Liebe Freunde des OSM,
manchmal kommen Menschen in Diskussionen auf Themen, die abseitig zu sein scheinen, weil völlig unrealisierbar. Ein solches Thema dreht sich offenbar unvermeidlich bei jenen Personen, die mit ihrer Situation im Hier und Jetzt unzufrieden sind, darum, sich in die Vergangenheit zu wünschen, in der vermeintlich alles besser war. Die „gute alte Zeit“, jeder von uns kennt derlei nette Diskussionen, in denen leider nahezu immer hemmungslos idealisiert wird.
Das ist menschlich – man nivelliert die unangenehmen Erinnerungen und alles, was nicht zu dem vermeintlich paradiesischen Idyll passt, kurzerhand weg und übrig bleibt, vermeintlich, eine „bessere Welt“. Ohne extremistische Parteien, stumpfsinnige Politiker, die den Wählerwillen ignorieren, zu hohe Steuern, Hartz-IV-Gesetzgebung usw. Vieles davon mag stimmen. Aber was gern ausgeblendet bleibt, ist dies: in vielerlei anderer Hinsicht leben wir speziell in Zentraleuropa in einem Zeitalter, in dem es uns sehr viel besser geht als in früheren Zeiten – und zwar ist es ziemlich gleichgültig, in welche Epoche wir uns zurückversetzen.
Ein Blick auf die medizinische Versorgung lässt uns selbst gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch frösteln. Reden wir nicht von Hygiene, Nahrungsmitteln, Seuchen, Hungerkatastrophen, fehlender sozialer Absicherung, Kriegen, Revolutionen … es gibt buchstäblich unendlich vieles, was damals alles andere als „gut“ war und was wir, weil wir dies in der Regel nicht im Hier und Jetzt an eigenem Leib erlebt haben, einfach nicht in unsere Gespräche einfließen lassen (Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, dem Irak oder vielen afrikanischen Staaten wären ohne Frage überhaupt nicht unserer Ansicht, dass wir aktuell in einem Land leben, das nicht lebenswert ist; sie kommen schließlich nicht grundlos hierher, darüber sollte man mal gründlich nachdenken, zumal jene Personen, die mit den hiesigen Verhältnissen so unendlich unzufrieden sind).
Aber was ich eigentlich sagen wollte, ist Folgendes: werfen wir doch einfach mal einen Blick zurück nur über einen vergleichsweise kleinen historischen Abgrund, zurück ins 18. Jahrhundert. Schauen wir uns London zu der Zeit an, ohne Frage auch damals schon eine Hochmetropole der Zivilisation … und dann fragen wir uns mal kritisch: hätten wir damals in dieser „guten alten Zeit“ leben wollen? Ich für meinen Teil definitiv nicht!
Und hier erfahrt ihr (unter anderem), warum:
Das Freudenschiff
oder: Die wahre Geschichte von einem Schiff und
seiner weiblichen Fracht im 18. Jahrhundert
(OT: The Floating Brothel)
von Sîan Rees
Piper Taschenbuch 3999
296 Seiten, TB
November 2003, 8.90 Euro
London war ein unfreundlicher Ort im Jahre 1788. England hatte gerade den amerikanisch-englischen Krieg gegen die rebellischen Kolonien verloren und sah sich unvermittelt mit einem Problem konfrontiert, das schon seit vielen Jahrhunderten jeder kriegführenden Nation innere Turbulenzen beschert hatte – mit einem Mal mussten mehr als hunderttausend heimkehrende Soldaten untergebracht und versorgt werden. Ein jeder benötigte ein Dach über dem Kopf, einen Beruf, in dem er arbeiten konnte, Essen, das ihn ernähren konnte.
