Liebe Freunde des OSM,
es ist immer schwierig für Rezensenten, auch wenn sie noch so kritisch und behutsam mit den ihnen anvertrauten Werken umgehen, zum einen die Spreu vom Weizen zu trennen, noch viel mehr aber, die Werkinhalte von den Überzeugungen der Autoren abzuscheiden. Ich betone stets, und das schon seit ein paar Jahrzehnten, dass ich mich schwerpunktmäßig auf die Romane, die in ihnen wirksamen Ideen und Strukturen beziehe und diese kritisiere. An den Autoren selbst übe ich in der Regel eher wenig Kritik, abgesehen davon, dass ich inhaltliche Fehler auf mentale Ermüdung der Verfasser usw. zurückführe. Vergangene Woche hatten wir solch ein Beispiel.
Der vorliegende Roman, den ich jüngst – und meiner Ansicht nach durchaus zu Recht – als einen Klassiker der modernen Science Fiction charakterisiert habe, ist unter diesem Aspekt allerdings eine Art von zweischneidigem Schwert, ihr werdet das gegen Schluss meiner Rezension von 2009 erkennen. Als ich das Buch 1988 das erste Mal las, verfügte ich nicht über allzu viel Wissen über den Autor und, da es WIKIPEDIA noch nicht gab, auch kaum über die Chance, dies schnellstmöglich zu ändern. Das sah natürlich anno 2009 gründlich anders aus … und als ich dann die unten stehende Rezension verfasste, flossen kritische Bemerkungen über den Autor und seine Weltvorstellungen ganz unvermeidlich ein.
Doch sieht man einmal davon ab und fokussiert zunächst auf das zentrale Thema des vorliegenden Buches, so hat man es zum einen mit einer Zeitreisegeschichte zu tun, einem originären Sujet der klassischen SF, zum anderen mit einer ambitionierten Parallelweltgeschichte, die die moderne Quantentheorie antizipiert, und zum dritten zugleich mit einem „Was wäre, wenn …?“-Szenario der Alternativwelten.
Das Thema, wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte, ist natürlich auch 1988 nicht mehr eben neu gewesen, doch dies mit Zeitreisen gleich in verschiedene temporale Universen zu verknüpfen UND mit Verschwörungstheorien … das alles in einen Buchdeckel zu pressen UND dazu dann noch die zeithistorischen Persönlichkeiten glaubwürdig agieren zu lassen … doch, das nötigte mir auch zwanzig Jahre nach Erstlektüre noch Respekt ab.
Wer das vorzustellende Buch also noch nicht kennen sollte, aber nach den obigen Zeilen Neugierde in sich aufsteigen fühlt, der sollte ausdrücklich weiterlesen. Ich bin der Auffassung, dass sich das durchaus lohnt:
Unternehmen Proteus
(OT: The Proteus Operation)
von James Patrick Hogan
Heyne 4461, 1988
496 Seiten, TB
Aus dem Amerikanischen von Edda Petri
ISBN 3-453-00979-7
Die Welt ist ein Alptraum.
Man schreibt das Jahr 1974, und die USA stehen unter John F. Kennedy mit dem Rücken gegen die Wand. Die Nazis haben in Europa den Zweiten Weltkrieg gewonnen, die Japaner sich Russland und den Pazifikraum unterworfen, die südamerikanischen Staaten sind als Militärdiktaturen ins faschistische Lager umgekippt, und in Afrika wird von Hitlers Schergen die Endlösung betrieben. Die Welt ist ein einziger Kriegszustand, und es sieht nicht so aus, als solle sich daran etwas ändern … bis Claud Winslade in der amerikanischen Armee eine Gruppe von Männern und Frauen um sich sammelt, um ein ehrgeiziges Projekt zu starten, das „Unternehmen Proteus“. Es geht um eine Reise, ja, das ist schon richtig, aber nicht irgendwohin, sondern IRGENDWANN.
Die Proteus-Gruppe unter John F. Kennedy hat eine Zeitmaschine entwickelt, die ausgewählte Mitglieder ins Frühjahr 1939 zurückschicken kann. Von dort aus soll verhindert werden, dass die Weltgeschichte ins diktatorische Gleis kippte. Dort soll außerdem ein Zweiseitentor eingerichtet werden, um technische Hilfe aus der Zukunft zu ermöglichen.
