Liebe Freunde des OSM,
wie jüngst berichtet – heute haben wir den eher ungewöhnlichen Fall eines Sherlock Holmes-Romans ohne Sherlock Holmes vor uns. Ich war selbst etwas verdutzt, als ich auf dieses unscheinbar aussehende Buch stieß. Und dann fasziniert, denn wir erfahren hier einiges mehr zu einer Randperson des Holmes-Kosmos, nämlich zu seiner Vermieterin, der guten Mrs. Hudson.
Außerdem, und das ist dann für eingefleischte Holmsianer, die mit dem Übernatürlichen vielleicht so ihre Schwierigkeiten haben, finden wir hier eine recht massive Intervention des Spiritismus-Elements. Das hat durchaus seine Gründe. Nicht nur in der Streaming-Serie „Houdini & Doyle“ wird dieser Punkt strapaziert. Auch wer sich ein wenig näher mit Arthur Conan Doyles Vita beschäftigt hat, wird wissen, dass der Schöpfer des Sherlock Holmes – im Gegensatz zu seinem beinhart rationalistisch operierenden Detektiv – dem Übernatürlichen in späteren Lebensjahren zunehmend zugeneigt war. Er glaubte an Seancen, an Elfen und dergleichen, und insofern ist Hosiers Roman auf dieser Ebene auch eine dezente, aber sehr passende Anspielung auf eben jene Tatsache.
Wer immer glaubt, ein Holmes-Roman ohne den Detektiv sei langweilig, der lasse sich auf faszinierende Weise vom Gegenteil überzeugen. Ich denke, der vorliegende Roman lohnt unbedingt eine Neuentdeckung.
Vorhang auf also für:
Kein Fall für Mr. Holmes
(OT: Elementary, Mrs. Hudson)
Von Sydney Hosier
Econ 25182
192 Seiten, TB (1997)
Aus dem Amerikanischen von Antje Knoop
ISBN 3-612-25182-1
Als das Telegramm in der Baker Street 221B eintrifft, kommt es zur Unzeit: Sherlock Holmes und Dr. Watson befinden sich für wenigstens 14 Tage in Schottland und sind unerreichbar. Die einzige Person, die anwesend ist und den Haushalt aufrecht erhält, ist die Haushälterin, Mrs. Emma Hudson. Wir kennen sie als eher im Hintergrund befindliche Hauswirtin, und Watson war so ungerecht, äußerst wenig über ihre Person und ihre Vita zu verkünden.
Nun, das ändert sich jetzt dramatisch.
Denn das Telegramm stammt von einer Frau namens Violet Warner, und die ist für Emma Hudson wirklich keine Unbekannte – zu Zeiten, als ihr Ehemann noch am Leben war, unternahmen die beiden mit Violet Warner und ihrem Gatten zahlreiche Unternehmungen und standen sich sehr nahe. Inzwischen haben sich die beiden Frauen längst aus dem Blick verloren – bis dieses vermaledeite Telegramm eintrifft.
Violet Warner benötigt dringend die Dienste des Sherlock Holmes auf dem Gut Haddley Hall nahe dem Dörfchen Twillings bei London. Mrs. Hudson, die über dieses Ansinnen mindestens ebenso erstaunt ist wie über das überraschende Wiederauftauchen ihrer alten Freundin, entschließt sich kurzerhand dazu, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen – und fährt nach Haddley Hall, das wirklich am Ende der Welt liegt, wie man schnell entdeckt.
Das Problem, mit dem sich Violet plagt, ist schnell offenkundig: die Hausherrin, Mrs. St. Clair, ist verstorben und Violet ist fest davon überzeugt, dass sie ermordet worden ist! Der Hausarzt Dr. Morley insistiert allerdings, sie sei an einem Herzanfall gestorben. Violet Warner meint jedoch, Chloroform im Todeszimmer gerochen zu haben. Zu dumm, dass das sonst niemand mitbekommen hat, der zugegen war.
Als Violet dann schließlich auch noch ihrer alten Freundin beichtet, dass sie zum Todeszeitpunkt in Form einer astralen Projektion im Schlafzimmer der alten Dame gewesen ist und sah, wie jemand Schattenhaftes mit der Lady kämpfte, wird die Geschichte wirklich kurios. Wenigstens auf den ersten Blick.