Kein Problem? Oh doch, denn im übervölkerten England des späten 18. Jahrhunderts war die britische Regierung auf dergleichen nicht eingestellt. Die Autorin Sîan Rees entwirft ein düsteres Bild der herrschenden Zustände: „Im Jahre 1783 hatte die Übervölkerung in den Städten bedrohliche Ausmaße angenommen – die entlassenen Soldaten einer gewaltigen Armee waren aus den Kriegen nach Hause zurückgekehrt … – mit dem deutlichen Ergebnis, dass die Arbeitslosigkeit bei beiden Geschlechtern stark anstieg. Die erste Folge stach dem Betrachter sofort ins Auge: In den Straßen wimmelte es von Versehrten, die um Münzen bettelten. Die zweite Konsequenz trat erst mit der Zeit zutage: Als die Männer aus dem Krieg heimkehrten, verloren viele Frauen ihre Stellen und fanden sich auf der Straße wieder.“
Das alleine ist schon tragisch, aber es wird noch schlimmer.
Normalerweise wären solche Frauen in diesem Fall, wie eigentlich immer nach verlorenen Kriegen, in ihre Familien zurückgekehrt. Aber die Verhältnisse hatten sich gewandelt. Rees führt weiter aus: „In Englands Städten des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts wurde diese Strategie allerdings davon durchkreuzt, dass viele Frauen keinen Haushalt hatten, in den sie zurückkehren konnten.“ Was an der veränderten Mobilität lag – viele Mädchen aus der Provinz versuchten ihr Glück in den Großstädten und waren nach dem Verlust ihrer Stellung der Willkür ihrer Mitmenschen weitgehend schonungslos ausgesetzt.
Welche Möglichkeiten blieben solchen unglückseligen Mädchen und Frauen in diesem Fall? Betteln zum einen, Prostitution zum anderen. Und Diebstahl aller möglichen Art.
Die mit dieser Entwicklung einhergehende dramatische Zunahme von Kleinkriminalität (ein übrigens heute nicht völlig unbekanntes Phänomen!) stellte nunmehr die Rechtsprechung vor massive Probleme. Es gab zu wenig Gefängnisse, und die Höchststrafe – Verbrennen für schwerkriminelle Frauen, Hängen für Männer – wurde zunehmend durch öffentliche Kritik in der Umsetzung erschwert. Was blieb? Deportation.
Dummerweise war der einzig mögliche Ort der Deportation – die amerikanischen Kolonien – gerade unzugänglich geworden. Rees beschreibt die zuweilen wirklich aberwitzigen Versuche der britischen Regierung, Kolonien in Afrika für die Deportation zu nutzen, es werden Pläne geschmiedet, englische Kleinkriminelle als Bergwerkssklaven nach Nordeuropa, als Kolonisten für den Kaukasus an die Zarin oder als Sklavenaustausch nach Tanger zu verschachern. Das kann nur angedeutet werden, es ist wirklich beängstigend zu lesen.
Und dann gab es noch Australien.
Weit entfernt am anderen Ende der Welt, an einem Ort namens Sydney Cove, war eine kleine Kolonie errichtet worden, betrieben von Strafgefangenen, doch bislang fehlte von diesen Siedlern jedwedes Lebenszeichen. Die Schiffsreise nach Australien dauerte im günstigsten Fall fünfeinhalb Monate (einfache Fahrt), im schlechtesten Fall mehr als ein Jahr. Ungeachtet der Tatsache, dass niemand wusste, ob die Kolonisten in Sydney Cove überhaupt noch lebten, beschloss die britische Regierung, einen Konvoi von Versorgungsschiffen dorthin in Marsch zu setzen.
Insbesondere die furchtbaren Verhältnisse im hoffnungslos überfüllten Londoner Newgate-Gefängnis erzwangen ein rasches Handeln. Außerdem wollte man endlich die Gefängnisschiffe von der Themse entfernen – Schiffe, auf die man schon vor Jahren meist männliche Strafgefangene ausgelagert hatte, da diese bald in See stechen und die Verbrecher in die Kolonien oder andere geeignete Deportationsziele bringen sollten. Sie waren nur nie ausgelaufen. Manche dieser Schiffe schwappten mitsamt ihrer menschlichen Fracht seit über fünf Jahren auf der Themse, fragile und menschenunwürdige Verlängerungen der eisigen britischen Kerkerzellen. Auslagerungsgefängnisse.
