Liebe Freunde des OSM,
heute machen wir mal gewissermaßen eine doppelte Zeitreise. Zum einen geht es zurück in den Anfang des 20. Jahrhunderts, und solche Zeitreisen seid ihr ja von meinem Rezensions-Blog bereits seit fünf Jahren gewohnt. Zum anderen aber geht es zurück in die Frühzeit meiner Rezensententätigkeit, soweit sie aktuell digital präsent ist – das heißt, in das Jahr 2001, als ich das unten vorgestellte Buch las und besprach. Es gibt selbstverständlich ältere Rezensionen, die bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts zurückdatieren, aber die muss ich mehrheitlich erst noch einer Rettungsabschrift unterziehen und dann textlich nachschleifen, ehe ich sie euch präsentieren kann. Sofern sie heute noch meinen inhaltlichen Maßstäben genügen, schränke ich ein.
Die zweite Reise ist die interessantere. Denn das vorgestellte Buch ist doch reichlich fremdartig, selbst für die Verhältnisse dessen, was ihr von mir gewohnt seid, und es gibt einen Subtext unter der Rezension, den ich erhellen muss, damit ihr versteht, warum ich das Buch überhaupt kaufte, las und besprach.
Im Oktober des Jahres 2001 befand ich mich direkt in der massiven Erschöpfungsphase nach Abschluss meines vierten Archipel-Romans „Rhondas Weg“, der mich mit fast 2000 Textseiten völlig ausgelaugt hatte (was mich nicht daran hinderte, den Handlungsstrom schon im Folgeroman „Rhondas Reifejahre“ bereits fortgeführt zu haben). Da lief mir also dieses Buch auf dem Wühltisch über den Weg und konfrontierte mich mit einer wichtigen Fragestellung, die mich im Archipel bereits seit mehreren Jahren umtrieb.
Wie erleben Menschen die Sklaverei von innen heraus? Also nicht nur rein belletristisch, wenn Autoren ihre unabhängigen Protagonisten in Gefangenschaft wandern lassen, um sie – zumeist unter dramatischen Begleitumständen – daraus nach einer gewissen Zeit wieder zu befreien? Nein, das ging hier deutlich tiefer. Denn ich hatte im zweiten Archipel-Roman „Evi und Petra“ anno 1998 auf der Insel Fandan Menschen kennen gelernt, die der Sklaverei, der sie unterworfen waren, durchaus positive Aspekte abgewannen und ihre Befreiung als Belastung empfanden.
Ich fand das, vorsichtig gesagt, verwirrend und widersprüchlich. Es konnte doch nicht sein, sagte ich mir damals, dass die Sklaverei als positiv wahrgenommen wird, die Entrechtung und völlige Entmündigung. Wie kann das sein? Mir kamen damals diese Menschen, die ich gleichwohl genau so beschrieb, wie ich es gerade sagte – weil ich SPÜRTE, dass dies die einzige, aufrichtige Art und Weise war, wie ich es beschreiben musste – , doch sehr eigenartig vor. Fast wie Aliens.
Und ich grübelte jahrelang ergebnislos darüber nach, ob das nun tatsächlich nur ein Archipel-Phänomen sei und die Menschen sich dort tatsächlich so fundamental von uns unterschieden … oder ob es dergleichen auch bei uns geben könne oder gegeben hatte.
Und dann stieß ich auf Marilyn Frenchs Roman. Was dann folgte, lest ihr jetzt:
Tagebuch einer Sklavin
(OT: Diary of a Slave)
von Marilyn French
btb 72244
160 Seiten, TB
Januar 1998
Aus dem Amerikanischen von Sabine Roth
ISBN 3-442-72244-6
Freiheit ist ein absoluter Wert, so wird uns gerne eingeredet, der keine Nachteile habe. Die Nachteile liegen alleine in den Verhältnissen der Unfreiheit. Dass es jedoch durchaus möglich ist, sich nach der Unfreiheit zurückzusehnen, weil die Freiheit mehr stranguliert als die Sklaverei zuvor, diese Facette der Wirklichkeit zeigt Marilyn Frenchs Roman.