Um es kurz zu machen: Teil 1 der Mission gelingt. Claud Winslade und eine Gruppe hochrangiger Militärs und Wissenschaftler wird in die Vereinigten Staaten von 1939 zurückgeschickt. Unter einer Tarnadresse entsteht in Brooklyn in einem Lagerhaus am Meer die Gegenanlage. Während das geschieht, gehen Winslade, der deutsche Physiker Klaus Scholder und einige andere Beteiligte nach England, um dort den scheinbar abgehalfterten, aufs Altenteil geschobenen ehemaligen Lord der Admiralität, Winston Churchill, wieder in die Politik zurück zu befördern. Obwohl dieser Entschluss in der Proteus-Welt umstritten war, weil Churchill nach 1940 dort keine Rolle mehr spielte, erweist sich Winslades Wahl als Glücksgriff. Churchill lässt sich mobilisieren, aber die Politik mahlt langsam, sehr langsam.
In Europa fällt sehr bald Polen unter die Teilungsherrschaft Deutschlands und der Sowjetunion. Der Alptraum scheint auf das Jahr 1942 zuzulaufen, unaufhaltsam… und 1942 haben die Nazis mit einer Nuklearbombe Moskau ausgelöscht und damit Stalin das Rückgrat gebrochen.
Gleichzeitig haben die Wissenschaftler in Brooklyn Probleme mit dem neuen Torkomplex. Offensichtlich bekommen sie keine Verbindung mit der Zukunft von 1975. Und dann gibt es noch etwas Bedrohliches: Claud Winslade weiß scheinbar viel mehr, als er bisher gesagt hat, insbesondere über die heikle und in der Proteus-Welt nie geklärte Frage, woher Hitler seine Nuklearbombe hatte, mit der er den Krieg entschied. Die deutsche Atomindustrie steckte damals schließlich noch in den Kinderschuhen und hätte solch eine Waffe niemals aus eigener Kraft zu diesem Zeitpunkt entwickeln können.
Das hat er auch nicht, wird den verstörten Zeitreisenden schließlich eröffnet. Hitler hatte Hilfe aus der Zukunft, und es ist niemand anderes als Kurt Scholder, der ihnen das erläutert. Scholder, der auf der Proteus-Welt aus dem besetzten Europa herausgeschmuggelt worden ist, entstammt nämlich eigentlich der Welt von 2025 … aber diese ist auf einer anderen Weltenlinie gelegen.
Dort hat sich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs ein Jahrhundert des Friedens angebahnt. Aber revanchistische Faschisten, die niemals eine Chance hatten, die Welt nach ihrem Wunsch zu formen, haben ein wissenschaftliches Projekt in Brasilien, „Orgel“ genannt, benutzt, um eine Zeitmaschine zu bauen. Mit der überlegenen Technik des 21. Jahrhunderts gelang es ihnen, volle hundert Jahre zu überbrücken und ins Jahr 1925 vorzustoßen, um hier die hoffnungsvolle Nazibewegung zu unterstützen und zum Aufblühen zu bringen.
Sie haben es also, erklären Scholder und Winslade, mit den Neonazis aus dem 21. Jahrhundert zu tun, die hier und heute, anno 1939, die Fäden in Europa ziehen. Ihr Gegentor, durch das in wenigen Monaten die Nuklearwaffe kommen wird, die den Krieg entscheidet, steht in einem militärischen Komplex in Leipzig. Und da die politischen Mühlen so extrem langsam mahlen und es unergründliche Probleme mit der Verbindung nach 1975 gibt, bleibt nur eins: ein Stoßtrupp muss nach Nazideutschland hineingeschleust werden, um das schwer bewachte Tor in Leipzig zu zerstören. Ein Himmelfahrtskommando, aber offensichtlich die letzte Chance, das Ruder herumzuwerfen.
Leider ist das alles immer noch nicht die ganze Wahrheit. Denn woher hatte beispielsweise die Erde des Jahres 1975 wohl die Zeitreisetechnologie …? Und das ist nur eine heikle Frage, es gibt noch ganz andere …
Pünktlich zum 40. Jahrestag des Kriegsendes veröffentlichte der amerikanische Autor James P. Hogan 1985 seinen Roman „The Proteus Operation“, der in Deutschland in einer passablen Übersetzung und sogar mit einem extrem passenden Cover zum Roman publiziert wurde (was auch damals nicht die Norm war). Ich las das Buch erstmals direkt nach Erscheinen im April 1988 und war schwerstens begeistert. Noch weit entfernt vom Studium der Geschichte und nicht sonderlich tief in die Geheimnisse der Quantenmechanik eingeweiht, beeinflusste dieses Buch meine Kreativität in nicht geringem Maße.