Nun mag der Leser einwenden, dass es sich ja um Verbrecher handelte, und dass Mitleid angesichts ihrer Haftbedingungen hier unangebracht sei … nun, wenn man sich, wie Rees es auch tut, das Gesetz ein wenig genauer anschaut, das hier zur Geltung kam, ist man genötigt, diese Ansicht zu revidieren:
Verurteilt wurden natürlich Menschen, die andere umgebracht hatten, die klassischen Verbrecher eben. Aber insbesondere im Falle der kleinen Diebinnen wurde die Härte der Strafe (die zwischen 7 Jahren Deportation, lebenslanger Deportation oder halt der Todesstrafe durch Verbrennen schwankte) nach dem Wert der gestohlenen Güter bemessen, weniger an der Brutalität des Verbrechens. So konnte man durch vermutlichen Diebstahl eines Mantels, der unter Umständen nur von der Bank unter die der Frau gerutscht war, durchaus zu sieben Jahren Deportation verurteilt werden. Ebenso, wenn man, weil man keine Bleibe besaß und sich auf einem Hinterhofabort betrank und dort einschlief, ebenfalls mit sieben Jahren Deportation bestraft werden konnte.
Es war durchaus nicht unüblich, bis zu zwei Jahre dieser Verbannungsstrafe dann in ungezieferverseuchten, überfüllten Provinzgefängnissen oder eben in Newgate abzusitzen und dann vielleicht noch einmal ein paar Jahre auf einem Gefängnisschiff, was viele vorab schon das Leben kostete. Soviel zu den Dramen, die sich schon vor Beginn der eigentlichen Geschichte abspielten.
Im Jahre 1789 nun, unmittelbar vor Ausbruch der Französischen Revolution, wurde endlich ein Schiff reisefertig gemacht, die Lady Julian. 36 Meter lang, an der breitesten Stelle 10 Meter durchmessend, und vollgestopft bis ans Oberdeck mit nicht weniger als (mutmaßlich, da die Listen schlampig geführt wurden) 240 weiblichen Strafgefangenen zwischen 14 und 68 Jahren plus der Besatzung. Hinzu kamen Schafe, Kühe, Schweine, Pflanzen, jede Menge Saatgut, Geflügel und Ähnliches. Eine für heutige Vorstellungen wahnwitzige Menagerie.
Damit die Überfahrt nicht gar so unangenehm und eintönig würde, gibt Rees wieder, durfte „nach dem Gesetz jeder Seemann und jeder Offizier an Bord der Lady Julian die Frau seiner Wahl zwingen, ihm als ‘Gefährtin’ für die Dauer der Reise zur Verfügung zu stehen“, wie es in der TIMES nachzulesen war. Die Regierung hatte offenbar sehr klare (und kaltschnäuzige) Vorstellungen davon, wie sich Männer mit ihren ‘Gefährtinnen’ beschäftigen würden: „‘Die Regierung hat sechzig Garnituren Babywäsche geliefert – in der Annahme, dass dank der gesunden Seeluft jede richtige Frau auf dieser langen Reise ein Kind empfangen wird.’“
Da bleibt dem Leser schon mal die Luft weg.
Aber dies ist ja erst der Beginn einer rund einjährigen Reise ins Ungewisse, einer Reise, die sie nach Afrika und Südamerika führen würde, einer Reise, die von allen Beteiligten unbeschreibliche Opfer und Leiden abverlangt und überraschende Erkenntnisse ans Licht des Tages befördert. Denn die Lady Julian stach zwar in See und kam letzten Endes auch in Sydney Cove an, doch was dazwischen alles geschah – und was für ein bittersüßes, wenn auch tragisches Nachspiel sich aus der Beziehung zwischen dem Seemann John Nicol und der siebzehnjährigen Sarah Whitelam entwickelte, das sollte man einfach gelesen haben …
Das Buch wurde durch die später diktierten Memoiren John Nicols angestoßen und durch Archivrecherchen der Autorin ausgiebig erweitert. Sîan Rees, eine entfernte Nachkommin einer der deportierten Frauen, die sich schließlich in Australien niederließ, hat mit diesem Werk ein ausgezeichnet lesbares, stellenweise sehr erschütterndes Sachbuch verfasst, das dem Leser die Alltagswelt des 18. Jahrhunderts in eindringlicher Weise nahebringt.