Das Beduinenmädchen Lowan ist dreizehn Jahre alt, als ihre Familie in eine existentielle Krise gerät und ihr Vater gezwungen ist, sie in die Sklaverei zu verkaufen. Anfangs ist sie froh, dem despotischen, prügelnden Vater entkommen zu sein und nicht mehr allgegenwärtig unter Hunger, Staub und Läusen leiden zu müssen. Lowan wird als Sklavin in den Harem eines orientalischen Fürsten verkauft (der Ort ist nicht ganz klar, die Zeit auch nicht im Detail, aber es deutet einiges darauf hin, dass es Ägypten oder sonst wo im Nahen Osten ist, etwa in den 20er oder 30er Jahren, eventuell auch etwas später).
Des Lesens und Schreibens unkundig und hoffnungslos romantisch, verliebt sich das Mädchen in den Hausherrn und Lowans sehnlichster Wunsch ist es, bei ihm zu liegen und ihm beweisen zu können, wie gerne sie ihm alles gibt, was er von ihr wünscht. Die anderen Frauen im Harem scheinen sie überhaupt nicht zu verstehen und verspotten das Mädchen.
Sie versteht erst in dem Moment, als sie sein Kind unter ihrem Herzen trägt und von der Hausherrin nach Monaten zu sich gerufen wird: der Fürst Allasein sei alt und müsse gegenüber anderen nur noch beweisen, dass er fähig sei, zu zeugen. Aber es zöge ihn stets zu seinen Frauen zurück, sie jedoch, die kleine Sklavin Lowan, sei nur Mittel zum Zweck. Deshalb werde er sich ihr auch gewiss nicht noch einmal nähern, wenn sie sein Kind zur Welt gebracht habe …
Lowan will es nicht glauben. Nach einer Weile bleibt ihr aber keine andere Wahl.
Ihre Welt bricht zusammen und sie versinkt nach einem Selbstmordversuch in Depressionen.
Das ist freilich ihr Glück: eine Revolution fegt das alte Regime hinfort und verbietet es, einen Harem zu unterhalten. Die Haremsdamen sind mit einem Mal frei.
Aber was heißt Freiheit?
Freiheit ist in diesem Fall Orientierungslosigkeit. Auch Lowan irrt hilflos durch die Gassen der fremden, großen Stadt (denn früher durfte sie das Haus nicht verlassen und kennt sich nicht aus, kennt niemanden hier). Mit wenig mehr bekleidet als ihrer Unterwäsche und dem durchsichtigen Kleid schwankt sie mehr umher, als dass sie geht.
Als sich ein Konditor ihrer annimmt, gerät sie als dankbares Mädchen in eine andere Form der Sklaverei, die schließlich dazu führt, dass er sich ihrer ebenfalls so bedient, wie sich ein gieriger Mann eben einer hilflosen Frau annimmt. Will heißen: neben der Ausbeutung ihrer Arbeitskraft bedient er sich ihrer in eindeutig sexueller Absicht. Sie kann dagegen nichts tun, es sei denn, sie möchte wieder auf die Straße gestoßen werden und verhungern.
Es dauert lange, bis Lowan aus diesem Leben einen Vorteil zieht, doch dann ist es bereits zu spät, weil eine Entscheidung gefallen ist, die ihr ganzes Leben verändert …
Ich muss sagen, ich war ein wenig deprimiert, als ich den Roman ausgelesen hatte – was wegen der extrem großen Schrift wirklich rasch geht. Am Ende des Romans ist Lowan 21 Jahre alt und arbeitet für eine britische Gesellschaft, aber wie sie am Abend ihre verzweifelten Aufrechnungen macht, das hat etwas Bitteres, Endgültiges an sich. Noch immer ist sie im Herzen Träumerin, aber ihr goldener Prinz Allasein, von dem sie nach wie vor träumt, ist ferne, hat sie vergessen und sie niemals wirklich geliebt. Sie hat das Kind des Konditors zur Welt gebracht, ein schrecklich hässliches Mädchen, hässlich wie er selbst auch, und sie selbst ist müde, ermattet von der ständigen Anstrengung des täglichen Daseins, und wenn sie sich anschaut, graut es Lowan.
