Liebe Freunde des OSM,
Klassiker sind eine schöne Sache, wie ich finde. Man kann zu Klassikern, zumal solchen der Literatur, verschiedene Standpunkte einnehmen, aber der meine ist üblicherweise der, dass es gute Gründe dafür gibt, warum ein Werk in den Kanon der Klassiker aufgenommen wird.
Nehmen wir da etwa mal Goethes „Faust“ oder Cervantes‘ „Don Quixote“, die gehören da meiner Ansicht nach auf jeden Fall hinein. Ob dasselbe auch, sagen wir, für die „Buddenbrooks“ oder den „Mann ohne Eigenschaften“ oder vielleicht auch „Homo faber“ gilt, lasse ich mal dahingestellt sein. Es gibt bekanntlich auch unterschiedliche Geschmäcker.
Auf der anderen Seite kann man Romane aber nicht allein deshalb, weil sie alt sind, automatisch zu Klassikern erklären. Und es scheint mir auch inopportun, sie deshalb gewissermaßen automatisch und summarisch zu Klassikern zu stempeln, weil sie von einem Autor verfasst worden sind, der mal einen solchen geschrieben hat. Wir wissen alle, dass auch Schriftsteller mal stärkere und mal schwächere Werke vorlegen.
Wenn man es dann mit jemandem wie Arthur Conan Doyle zu tun hat und mit einem Roman aus seiner späteren Schaffenszeit, wenn man zudem weiß, dass der „Held“ der Geschichte Sherlock Holmes heißt und Doyle von der Leserschaft und den Verlegern geradewegs dazu gezwungen wurde, ihn nach dem Sturz in die Reichenbachfälle zu reanimieren, der wird ahnen, dass daraus nicht viel Gutes erwachsen kann. Und er behält absolut recht mit dieser Einschätzung, soweit es sich um den vorliegenden Roman handelt.
Als ich anno 2006 diesen Roman las, waren mir die obigen Fakten durchaus bewusst, und ich ging mit durchaus gedrosselten Erwartungen an die Geschichte von Vermissa Valley heran. Daran tat ich gut. Warum?
Nun, schaut selbst:
Das Tal der Angst
(OT: The Valley of Fear)
von Sir Arthur Conan Doyle
Haffmanns-Doyle-Gesamtausgabe Band IV, 1986
228 Seiten, geb.
Übersetzt von Hans Wolf
ISBN 3-251-20103-4
Alles beginnt mit einer verschlüsselten Nachricht, die dem genialen Detektiv Sherlock Holmes in der Baker Street 226 b ein Rätsel aufgibt und ihm buchstäblich die Laune verhagelt. Die geheimnisvolle Botschaft lautet wie folgt:
534 K2 13 127 36 31 4 17 21 41
DOUGLAS 109 293 BIRLSTONE
26 127 171
Zwar kann er dank seiner Deduktion und der Schützenhilfe von Dr. John Watson die Aufgabe lösen und herausfinden, dass dem Besitzer von Birlstone Manor Gefahr droht … doch ist diese Lösung zu spät erfolgt. Ein hereinstürzender Polizist offenbart ihm, dass just an diesem Morgen in Birlstone Manor ein Mord verübt worden ist. Damit geht jene Recherche los, die Holmes schließlich auf die Spur des „Tales der Furcht“ führen soll, in dieser Ausgabe als „Tal der Angst“ übersetzt, was vermutlich treffender ist.
Am Tatort, dem von einem flachen Wassergraben umgebenen Birlstone Manor, das durch eine nächtlich hochgezogene Zugbrücke von der Außenwelt abgeschnitten ist, findet Holmes „die üblichen Verdächtigen“ vor: die junge Ehefrau des verstorbenen Mr. Douglas, einen ebenfalls jungen Freund des Hausherrn, der auf sehr gutem Fuß mit der Witwe steht … und dann ist da jene obskure Karte auf der Brust des mit einer amerikanischen Waffe, einer Schrotflinte mit abgesägtem Lauf erschossenen Mannes. Die Karte ist kaum weniger kryptisch als die Mitteilung des Morgens. Steht doch auf ihr nur V.V. 341.
