Liebe Freunde des OSM,
wer mich lange kennt, und damit meine ich so etwa gut 20 Jahre oder länger, der ist schon geraume Zeit darüber im Bilde, dass mich der Mythos des Ozeandampfers TITANIC seit langem in seinen Bann gezogen hat. Schon 1984 verfasste ich mit der Geschichte „Ein Passagier der R.M.S. TITANIC“ (dem Vorläufer zu meiner gleichnamigen, später im E-Book grundlegend überarbeiteten und optimierten Novelle) eine Story, in der sich die TITANIC-Lektüre meiner Jugend und die Phantastik mischten. Es dauerte eine Weile weiterer Jahre, bis ich, ausgehend vermutlich von Walter Lords Schilderung über die Fahrt der TITANIC, auch erkannte, dass das reale Schicksal des Schiffes Reiz genug ausstrahlte.
In meinem Flur hängt eine Risszeichnung der TITANIC an der Wand. Zahllose Bücher zur TITANIC und Bildbände über jene Zeit der maritimen Schifffahrt finden sich in meiner Bibliothek. Und so gelangte als jüngstes Werk auch dieses Sachbuch in meinen Besitz – und elektrisierte mich unvermeidlich. Wusste ich doch, dass James Cameron als Verfasser von dem Ozeandampfer vermutlich noch besessener war als ich. Und ich habe seinen Kinofilm aus den 90er Jahren sicherlich zwei Dutzend Male gesehen, ungeachtet seiner Länge, davon mindestens ein halbes Dutzend Mal im Kino.1
Und ich wusste bislang nur von der 1995er-Expedition Camerons zur TITANIC, die ja die Grundlage für seinen Film war. Dass er danach noch zwei Expeditionen ausrüstete und mit neuartigen Tauchrobotern in das bis dahin unerreichbare Innere des Wracks vorstieß, ahnte ich nicht und konnte mir das auch nicht vorstellen – ganz zu schweigen von den Wundern, die er darin vorfand und fotografisch festhielt.
Wer wissen möchte, wie mein TITANIC-Wissenshorizont dramatisch erweitert wurde und was Cameron erlebte, der lese weiter:
Mission TITANIC
(OT – mutmaßlich, da nicht verzeichnet: Mission TITANIC)
Von James Cameron
Delius Clasing & Co., Bielefeld (2016)
großformatiger Bildband
252 Seiten, geb.
Aus dem Amerikanischen von Melanie Kopp
ISBN 978-3-667-10239-3
Man schreibt den April des Jahres 1912. Der mit weitem Abstand luxuriöseste Liner der White Star Line überquert auf seiner Jungfernfahrt den Atlantik mit Zielhafen New York. Aber wie jeder Kenner weiß, kommt die TITANIC dort niemals an. Sie kollidiert im Nordatlantik bei annähernd spiegelglatter See mit einem Eisberg und versinkt für immer auf den Grund des Meeres, mehr als zweitausend Seelen kommen dabei ums Leben. Das Wrack gilt jahrzehntelang für immer verschollen, bis es schließlich 1985 dem amerikanischen Ozeanologen und Tiefseeforscher Robert D. Ballard gelingt, das Schiff in rund 3.800 Metern Meerestiefe ausfindig zu machen und Bilder von der Stätte der ewigen Ruhe empor ans Licht zu bringen.
In den Folgejahren tauchen verschiedene Expeditionen hinunter auf den eisigen Grund des Nordatlantiks und heben diverse Artefakte aus dem weit ausgedehnten Trümmerfeld. Aber allgemein wird Ballards Diktum Glauben geschenkt: die TITANIC ist ein weithin unzugängliches Wrack, das Innere, das zweifellos ebenso zerstört sei wie etwa das komplett zerfetzte Heckteil des gesunkenen Luxusliners. Mikroorganismen seien massiv dabei, alles Holz des Wracks zu zersetzen, und zweifellos sei es am besten, das Schiff unter Denkmalschutz zu stellen und in Ruhe zu lassen.
Es gibt aber jemanden, der sich damit nicht abfindet. Das ist der amerikanische Regisseur James Cameron. Er unternimmt 1995 einen ersten Tauchgang zur TITANIC und macht die Erfahrung, dass die Tauchtechnologie noch deutlich hinter den prinzipiellen Möglichkeiten herhinkt. Außerdem trägt er sich mit dem Gedanken, einen Kinofilm über das TITANIC-Drama zu erschaffen, das ihn selbst schon seit Jahrzehnten umtreibt. Bereits seit seiner Kindheit war er von der Tiefsee und Tiefseeforschung wie besessen.
