Liebe Freunde des OSM,
als James Graham Ballard im Jahre 2009 unsere Welt für immer verließ, bedauerte ich das wirklich heftig. Mir geht es immer nahe, wenn Literaten, die ich schätze, das Zeitliche segnen, und mag es auch – wie im Fall von Ballard – im 79. Lebensjahr gewesen sein.
Tatsache ist, dass ich James Graham Ballard schon sehr lange als Leser kannte und viele seiner früh bei Heyne publizierten Bücher bereits kannte, darunter zählen auch einige Storysammlungen. Man muss zwar, wie ich eingestehe, in einer gewissen Stimmung sein, um sich vollends auf Ballards Werke einzulassen, aber wenn man das erst mal getan hat, dann kann ich fast mit Bestimmtheit behaupten, wird man diese Geschichten nicht mehr vergessen können. Mir wenigstens geht es so.
Dass ich bislang nur eine solche Storysammlung in den zurückliegenden fünf Jahren rezensiert habe1, hat nichts mit Geringschätzung zu tun, sondern mit dem Gegenteil – die Dinge, die man besonders genießt, soll man in kleinen Dosen inhalieren oder sonst wie zu sich nehmen, sonst nimmt die Wertschätzung ab und der Genuss vergeht gar zu schnell.
Ballards Geschichten sind darum auch nicht etwas, was man eben mal schnell gewissermaßen zwischen Tür und Angel „herunterlesen“ kann, wie es mit vielen flink geschriebenen belletristischen Werken der Fall ist, an die man sich schon eine Woche später nur noch in Umrissen erinnert. Ballards Werke muss man genießen wie einen edlen Tropfen, sich von der packenden Wucht seiner Worte mitreißen lassen, in gespenstische Welten jenseits unserer Vorstellung.
Interessanterweise scheint James Graham Ballard ein äußerst hellsichtiger Prophet unserer Zivilisation gewesen zu sein – denn zahlreiche seiner Geschichten lesen sich wie der moderne Widerhall unserer ökologischen Ängste (manche würden sie Zwangsvorstellungen nennen, noch andere, die gern die Augen vor dem wesentlich vom Menschen seit Jahrhunderten in Gang gesetzten Klimawandel die Augen verschließen, glauben sowieso nicht daran oder halten den Klimawandel für eine chinesische Erfindung – ich werde den Namen der Person, der euch jetzt auf der Zunge liegt, nicht nennen!). Klimawandel? Klimakatastrophe? Stillstand der Zivilisation, das alles findet man in atemberaubenden Formulierungen bei Ballard – sozusagen de luxe-Untergangsvisionen und Projektionen des Möglichen.
Schaut weiter, wenn ihr neugierig geworden seid:
Der ewige Tag
(OT: The Day of Forever)
Von James Graham Ballard
Suhrkamp 727
192 Seiten, TB
Übersetzt von Michael Walter
ISBN 3-518-37227-0
Wer sich auf das Abenteuer einlässt, James Graham Ballards Romane und Geschichten zu lesen, sollte einer Tatsache bewusst sein – man sieht sich hier jemandem gegenüber, in dessen Werken ein feinsinniger Stilist am Werke ist, der seine Geschichten mit doppelten Böden, reichhaltigen Metaphernkontexten und raffinierten Anspielungen versieht. Jemand, der die Psychologie seiner Protagonisten ins Zentrum stellt und für den das phantastische Umfeld gleichwohl nicht nur Kulisse ist, sondern eine Art von physischer Widerspiegelung innerer Zustände. Es ist nicht rein zufällig, dass seine Protagonisten so oft Verlorene in einer hoffnungslos wirkenden Welt sind. Es ist ein Strukturprinzip seiner Werke, zumal seiner späteren.