Die Zweitlektüre fand im Dezember 2009 statt, nach über 20 Jahren, und noch immer ist zu konstatieren, dass dieser inzwischen vergriffene Roman, den man nur noch antiquarisch bekommen kann, einen gewissen Zauber ausstrahlt. Die Grundidee hat ihren Charme nicht eingebüßt, heute vielleicht weniger denn je, weil die Kontrafaktik, die Wissenschaft von der spekulativen Geschichte, dem „Was wäre gewesen, wenn …?“, mich heute mehr als früher schon fasziniert.
Nach der Neulektüre habe ich mich dann auch ein wenig über Hogans Biografie kundig gemacht, und ganz ehrlich, sein WIKIPEDIA-Artikel ist nicht eben schmeichelhaft. Hier wird unter anderem darauf hingewiesen, dass er in jüngster Zeit pseudowissenschaftliche Themen favorisiert bearbeite, den Themen des „intelligent design“ nahe stehe (was auf einen ausgeprägt religiösen, vielleicht fundamentalistischen Hintergrund schließen lässt) und zudem mit der Position der Holocaust-Leugner Arthur Butz und Mark Weber sympathisiert. Damit ist gleichzeitig eine Nähe zu Verschwörungstheoretikern plausibel, und diesem „Hobby“ frönt Hogan in dem oben rezensierten Werk eifrig.
Die Grundlagen dessen, was man als recht unverhohlenen Relativismus des Holocaust nennen könnte, finden sich auch schon in „Unternehmen Proteus“. Hier wird unverblümt die Vorstellung vertreten, der Nationalsozialismus sei aus sich heraus quasi weder lebens- noch entwicklungsfähig gewesen, außer in Form einer Ausstülpung höherer Mächte, die ihn unterstützten, förderten und seine Pläne und Strukturen schufen.
Diese Ansicht ist ganz klar dem Denkmuster von Verschwörungstheorien entlehnt. Die Vorstellung, dass die wahrnehmbare Geschichte nur der Abglanz einer von elitären Geheimzirkeln gestrickten „Geheimgeschichte“ sei, findet sich in allen Verschwörungstheorien, mal mehr, mal weniger deutlich. Hier sind es die Freimaurer, da die Kommunisten, die Rosenkreuzer, die Juden, der internationale Terrorismus, die Hochfinanz … ganz gleich, überall wird ziemlich deutlich, dass wir nur die Oberfläche dessen zu sehen bekommen, was „wirklich“ da ist.
Vielleicht ist es deshalb kein Zufall, dass nach „Unternehmen Proteus“ keines der zahlreichen Bücher von James P. Hogan mehr ins Deutsche übersetzt worden ist. Seine Ansichten sind dann doch gar zu durchsichtig geworden und für den deutschen Markt vermutlich untragbar.
Sieht man allerdings davon ab und beschränkt sich mit vorsichtiger Kenntnis des Hintergrunds allein auf diesen Roman, so ist zu konstatieren, dass es sich jenseits des Verschwörungshintergrunds um eine solide zeitgeschichtlich basierte Arbeit handelt, die historische Persönlichkeiten durchaus glaubwürdig und manchmal sehr amüsant mit fiktiven Personen in Relation und Interaktion setzt. Man mag also zu Hogan als Mensch und Schriftsteller und seinen bedenklichen Ansichten stehen, wie man mag, ich bin der Auffassung, dieser Roman hat es dennoch verdient, aus dem Dunkel der Vergessenheit gehoben zu werden. Er lohnt durchaus eine Neuentdeckung.
© 2009 by Uwe Lammers
Ja, Hogan mag menschlich und von seinen politisch-historischen Überzeugungen fragwürdig und schwierig sein. Wer das jedoch im Hinterkopf behält und stets kritisch reflektiert, findet hier meiner Überzeugung nach immer noch einen sehr soliden, bemerkenswerten Stoff vor.
Gilt das auch für das Buchpaket (!) der kommenden Woche? Das ist schwieriger zu sagen, wie immer, wenn wir über erotische Literatur zu urteilen haben. Ich fand die Bücher, mit äußerst passenden Covern versehen, schon vor geraumer Zeit und las sie mit Interesse. Und in der nächsten Woche erzähle ich euch Näheres.
Bleibt neugierig, Freunde!
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.