Allgemein wird angenommen, dass ein TITANIC-Film nicht funktionieren werde. Zu bekannt ist die Geschichte, sie habe einfach kein Potenzial. Er findet keine Geldgeber und finanziert schließlich kurzerhand den Film auf eigene Faust mit einem Wahnsinnsbudget und einem perfektionistischen Aufwand. Der Rest ist, könnte man sagen, Geschichte: „TITANIC“ wird 1997/98 zur Weltsensation und zu einem der berühmtesten Film der Filmgeschichte, der reihenweise Oscars einheimst. Er ist der Grundstein für die Schauspielerkarrieren von Leonardo DiCaprio und Kate Winslet.
Ist dies der Schlussstein für Camerons Besessenheit von der TITANIC? Nein. Gemeinsam mit seinem – inzwischen verstorbenen – Filmkollegen Bill Paxton, der im Kinofilm eine wichtige Rolle spielte, kehrt Cameron im Jahre 2001 zur TITANIC zurück. Inzwischen hat sein Team die Tauchrobotertechnik perfektioniert. Und Cameron möchte nicht nur um das Wrack herumtauchen … nein, er will mitten hinein. Er will herausfinden, ob Ballards Diktum stimmt. Und zugleich hofft er auf das Gegenteil, auch wenn die Wahrscheinlichkeit dafür sehr gering ist, wenn man sich die Fakten besieht.
Ist das Innere der TITANIC tatsächlich nur noch ein zertrümmerter Ruinenteppich, oder hat das Schiff, das fast vier Kilometer tief in den Ozean hinabstürzte und von außen so zerschlagen aussieht wie ein gefallener Krieger nach heftigem Kampf, doch noch Überraschungen aufzubieten?
Mit einem akribischen Plan des Wracks, basierend auf den Planzeichnungen der White Star Line setzt Cameron seine neu entwickelten Tauchroboter „Jake“ und „Elwood“ (benannt nach den Blues Brothers aus dem gleichnamigen Film) für Fahrten ins Innere des Schiffes ein – und findet ein atemberaubendes Märchenreich voller Überraschungen.
Da sind beispielsweise die rätselhaften und definitiv gefährlichen Rostzapfen, die nun erstmals wissenschaftlich untersucht werden können: faszinierende, weitgehend hohle und sehr zerbrechliche Kolonien metallbasierter Bakterien, die sich im Innern des Wracks in Form von unglaublichen Gallertwolken ausgebreitet haben. Aber im Gegensatz zu Bob Ballards Annahmen haben sie durchaus keine ganze Arbeit geleistet – es gibt weite Bereiche, ja, ganze Decks, die erstaunlicherweise kaum beschädigt sind.
Cameron findet erhaltene Teakholztäfelungen. Er findet ganze Glasfenster, die den Absturz ohne Sprung überstanden haben. Glasflaschen stehen immer noch in ihren Halterungen. Spiegel sind intakt. Selbst ganze Geschirrstapel sind unzerbrochen. Sogar ganze Räume und Einrichtungsdetails, die niemals fotografiert worden sind, sind so gut erhalten, dass auch TITANIC-Historiker wie Don Lynch und Illustratoren wie Ken Marshall, die an den Expeditionen teilnehmen, regelmäßig überrascht werden.
Aber bei allen Fortschritten gibt es auch Eintrübungen. Tauchroboter fallen aus. Batterien beginnen zu brennen. Bildübertragungen fallen aus. Piloten der Roboter, zu denen Cameron selbst auch gehört, machen Bedienungsfehler, und alles vor den Tauchmaschinen verschwindet in einem einzigen Sturm aufgewirbelten Sediments.
Und dann, als sie bei der zweiten Expedition wieder vom Wrack auftauchen, ist die Welt schlagartig eine andere geworden – man schreibt den 11. September 2001, und in New York sind die Türme des World Trade Centers eingestürzt. Auf einmal scheint die Expedition vollkommen nutzlos zu sein. Eigentlich.
Aber Cameron reißt sich zusammen und bringt die Untersuchung zu einem Ende. Und kehrt 2005 mit optimierter Technik noch ein drittes Mal zur alten Lady auf dem Meeresgrund zurück, um ihr weitere Geheimnisse zu entreißen.
