersten Roman von „Armageddon“ erinnert, der auch sehr langsam anfängt und dann richtig Fahrt aufnimmt. Das geschieht hier im Endeffekt, das sei verraten, im Kapitel 10. Danach kann man nicht mehr aufhören zu lesen.
Das Schönste an diesem Zyklus ist die Tatsache, dass Hamilton auf seiner Homepage schon angekündigt hat, in diesem Universum weiter agieren zu wollen (das verdient es auch wahrhaftig! Zwei Romane können diesen Reichtum gar nicht ausschöpfen, er möchte folgerichtig auch drei weitere schreiben, das heißt: sechs weitere Bücher in der deutschen Übersetzung!). Darauf können wir uns wirklich freuen. Es gibt noch so viele Geheimnisse, insbesondere um die zahlreichen Alienrassen, die uns allein schon in diesem Buch über den Weg laufen. Im nächsten werden es noch mehr, weitaus mehr …
Doch, die Lektüre lohnt sich wahrhaftig.
© 2006 by Uwe Lammers
Wow, im Vergleich zur Vorwoche eine echte Lobeshymne, hm? In der Tat – es gibt halt Romane, die mich zu beeindruckter kritischer Würdigung hinreißen und andere, die das nicht tun. Wenn man dann weiß, dass ich diesen Hamilton-Roman nach 2006 schon 2011 ein zweites Mal verschlungen habe (und so allmählich das Gefühl habe, es wäre mal wieder an der Zeit), dann sollte das deutlich machen, wie sehr ich ihn schätze.
Und nachdem wir uns dieses Mal bei kosmischen Intrigen, galaktischer Politik und dramatischen Entwicklungen aufgehalten haben, kehren wir in dem nächsten Blogartikel gewissermaßen in unseren häuslichen Vorgarten zurück und kümmern uns um einen kleinen Schelmenroman, den ich vor geraumer Zeit mit Amüsement gelesen habe.
Worum es genau geht? Das erfahrt ihr in der kommenden Woche.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Vgl. Peter F. Hamilton: „Mindstar I: Die Spinne im Netz“, „Mindstar II: Das Mord-Paradigma“ und „Mindstar III: Die Nano-Blume“. Vgl. dazu die Rezensions-Blogs 63, 67 und 71 vom 8. Juni, 6. Juli und 3. August 2016.
2 Später wurden sie in dem Buch „Zweite Chance auf Eden“ nachgedruckt. Vgl. dazu den Rezensions-Blog 36 vom 2. Dezember 2015.
3 Vgl. Peter F. Hamilton: „Die unbekannte Macht“, „Fehlfunktion“, „Seelengesänge“, „Der Neutronium-Alchimist“, „Die Besessenen“ und „Der nackte Gott“. Vgl. dazu die Rezensions-Blogs 18, 21, 24, 27, 30 und 33 vom 29. Juli, 19. August, 9. September, 30. September, 21. Oktober und 11. November 2015.
4 Die Story findet sich in der Storysammlung „Unendliche Grenzen“ (Hg. Peter Crowther). Vgl. dazu den Rezensions-Blog 85 vom 9. November 2016.
5 Vgl. Peter F. Hamilton: „Sternenträume“ und „Drachenfeuer“. Vgl. dazu den Rezensions-Blog 15 vom 8. Juli 2015.
6 Vgl. Peter F. Hamilton: „Der Dieb der Zeit“. Vgl. dazu den Rezensions-Blog 284 vom 2. September 2020.
7 Die reale „Mary Celeste“ ist ein Geisterschiff aus dem 19. Jahrhundert gewesen, dessen Rätsel der Schriftsteller Eigel Wiese wahrscheinlich in seinem Buch „Das Geisterschiff“ jüngst gelöst hat. Jedenfalls liest sich die Erklärung sehr plausibel.