Diese Kurzgeschichtensammlung, erstmals 1967 veröffentlicht, enthält 10 Erzählungen, beginnend mit der Titelstory „Der ewige Tag“:
Irgendwann in der nahen Zukunft ist die Rotation der Erde zum Stillstand gekommen – der Grund wird nicht erklärt – , und die menschliche Zivilisation, wie wir sie kennen, hat aufgehört zu existieren. Verlassene Städte und Einsamkeit regieren, während in Nordafrika der Protagonist Halliday vor seinen Träumen flüchtet und von einer langsam gleitenden Zeitzone in die nächste weiterreist, die sich gemächlich gemäß der solaren Rotation verschiebt. Hier trifft Halliday auf Gabrielle Szabo und die Malerin Leonora Sully, die bizarre Phantasien aufs Papier bringt und zusammen mit ihrem Begleiter, dem Arzt Dr. Richard Mallory, ebenfalls unterwegs ist. Vor der Bühne einer apokalyptisch verlassenen Welt, ausgemalt in unglaublich beeindruckenden Schilderungen, entfaltet sich schließlich ein menschliches Drama …
„Gefangener der Korallentiefe“ scheint auf den ersten Blick nur von einem Ausflug an eine Steilküste zu handeln, wo sich, von der Brandung freigewaschen, Relikte der Millionen Jahre alten Erdvergangenheit finden lassen. Aber hier trifft der Ich-Erzähler auch auf eine rätselhafte Frau und hört den Sirenenruf der Ewigkeit …
„Morgen ist in Jahrmillionen“ führt uns auf eine fremde Welt und den ausgetrockneten See der Träume, bevölkert von grotesken Geisterschiffen der irdischen Literatur, die an dem Protagonisten Glanville vorbeisegeln. Glanville ist mit seiner Frau Judith auf dieser Welt gestrandet, geflüchtet vor einem unbarmherzigen Verfolger, der ihn schließlich einholt und der Gerechtigkeit zuführen möchte. Aber Glanville hat nicht vor, sich kampflos zu ergeben. Die Phantome von dem See der Träume sollen ihm helfen, zu gewinnen … doch ihm ist nicht klar, dass das Schicksal andere Pläne mit ihm hat.
Forbis ist „Der Mann im 99. Stock“, der aus unbegreiflichen Gründen heraus, die er selbst nicht versteht, immerzu versucht, den 100. Stock eines Gebäudes zu erreichen. Es gelingt ihm jedoch nicht, und er begreift nicht, was ihn antreibt und nicht, was ihn hindert. Erst sein Psychologe Vansittart macht es ihm verständlich – ein hypnotischer Block wurde Forbis auf irgendeine Weise appliziert, mit einem zweiteiligen Befehl, von dem er nur den ersten Teil aufspüren kann. Den zweiten kann er erst dann erfahren, wenn er sein Ziel erreicht – wenn er das Dach des Gebäudes betritt. So beschließen Vansittart und Forbis schließlich, das Wagnis einzugehen und Forbis in den 100. Stock gelangen zu lassen. Wie sollen sie wissen, dass das ein Fehler ist …?
„Die Warte-Gründe“ ist eine faszinierende, man möchte fast sagen, metaphysische Geschichte, in der die Grenzen der Realität verschwimmen, wie so oft in Ballards Werken – der Planet Murak ist eine menschenfeindliche Einöde, nur bevölkert von ein paar finster-depressiven Erzschürfern, die hier festsitzen. Ansonsten gibt es nur noch die felsige, heiße Wildnis des Planeten und ein Radio-Observatorium. Als Quaine seinen Dienst antritt und seinen Vorgänger Henry Tallis ablöst, der es hier 15 lange Jahre ausgehalten hat, ist ihm nicht bewusst, dass Tallis und die heiße Einöde ein Geheimnis umgibt. Aber er bekommt es schließlich mit – dort sind zwei Männer vor langer Zeit verschollen, die offensichtlich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen hergekommen sind, seltsamerweise mit kistenweise Gepäck, gefüllt mit religiösen Traktaten. Aber was das wirklich bedeutet, bekommt er erst heraus, als er unter Lebensgefahr jenen Talkessel entdeckt, in dem das größte Mysterium Muraks verborgen ist, das ihm das Universum aufschließt …
„Das Schlachtfeld“ liegt in einem alptraumhaft veränderten England der nahen Zukunft, und leider ist die Geschichte zu kurz, um wirklich transparent zu machen, was geschehen ist, bevor diese Begebenheit geschieht. Nur soviel ist elementar: in der nahen Zukunft fechten die Vereinigten Staaten weltweit Guerillakriege a la Vietnam aus, und amerikanische Einheiten haben dabei auch England besetzt und führen erbittert Krieg gegen die „Einheimischen“ …
„Der freundliche Attentäter“ ist eine tragische Geschichte eines Mannes, der eines Tages in London zu den Krönungsfeierlichkeiten von König James III. eintrifft, sich aber dafür gar nicht interessiert. Stattdessen mietet er sich in einem ganz bestimmten Hotel ein, bezieht ein ganz bestimmtes Hotelzimmer und baut dort sein Scharfschützengewehr auf – um ein Verbrechen zu vereiteln, das er aus seiner 35 Jahre in der Zukunft präsenten Erinnerung sehr genau kennt … doch ein entscheidendes Detail ist ihm unklar …
In „Der unvermutete Nachmittag“ erleidet Familienvater Elliott einen grässlichen Migräneanfall oder etwas, was er zumindest dafür hält. Die Nebeneffekte, die sich einstellen, sind allerdings … sehr bizarr. Immerhin erinnert er sich auf einmal äußerst farbenprächtig an seine Kindheit in Indien (wo er nie gewesen ist) und an seine psychiatrische Praxis (wobei er gar kein Psychiater ist). Und was ist mit diesem Krishnamurti Singh, der ihm so vertraut ist, wiewohl er ihn nie getroffen hat …?