Freiheit, das ist ein absoluter Wert.
Ja, aber warum sehnt sie sich dann zurück in den Harem, in jene Welt, in der sie zwar keine Rechte besaß, aber – in Maßen – glücklich war? Es ist nicht nur die kühle Luft, es sind nicht nur die aufregenden Parfums und die gleichaltrigen Gefährtinnen, es war einfach … nun, sie WUSSTE, wo sie hingehörte. Sie hatte ihren Platz, sie wusste, warum sie etwas tat und für wen.
In der „Freiheit“ nun, die so angepriesen wird, hat sie nichts davon.
Gut, Lowan könnte reisen (wenn Geld da wäre). Sie kann abends in ihr kleines Haus zurückkehren und am Wochenende ausschlafen (wenn das Kind sie nicht stört). Sie kann sich kaufen, was sie will (wenn Geld da wäre) … Aber WOFÜR tut sie das? Für das ungeliebte Kind? Für sich?
Am Ende des Romans lässt Marilyn French den Leser seltsam desorientiert zurück. Die Befreiung des Mädchens Lowan war – sozial gesehen – durchaus von Vorteil. Aber für ihr Leben ist diese Befreiung pures Gift gewesen. So wenig man sich mit Frauen im Harem abfinden kann, wenn man im Westen lebt, so klar ist doch auch, dass mit überstürzten Befreiungsaktionen, die vermeintlich „primitive“ Lebensverhältnisse umstülpen, bei den solcherart Befreiten in erster Linie Desorientierung und Leiden verursachen werden, zumal dann, wenn man sich nicht mehr um die Freigelassenen kümmert (und so ist es im Roman).
Ein wenig frustrierend sind die sehr harten Schnitte im Buch an exponierten Stellen, wo man als Leser/in gerne mehr erfahren hätte: wie sie die Versteigerung als Sklavin erlebt hat; wann und wie sie den Entschluss zum Suizid fasste, der das Kind tötete; ob sich nach der Befreiung die erwähnten Soldaten an ihr vergangen haben (es wird angedeutet und erscheint plausibel, wird aber konsequent ausgeblendet); wie sie sich von dem Konditor Mostaka losmacht, das Kind zur Welt bringt, in Kontakt mit den Briten gerät … da macht das Buch den Eindruck, als sei da arg gekürzt worden. Dennoch ist es gut gelungen.
Wiewohl nicht im Mindesten phantastisch, so macht dieses Buch doch sehr nachdenklich und ist als anregendes, sehr zu Herzen gehendes Buch jedem interessierten Leser wärmstens zu empfehlen.
© 2001 by Uwe Lammers
Ihr merkt, dieser bemerkenswerte, sehr kurze Roman, der nur aufgrund großer Schrift überhaupt Romanformat erlangte und sonst eher eine Novelle ist, ließ mich damals ziemlich desolat und desorientiert zurück. Er half mir aber bei der obigen Fragestellung durchaus. Und wer irgendwann später einmal diese Fragestellung im Rahmen meines Archipels verstehen möchte (sofern die Archipel-Romane jemals veröffentlicht werden, aktuell gibt es diesbezüglich keine Pläne), der sollte sich an die obige Rezension und den Roman entsinnen.
In der kommenden Woche machen wir eine Zeitreise zu einem ganz exotischen Abenteuer, das mich, ungelogen, an meine Kindheit erinnerte. Und es enthielt eine sehr erhellende Entdeckung.
Mehr dazu in sieben Tagen.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.