Es sieht so aus, als sei der Mörder flüchtig und spurlos verschwunden, aber Holmes entdeckt interessante Widersprüche in dem Ablauf des Tatmorgens. Und wiewohl die Polizeibeamten sehr gewissenhaft und weitsichtig agieren, ist er ihnen letztlich einen entscheidenden Schritt voraus. Das alles hängt mit dem Graben von Birlstone Manor zusammen und mit dem Zuschlagen einer Tür … oder dem, was eine Angestellte dafür gehalten hat.
Doch als das Rätsel sich schließlich aufhellt, beginnt die eigentliche Geschichte erst – sie führt Jahrzehnte zurück nach Amerika, bis in ein Bergarbeitertal, das von einer furchtbaren Gemeinschaft beherrscht wird – nach Vermissa Valley, ins Tal der Angst …
The Valley of Fear erschien, wie die meisten Holmes-Geschichten, als Fortsetzung im Strand Magazine, und zwar von September 1914 bis Mai 1915.1 Schon im Einleitungskapitel bedient sich der sichtbar gereizte Arthur Conan Doyle des legendären Namens seines Erzbösewichts Professor James Moriarty und beschwört damit sofort einen Konflikt mit der Chronologie der ganzen Geschichte herauf. Wie überhaupt diese Geschichte diese Erzählung sehr unter Unschärfen leidet. Aber dazu gleich mehr.
Inwiefern gibt es ein Problem mit der Chronologie? Nun, im Anhang von „Sherlock Holmes und der Fluch von Addleton“2 wird The Valley of Fear der Handlungsmonat Januar 1888 beigelegt, was plausibel erscheint. Nun ist es aber aufgrund der anderen Geschichten um Holmes völlig unbestreitbar, dass Dr. Watson und der Rest der britischen Polizei von den verbrecherischen Umtrieben Professor Moriartys wirklich erst im Jahre 1893 Kenntnis erhielt, als nämlich Dr. Watson die falschen Behauptungen von Moriartys Bruder zu widerlegen trachtete.3 Holmes weitschweifige Auslassungen über die sinistre Natur des „Napoleons des Verbrechens“ dokumentieren – vorausgesetzt, die chronologische Zuordnung ist korrekt (und die Geschichte MUSS vor 1891 spielen, da Moriarty danach nachweislich tot ist) – sind infolgedessen als effekthascherischer und umsatzsteigernder Aspekt der Geschichte leicht zu entlarven.
Auch sonst ist Doyle schrecklich ungenau. So lässt er Holmes auf Seite 25 gegenüber Watson und einem Polizisten über den historischen Verbrecher Jonathan Wild schwadronieren, und zwar mit den Worten „Er war ein meisterlicher Verbrecher und hat im vorigen Jahrhundert gelebt – so um 1750 herum.“ Dazu kommentiert der Übersetzer im Fußnotenapparat peinlicherweise: „Hier irrt sich Holmes gleich zweifach. Erstens lebte der 1682? geborene Kopf einer Diebes- und Hehlerorganisation nicht ‚so um 1750 herum‘, sondern wurde bereits am 24.5.1725 auf dem öffentlichen Richtplatz Londons gehenkt; und zweitens kommt Wild sehr wohl in einem Roman vor, ja, er taucht gleich in mehreren Werken der Literatur auf …“
Ein solcher Recherchefehler, der vom Meistergehirn Londons so schlampig wiedergegeben wird, deutet auf hochgradige Unlust des Autors beim Verfassen der Geschichte. Es gibt im Fortgang der Handlung noch einige Stellen, insbesondere in der zweiten Hälfte, die sich um die amerikanische Handlungslinie, die Freimaurer und die Scowrer im „Tal der Angst“ dreht.
