Liebe Freunde des OSM,
als Arthur Conan Doyle seines meisterhaften Detektivs Sherlock Holmes überdrüssig war und die Auffassung vertrat, der Detektiv würde ihn zu sehr in seiner schriftstellerischen Entwicklung hemmen, ließ er ihn schließlich in der Schweiz medial wirksam in die Reichenbachfälle stürzen und ums Leben kommen… doch er musste lernen, dass die medial erweckten Gespenster sehr viel hartnäckiger sind als ihre Schöpfer, und es blieb ihm überhaupt nichts anderes übrig, als schließlich Holmes´ Wiederauferstehung zu inszenieren. Die Leser hatten gewonnen – und die Welt eine Legende mehr, deren Ruf sich bis heute hartnäckig Jahr um Jahr in die Zukunft ausweitet.
Aber Doyle, Journalist und Abenteurer (und schön getroffen in der Fernsehserie „Houdini & Doyle“, wie ich finde), schrieb natürlich noch andere Werke. Er verfasste beispielsweise ein zentrales Buch zum Burenkrieg, das heute indes weitgehend vergessen ist, auf das er aber sehr stolz war. Und er ersann zur Abwechslung von Sherlock Holmes den Charakter des problematischen, exzentrischen Professor Challenger.
Auch die Challenger-Geschichten, die in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts dann von Bastei-Lübbe in der Phantastischen Bibliothek neu aufgelegt wurden, sind inzwischen einmal mehr in den Dämmer des Halbvergessens versunken. Ich habe sie damals allerdings noch gelesen… und eins davon war dann ein ziemlicher Nachzügler, der jahrelang in meinen Regalen stand, ehe ich mich darauf stürzte.
Ich gebe zu, ein Anlass dazu war die Berichterstattung über die venezolanischen Tafelberge, die Tepui, über die ich ein wunderbares, opulentes Buch von Uwe George besitze.1 Und ich wurde durchaus nicht enttäuscht – ähnlich wie ein Robert E. Howard oder eben, ich deutete das damals in der Rezension schon an, ein Henry Rider Haggard, stürzte sich Doyle Hals über Kopf in ein quasi-koloniales Abenteuer und suchte ein verwirrendes Crossover zwischen Abenteuerroman einerseits und quasi-prähistorischer Erlebniswelt. Damit stellte er in gewisser Weise einen Vorläufer dessen dar, was später in den 30er Jahren noch die Doc Savage-Serie prägen sollte: das Erfinden verwunschener, quasi märchenhafter Locations und Ländereien, die es realiter auf keiner Landkarte zu finden gab. Doyle hält sich dabei allerdings mehr an die Realität, er war nur definitiv nie vor Ort, sonst hätten viele seiner Prämissen einfach nicht funktioniert.
Gleichwohl, es ist eine spannende Region Südamerikas, wohin uns der vorliegende Roman entführt, bevölkert von nicht minder abenteuerlichen Gestalten.
Wenn ihr neugierig geworden seid, lest weiter:
Die vergessene Welt
(OT: The Lost World)
von Sir Arthur Conan Doyle
Heyne Fantasy Classics 3715
München 1979, einst: London 1912
224 Seiten, TB
Ach, was tut man nicht alles, um seiner ersten Liebe zu imponieren? Zumal, wenn man erst Anfang 20 ist und völlig von sich überzeugt, ist die kühle Zurückweisung seitens der Frau schlicht unerträglich. So geht es Ned Malone, einem Londoner Reporter, der seinem Schwarm Gladys Hungerton, seine Liebe gesteht. Sie aber will nur einen wirklichen Tatmenschen, einen Abenteurer heiraten, und der sei Ned halt nicht.