Rees verknüpft auf faszinierende Weise Stränge der Geschichte einfacher Bevölkerungsschichten mit romanhafter Erzählweise, etwas, wofür angloamerikanische Wissenschaftler immer schon berühmt waren. Das Buch liest sich also beinahe von selbst und lenkt die Neugierde auf bislang unbekannte Szenen der Weltgeschichte, die von Menschen wie Du und Ich beherrscht wurden. Zudem demonstrieren sie, wie dünn manchmal doch die Fäden sind, an denen das Schicksal ganzer Nationen hängt, wenn sie gerade im Entstehen begriffen sind. Hier im Falle von Australien, denn es hätte nicht viel gefehlt, dann wären von den Kolonisten nur gebleichte Knochen übriggeblieben.
Vom Standpunkt des Historikers ist freilich leichte, milde Kritik angebracht. So ist es überaus bedauernswert, dass das Buch keinerlei Verweise der vielen Zitate bringt. Manchmal hätte ich schon gerne gewusst, was sie da zitiert, ob es sich also etwa um zeithistorische Kommentare oder um nebelhaftere Erinnerungen John Nicols dreißig Jahre nach diesen Geschehnissen handelt. Ebenso wäre ein Personenregister hilfreich gewesen, da man doch mit der Vielzahl von „gefallenen Frauen“, wie die Verbrecherinnen im Volksmund genannt wurden, zeitweise etwas überfordert ist. Wenige Zeilen Kurzbiografie jeder einzelnen wichtigen Person im Anhang hätten das Verständnis des Buches noch mehr gefördert.
Zuletzt hätte ich dem Buch einen besseren Lektor gewünscht. Es weist leider viele Setzfehler auf, die auf schlampiges Lektorat hindeuten. Einen parallelen Fall gab es mal bei Bastei-Lübbe, als ich das alte Sachbuch von C. W. Wedgwood über den Dreißigjährigen Krieg las. Dass hingegen das Titelbild mit dem Inhalt eigentlich nichts zu tun hat, tut dem Werk von Rees keinen Abbruch. Es ist ein hübscher Blickfang und trägt hoffentlich dazu bei, das Buch zu verkaufen. Die Autorin hätte es verdient.
© 2003 by Uwe Lammers
Ja, diese Rezension mag inzwischen 17 Jahre auf dem Buckel haben, das stimmt. Und das Buch ist vermutlich längst vergriffen und kann nur noch antiquarisch besorgt werden. Dennoch halte ich es für absolut sinnvoll, es als Lektüre auf den Leseplan zu setzen.
Die Vergangenheit hat nicht nur ihre Sonnenseiten, sondern auch ausgesprochen finstere Ecken, und ich fürchte, ich übertreibe nicht, wenn ich sage: die Nachteile des Einst überwiegen bei weitem. Abenteuerlust und Zeitreiseabenteuer hin oder her – in der wirklichen Welt damals zu leben, das war kein Zuckerschlecken. Für niemanden der Zeitgenossen. Viele hätten sich, davon bin ich überzeugt, nach solch einer Rundum-Versorgungswelt, wie sie für uns geradezu selbstverständlich geworden ist, die Finger abgeschleckt.
Wir schätzen wirklich das, was wir haben, erst dann wirklich, wenn es uns verlorengegangen ist. Das ist so wie mit lieb gewonnenen Mitmenschen und Freunden, die jählings von unserer Seite gerissen werden. Am einen Tag ist es noch ganz selbstverständlich, dass sie da sind – und am nächsten Tag sind sie für immer verloren.
Seien wir also froh, dass die Welt, in der die armen Frauen der Lady Julian zu leben gezwungen waren, nicht mehr die unsere ist. Ich denke, wir würden dort nicht glücklich werden.
Wohin wenden wir uns in der kommenden Woche? Nun, da kommt die höchste Autorität schlechthin zu Wort – nämlich Gott himself.
Glaubt ihr nicht (lach)? Dann schaut wieder rein!
Bis dann Freunde, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.