Hier ist von meiner Seite besonders zu kritisieren, dass die Frauengestalt, die dort eine wesentliche Rolle einnehmen sollte, am Schluss zur völligen Statistin degradiert und aus der Handlung herausgefegt wird, so dass der Leser das unbehagliche Gefühl erhält, Doyle habe die Geschichte nur noch schnell beenden wollen. Womöglich entspricht das der Wahrheit.
Und wie ist es nun mit der erwähnten „Unschärfe“? Nun, üblicherweise, man erinnere sich, wird die Geschichte von Dr. John Watson im Wesentlichen erzählt (es gibt im ganzen Kanon eigentlich nur eine Geschichte, die sich davon abhebt und die Holmes selbst erzählt). In diesem Roman indes verschwindet Watson beinahe vollständig aus der Handlung. Zwar ist er dabei und gelegentlich auch in der Ich-Perspektive vorhanden, aber eigenständige Gedanken, wie sie noch im „Hund der Baskervilles“ gang und gäbe waren, tauchen hier nicht mehr auf. Watson wird zum Statisten degradiert, was der Geschichte einen ganz erheblichen Teil ihres Reizes nimmt.
Nachdem die Handlung dann ins „Tal der Angst“ und in die Vergangenheit wechselt, bekommt man als Leser leider relativ rasch mit, woher der Wind weht, und der als „überraschend“ vorgesehene Schluss ist schon lange vorher deutlich zu erkennen. Das Pulver hat Doyle also bereits im Kapitel 7 nach nicht einmal 100 Seiten verschossen, der Rest ist leider mehr oder weniger heruntergespulte Routine, da helfen auch die geheimnisvollen Machenschaften der Freimaurer nicht mehr.
Das Tal der Angst muss daher leider als ein Sherlock-Holmes-Roman zum Abgewöhnen beschrieben werden. Man halte sich lieber an die jüngeren Werke, in denen noch wirkliches Interesse an der Handlung den Autor bei der Stange bleiben ließ. Oder man lese hier nur die vordere Hälfte des Buches …
© 2006 by Uwe Lammers
Autsch, das ist eine ganz schöne Watsche für Arthur Conan Doyle? Und das von einem ausdrücklichen Holmes-Fan wie mir? Nun ja, das kann ich leider nicht leugnen. Aber ich pflege hier daran zu erinnern, dass ich keinen Schönwetter-Blog verfasse. Wenn es profunde Kritik an Werken gibt, die ich rezensiere, dann nehme ich da durchaus kein Blatt vor den Mund. Das schien mir anno 2006 hier absolut angebracht.
Wird es wieder besser? Aber unbedingt. Auch wenn ich hier schon mal wegen des Artikels der kommenden Woche vorwarnen möchte – manch einer, der sich an eine faszinierende historische Legende klammert, wird meine Ausführungen in sieben Tagen sicherlich als arg desillusionierend empfinden. Doch ist vermutlich das letzte Wort zum Thema „Bernsteinzimmer“ auch danach nicht gesprochen. Und ihr wisst ja – die Hoffnung stirbt zuletzt.
In diesem Sinne bleibt gespannt, was für ein Buch ich euch in der kommenden Woche an dieser Stelle serviere. Ich glaube, es ist die Vorstellung unbedingt wert.
Bis dann, Freunde, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Und das einzige zeitgeschichtlich interessante Faktum besteht darin, dass die hier erwähnten Deutschen aus politischen Gründen bei der Publikation zu „Schweden“ mutieren. Eine Folge des Ersten Weltkriegs.
2 Vgl. Mike Ashley (Hg.): Sherlock Holmes und der Fluch von Addleton, Bastei 14916, Juni 2003, S. 727.
3 Vgl. hierzu die Story „Sein letzter Fall“, publiziert im Strand Magazine, Dezember 1893.