Zweifellos hätte sich der junge Mann ohne dieses Ereignis nicht in das lebensbedrohliche Abenteuer gestürzt, das er daraufhin in Angriff nimmt. Eigentlich soll er nun im Auftrag seines Redakteurs lediglich einen schrulligen, exzentrischen Wissenschaftler interviewen, aber die Dinge entwickeln sich anders. Professor George Edward Challenger hat vor zwei Jahren eine Expedition nach Südamerika unternommen und dort angeblich eine Region entdeckt, in der urzeitliche Lebensformen überlebt haben sollen. Als Dank für diese Entdeckung ist der reizbare Professor indes ausgelacht worden, und auf die Presse ist er sowieso nicht gut zu sprechen, weswegen sich Malone unter einem Vorwand bei ihm einschleicht und prompt auf die Straße geprügelt wird – von eben jenem reizbaren Professor.
Und doch entwickelt der Journalist eine gewisse Neugierde, die sich noch steigert, als er Zeuge einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung wird zwischen Challenger und seinem wissenschaftlichen Rivalen, Professor Summerlee. Und ehe er sich versieht, ist er zusammen mit Summerlee und dem passionierten Jäger und Abenteurer Lord John Roxton im Auftrag der Zoologischen Gesellschaft tatsächlich unterwegs nach Südamerika, um Challengers Behauptungen nachzuprüfen.
Zu dumm – anfangs scheint Challenger wahrhaftig ein Schaumschläger zu sein, denn seine Reiseinstruktionen, die am 15. Juli mittags in Manaus zu öffnen sind und in denen die Lage des Reiseziels beschrieben werden soll, enthalten lediglich leere Blätter… aber dann taucht Challenger selbst auf und übernimmt überraschend die Leitung der Expedition, was Anlass für den Verfasser ist – Doyle berichtet aus Malones Perspektive und weitgehend in Briefform für seinen Herausgeber in London, was zweifellos der sukzessiven Publikation des Romans förderlich gewesen sein dürfte – , genüsslich die eine oder andere wissenschaftliche Reiberei zwischen den so unterschiedlichen Wissenschaftlern darzustellen, die beide auf ihre Weise exzentrisch sind.
Nach einer Weile muss selbst Summerlee indes zugeben, dass Challenger wenigstens mit seinen geografischen Behauptungen Recht behalten hat. Das einst von dem verstorbenen Amerikaner Maple White entdeckte Hochplateau, das von Challenger „Maple White Land“ getaufte Areal der „vergessenen Welt“, existiert tatsächlich. Es gelingt den vier Freunden tatsächlich auch der Aufstieg, allerdings wird dann auf fatale Weise der Rückweg abgeschnitten, und so sitzen sie nun hier oben fest. Und es gibt in dieser urzeitlichen Welt leider nicht nur die gesichteten Flugsaurier, die Perodactylen, und den von Maple White einst skizzierten Stegosaurus, sondern noch sehr viel gefährlichere Lebensformen – und ehe die Forscher und ihre Begleiter begreifen, wie ihnen geschieht, müssen sie erbittert um ihr Überleben kämpfen…
Mit dem 1912 erstmals erschienenen und seither oft neu aufgelegten Klassiker „The Lost World“ hat Arthur Conan Doyle einen spannenden, oft von äußerst amüsanten Zwischenspielen unterbrochenen Abenteuerroman erschaffen, den ich nach heutiger Deutung eigentlich nicht als Fantasyroman bezeichnen würde. Gewiss enthält er Elemente, wie man sie in damals gängigen Romanen ähnlicher Provenienz, etwa bei Henry Rider Haggard, vorfinden kann, aber mit Fantasy heutiger Prägung hat er eher weniger zu tun. Es ist mehr eine Form von kolonialem Abenteuerroman mit gewissen phantastischen Elementen.