Das vorliegende Buch ist die opulent illustrierte Frucht all dieser Expeditionen, und selbst für mich, der ich seit den späten 80er Jahren, als Bob Ballards Entdeckung bekannt wurde, die Berichterstattung über das Schiff verfolgt habe, bot es sagenhafte neue Erkenntnisse, die nicht allein auf die fotografischen Details beschränkt waren. Ich lernte beispielsweise auch eine Menge über James Cameron und seine Arbeitsweise, seine Detailversessenheit, seine nimmermüde Neugierde und die manchmal fast unerträglichen Frustrationen, wenn etwa das Kabel der Roboter zu kurz war, um noch um die Ecke herumzutauchen und zu sehen, ob beispielsweise die Aufzugstüren nach wie vor existierten.
Ach, wie gut kenne ich doch als Autor und Historiker jenen Moment der inneren Weißglut, wenn die Möglichkeiten der Information enden und man einfach nicht mehr weiterkommt … aber im Gegensatz zu Cameron habe ich dann üblicherweise nicht die Möglichkeit, einfach bessere Maschinen zu entwickeln, um die ersehnten Kenntnisse doch noch zu erwerben.
Ich lernte bei der faszinierenden und spannenden Lektüre eine Menge über Tiefsee-Expeditionen im Allgemeinen und über Tauchroboter und ihre Belastbarkeit im Besonderen. Und am Ende präsentierte Cameron, in Einklang mit zahlreichen beteiligten Wissenschaftlern, eine ausführliche forensische Analyse, was in den Apriltagen des Jahres 1912 tatsächlich geschah – weit besser, als es Robert Ballard in den 80er Jahren möglich war.
Damit möchte ich Ballards Beitrag absolut nicht schmälern – er befand sich einfach in der Lage eines Forschers, der von technischen Möglichkeiten schlicht beschränkt war. Weder Woods Hole als seine Heimatinstitution noch das französische Institut Ifremer, das seine Expeditionen unterstützte, war in der Lage, soviel Finanz in die Erforschung zu pumpen, um so vorgehen zu können wie Cameron. Speziell nach dem TITANIC-Film hatte der Regisseur diesbezüglich keine Finanzierungssorgen mehr, von so etwas konnte Ballard natürlich nur träumen.
Ballard ging eben von dem aus, was er von außen sehen konnte und von den wenigen, kargen Einblicken in die zugänglichen Teile des Schiffes. Und ja, natürlich musste er davon ausgehen, dass das Innere des Schiffes weitgehend zerstört war (was ja, formell betrachtet, wirklich der Fall ist). Wie hätte er angesichts der ihm bekannten Fakten und des äußeren Anscheins davon ausgehen sollen, dass es Bereiche des Inneren gab, die – wie etwa das Türkische Bad, in das Camerons Tauchroboter in diesem Buch vorstoßen – nahezu unzerstört auf den Meeresgrund gelangten? Camerons Buch erklärt auch sehr begreiflich, warum es sich so verhielt und weshalb das Heckteil des Wracks zu dem zerfledderten Trümmerhaufen wurde, der es heute ist.
Um ein Fazit zu ziehen: dieser faszinierende Bildband erweitert selbst für Kenner der TITANIC-Materie das bislang bekannte Bild über die Katastrophe und die heutige Situation auf dem Meeresgrund vor den Neufundlandbänken fundamental. Es ist nicht nur optisch faszinierend, sondern durch Einarbeitung von Reproduktionen historischer Dokumente und anspruchsvoller Computergrafiken und moderner Filmfotos ein Einblick in das Einst und Heute, wobei man z. T. Bereiche der TITANIC zu sehen bekommt, die noch niemand zuvor sehen konnte.
Ich konnte mich aus dem Buch jedenfalls nicht wieder lösen, ehe es ganz gelesen war – ein sagenhaftes, manchmal dramatisches und Frösteln auslösendes Lesevergnügen für alle, die sich für die TITANIC und das Schicksal der auf ihr weilenden und gestorbenen Personen interessieren. Dem Buch sind weitere Leser sehr zu wünschen, es lohnt sich!
© 2019 by Uwe Lammers
Genug geschwärmt? Lach. Okay, Freunde, überredet. Dann lasst uns in der kommenden Woche in die Science Fiction zurückkehren. Das habt ihr euch verdient.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Verteilt über einige Monate übrigens – damals, ehe die Zentralisierung der Braunschweiger Kinolandschaft einsetzte, kam das tatsächlich noch vor, dass Blockbuster von Monat zu Monat von einem Kino zum nächsten wanderten und man so über vier Monate hinweg den Film immer wieder im Kino anschauen konnte. Heute ist das völlig ausgeschlossen, da sind die Kinopläne längst viel zu homogenisiert. Eindeutig ein klarer Verlust an kultureller Vielfalt, wenn man mich fragt.