Kurz darauf wird jedoch im Park des Herrenhauses eine junge, unbekannte Frau erschlagen aufgefunden. Und nun ist Emma Hudson fest davon überzeugt, dass hier ein Mörder sein Unwesen treibt – er muss nur noch ausfindig gemacht und überführt werden. Während sie sich mit dem unfähigen Polizisten Thackeray herumärgert, kristallisiert sich immer klarer heraus, dass Violet Warner tatsächlich übersinnliche Begabungen besitzt. Und sie setzt sie schließlich dazu ein, das Geflecht von Geheimnissen und Lügen aufzuhellen, das Haddley Hall dichter umstrickt, als sich das irgendwer in seinen kühnsten Träumen vorstellen konnte.
Das erzeugt natürlich das nächste Problem: denn welcher Polizist wird schon Erkenntnissen Glauben schenken, die auf Spiritismus basieren? Da kann man ja auch gleich Hellseher einschalten. Emma Hudson ist also klar, dass sie handfeste Fakten braucht. Und das bringt sie in Lebensgefahr…
Mit dem vorliegenden kleinen Büchlein liegt eine kurzweilige Geschichte vor, die neckischerweise mal ein Holmes-Roman ohne Sherlock Holmes ist. Etwas, was man sonst für kaum möglich hält (allerdings kann man auch meinen, eine Doctor Who-Episode ohne Doctor Who sei undenkbar, was ebenfalls nicht stimmt. Das geht durchaus, und es ist auch schon vorgekommen). Die Autorin versteht es ausgezeichnet, die sonst nur eher schattenhaft gezeichnete Mrs. Hudson wesentlich deutlicher und lebendiger zu charakterisieren, als es Sir Arthur Conan Doyle jemals in den Sinn kam. Er hatte Mrs. Hudson erkennbar als Schablonenfigur angelegt und es Hosier damit natürlich leicht gemacht, eine eigene Version der Vita ihrer „Heldin aus der zweiten Reihe“, wie man sagen könnte, zu kreieren. Die Umsetzung kann als gelungen gelten.
Ein wenig schwieriger ist es dann allerdings, die Astralreisen Violet Warners mit den notwendigen harten Fakten eines Kriminalromans in Deckung zu bringen. So pfiffig und witzig dieses Element auch sein mag, es fungiert mancherorts doch als eine Art von „deus ex machina“, mit dessen Hilfe unerklärliche Dinge erklärt werden sollen. Während es also jede Menge Verdächtige gibt (und nein, es ist nicht der Butler, der ist vielmehr ein Verbündeter Emma Hudsons) und die potenziellen Tatmotive sich nur recht langsam entwickeln, gewinnt das spiritistische Element mehr und mehr an Bedeutung.
Leser, die sich also bei Holmes-Fällen mit Übernatürlichem nicht auseinandersetzen wollen, sind hier eindeutig fehl am Platze und werden das Buch sicherlich mit säuerlicher Miene lesen. Personen hingegen, deren Geist deutlich flexibler genannt werden darf, kommen hier durchaus auf ihre Kosten. Alles in allem ist die Geschichte recht konventionell gestrickt, aber durch das übernatürliche Element auf neckische Weise unberechenbar. Und es gibt sogar gegen Ende eine Stelle, bei der ich beim Lesen laut herausplatzen musste vor Lachen. Warum? Es hat damit zu tun, dass Sherlock Holmes mit Jack the Ripper verwechselt wird! Glaubt ihr nicht? Das ist aber die reine Wahrheit. Ihr solltet die Stelle auf alle Fälle lesen, die ist echt göttlich… und wenn ihr deutlich mehr als bisher über Mrs. Hudson in Erfahrung bringen wollt, dann seid ihr hier goldrichtig.
Angenehmes Lesevergnügen!
© 2017 by Uwe Lammers
Im nächsten Beitrag machen wir eine weitere Zeitreise, die aber dieses Mal nicht gar so weit zurückgeht wie beim obigen Buch. Wir bleiben gewissermaßen in relativer zeitlicher Nähe zum Umbruch des 19. zum 20. Jahrhundert. Ich nahm mir vor über dreizehn Jahren eine Lektüre zum Anlass, einen modernen Mythos zu durchleuchten, weshalb der nächste Beitrag weniger eine Rezension als ein literaturwissenschaftlich-historisch-biografischer Beitrag ist.
Zu welchem Buch und welchem Autor? Das sei heute noch nicht verraten.
Schaut einfach wieder rein, Freunde!
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.