Bei der Konstruktion macht Doyle natürlich gewisse dramaturgische Zugeständnisse, die von der Realität abweichen. Denn er hat durchaus ein reales Vorbild, obgleich ich nicht sicher bin, ob er 1912 schon davon wissen konnte. Etwa in der Region, in der sein Roman spielt, im Grenzland zwischen Brasilien und Venezuela, befindet sich die Region der legendären Tepui, riesenhafter, archaischer Tafelberge aus grauer Vorzeit, die Hunderte von Millionen Jahre alt sind und nahezu vollkommen unzugänglich. Zum damaligen Zeitpunkt kann man sie allenfalls aus der Ferne explorieren, denn manche von ihnen haben mehr als fünfhundert Meter hohe Steilwände. Die Oberseiten der Tepui liegen durchweg auf rund zweitausend bis dreitausend Metern Höhe, was natürlich dramatische Konsequenzen für die Vegetation hat. Von vereinzelten hohen Bäumen – wie dem riesigen Ginkgo, der hier im Roman beschrieben wird – kann natürlich keine Rede sein.
Die Oberseite der Tepui, die heute teilweise durch Expeditionen erforscht sind, besteht fast durchgängig aus einem dicht verfilzten Dschungel von Bodenpflanzen, die bisweilen durch Riesenwuchs auffallen, aber schon allein wegen der heftigen Winde, der ständigen Regenfälle und der zahlreichen Gewitter nicht allzu hoch wachsen können. Solche Riesenbäume, wie Doyle sie beschrieben hat, würden beim ersten Gewitter Opfer der Blitzschläge werden. Auf sie wie auch auf die täglichen Regenschauer der Region verwendet er keine Gedanken. Er macht sich zwar Gedanken über das ökologische Gleichgewicht in dieser so prekären Region, aber der Leser fragt sich schon, was beispielsweise die Pterodactylen daran hindern soll, sich ins tiefer gelegene Binnenland auszubreiten. Auf den Tepui gibt es jedoch der starken Winde wegen keine Flugreptilien und sowieso keine großen, höheren Lebensformen. Das liegt nicht zuletzt auch am allgemeinen Nahrungsmangel, denn die Regengüsse spülen den Großteil der Nährstoffe mit sich fort über die Klippen, weswegen pflanzliche Lebensformen klar überwiegen.
Doyles „Maple White Land“ liegt nur rund 300 Meter hoch, was natürlich dramaturgisch notwendig war, damit man es vergleichsweise leicht erklimmen konnte, und damit dieses Gebilde eine entsprechende geologische Geschichte bekam, besteht es bei ihm aus Basalt und ist vulkanischen Ursprungs. Die Tepui Venezuelas bestehen indes aus Sandstein, und allein ihre gigantischen Ausmaße haben verhindert, dass sie inzwischen vollständig verwittert sind. Zugleich hat Doyles Folgerung auch ein paar Konsequenzen für das Binnenklima des Hochplateaus, und es gibt da noch ein Geheimnis, das Lord John Roxton ausfindig macht, über das ich hier nichts verraten möchte.
Bestürzend fand ich beim Lesen gewisse anthropologische Gedankengänge, die natürlich in die Frühzeit des 20. Jahrhunderts passten, die heutzutage aber unangenehm rassistisch anmuten. Malone hält sich in seiner Beschreibung da etwas zurück, aber die anderen drei Gefährten haben keine größeren Probleme damit, an einem grässlichen Blutbad mitzuwirken.
Alles in allem würde ich aber schon sagen, dass der Roman ansonsten mit Recht ein Klassiker der phantastischen Literatur geworden ist. Wenn man ihn mit dem zeithistorischen Abstand einerseits und mit ein wenig naturwissenschaftlicher Ergänzungskenntnis durch die moderne Forschungsliteratur liest, ist er äußerst lesenswert. Stilistisch gilt das ohnehin. Man merkt Doyle an, dass er Journalist war und weitgereist zudem. Nicht nur seine Sherlock Holmes-Abenteuer, sondern auch die Challenger-Geschichten – dies ist ja nur eine davon – sind durchaus die Wiederentdeckung wert.
© 2013 by Uwe Lammers
In der kommenden Woche werden wir wieder bodenständiger und kommen in der Gegenwart an, um eine neue Autorin jüngeren Datums kennen zu lernen: Emily Dubberley. Kennt niemand? Das solltet ihr wirklich ändern. Warum, verrate ich euch nächste Woche.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Vgl. dazu Uwe George: „Inseln in der Zeit“, Hamburg 1993.