In der Welt, in der „Die Wahnsinnigen“ spielt, möchte man wirklich nicht leben. Das ist auch ganz Dr. Charles Gregorys Ansicht. Der Psychologe, der aufgrund der geltenden Gesetze nicht mehr praktizieren darf, weil die psychologische Behandlung von Menschen unter Strafe steht, ist gewissermaßen auf der Flucht vor sich selbst, während „die Wahnsinnigen“ die Straßen bevölkern. So kann es auch nicht überraschen, als sich die Anhalterin, die er mitnimmt, als eine Frau entpuppt, die aus einer Anstalt entflohen ist. Das Drama nimmt seinen Lauf …
Mr. Goddard ist ein freundlicher, rund 65 Jahre alter Kaufhausangestellter, der in der Story „Mr. Goddards letzte Welt“ ruhig und bedächtig seinen Dienst im Kaufhaus versieht. Es gibt nur wenige Dinge, die hier seltsam sind … zum Beispiel eine Gruppe von Kaufhausangestellten, die im Hinterhof eine Treppe steil in die Luft richten und scheinbar ins Nirgendwo hineinzuklettern suchen – was natürlich katastrophal fehlschlägt.
Mr. Goddards Heim ist gegenüber der idyllischen Kleinstadt mit seinem Kaufhaus seltsam spartanisch … bis auf einen einzigen Raum mit einer Tresorkammer, in der eine große Kiste steht, in die er jeden Abend still vergnügt hineinsieht. Und er schaut dort hinab auf eine Miniaturwelt mit einem Miniaturkaufhaus und Miniaturmenschen … aber eines Tages geht etwas schrecklich schief …
Ballards Kurzgeschichten, so lapidar sie manchmal auch auf den ersten Blick wirken mögen, haben doch zumeist sprachlich eine unglaubliche Intensität. Besonders in seinen längeren, dystopischen Werken kann man sich von der finsteren, bezwingenden, geradezu psychedelischen Wirkung seiner Sätze nicht freimachen. Selten lässt er sich naturwissenschaftlich festnageln, was ja ein Kennzeichen der „new wave“ ist, der er sich zugehörig fühlte.
Geschrieben in Zeiten des Umbruchs und der finsteren Zukunftserwartungen in den späten 60er Jahren des 20. Jahrhunderts – der Kalte Krieg war auf dem Höhepunkt, Dürrekatastrophen suchten Afrika heim, politische Instabilität grassierte, die wirtschaftlichen Prognosen sahen Umweltkatastrophen, Rohstoffverknappung, Rohstoffkriege und dergleichen voraus – , spiegeln Ballards Erzählungen diese zeithistorischen Verwerfungen. Zugleich gehen sie aber auch auf bisweilen surreale Weise darüber hinaus und beziehen dabei die zumeist gebrochene Psyche seiner Protagonisten als Spiegelbilder der nicht minder verworrenen, oft ausweglos erscheinenden Umwelt mit ein. Dabei lösen sich gelegentlich die Grenzen von Raum und Zeit auf.
Solche Aspekte wie Religion, Schicksal, Determinismus sind häufige Bausteine von Ballards Geschichten. In ihnen verschmilzt Science Fiction mit naher Zukunftsprojektion, soziale Entwicklungen werden in die nahe Zukunft projiziert und in beklemmender Intensität deutlich gemacht. Wer immer also mit Ballards Werken noch keine Tuchfühlung aufgenommen haben sollte, dem seien sie hiermit ausdrücklich ans Herz gelegt – dieser Band wäre ein sehr schöner Einstieg.
Unbedingte Leseempfehlung!
© 2016 by Uwe Lammers
Ihr merkt, diese Leseerfahrung ist noch vergleichsweise frisch. Eine deutlich ältere stelle ich euch in der kommenden Woche vor. Dort begeben wir uns statt in die nahe Zukunft in die Vergangenheit und auf die andere Seite der Erdhalbkugel.
Neugierig bleiben, Freunde!
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Vgl. dazu den Rezensions-Blog 116 vom 14. Juni 2017.