Liebe Freunde des OSM,
manchmal, wenn ich ziemlich alte Rezensionen für meinen Rezensions-Blog aufbereite, stoße ich auf Werke, die ich nicht eben wohlwollend kommentierte. Mitunter stelle ich das etwas zu spät fest – das hier ist so ein Fall.
Das vorliegende Buch habe ich anno 2003 gelesen, also vor mehr als fünfzehn Jahren. Interessanterweise – und möglicherweise, weil es der Vollständigkeit diente, da es eine ganze Reihe ähnlicher Kinderbücher aus diesem Verlag gab – rezensierte ich es, obwohl aus dem Tonfall der Rezension relativ deutlich klar wird, dass ich damit während der Lektüre einige Schwierigkeiten bekam.
Nun, ich wiederhole mich mal in zweifacher Hinsicht: zum einen bin ich Historiker. Man sollte also davon ausgehen, dass ich gerade bei Werken, die historische Kontexte durchdringen wollen, besonders genau hinschaue und mein Eigenwissen dann zur Anwendung bringe. Im vorliegenden Fall gereichte es dem Buch nicht zum Vorteil, um es vorsichtig zu sagen.
Zweitens aber, und das relativiert meine Worte von eben etwas, habe ich auch verschiedentlich betont, dass ich hier keinen Schönwetter-Blog betreibe. Was ihr hier also ausdrücklich NICHT finden werdet, und nicht einmal bei Autoren wie etwa Clive Cussler, den ich wirklich mag, das sind schönfärberische Rezensionen, die kurzerhand immerzu die Kritikpunkte unter den Teppich kehren. Vielleicht bin ich da ein wenig voreingenommen, aber ich hoffe doch sehr, dass mancher von euch meinen Rezensions-Blog aus genau diesem Grund liest: weil ich eben nicht der Lobhudelei diene oder den Verlagen, Autoren oder Übersetzern nach dem Maul rede. Dann könnte ich auch Marketingleiter eines Verlags sein, der seine Kritikfähigkeit bisweilen an der Garderobe abgibt, wenn es den Vorgesetzten in den Kram passt, selbst schlechte Werke mit warmen Worten wohlfeil zu verteidigen.
Nein, das ist meine Sache nicht. Ich versuche, einigermaßen ehrlich und aufrichtig zu sein, und deshalb ist zu konstatieren, dass das heute vorgestellte Buch zwar ein Kinderbuch ist, das Geschichte allgemeinverständlich vermitteln soll. Es enthält meiner Ansicht nach aber solche didaktischen Geschichtsklitterungen, dass es den eigentlichen Zweck nicht erfüllt.
Warum nicht? Nun, ich schlage vor, um das herauszufinden, solltet ihr weiterlesen:
Die Entdeckerzeitung
(The History News: Explorers)
von Michael Johnstone
Kinderbuchverlag (kbv) Luzern
36 Seiten, gebunden
Übersetzt von Christa Holtei
Ohne Zweifel, das Zeitalter der Entdecker ist länger, als man allgemein annimmt. Für den Macher dieser „Zeitung“ beginnt dieses Zeitalter im Polynesien vor rund 3500 Jahren. Jeder, der sich ein wenig mit dieser Materie auskennt, wird dieser Einschätzung zustimmen können. In der Tat sind die polynesischen Seefahrer die Prototypen der Abenteurer, die dargestellt werden.
Der Bogen der Handlungszeit spannt sich vom Polynesien des zweiten vorchristlichen Jahrtausends bis zur Gegenwart. Wir treffen die Phönizier, die chinesischen Forscher, natürlich die reiselustigen Wikinger und den erstaunlichen, fußfesten Ibn Battuta. Kolumbus darf nicht fehlen, eben sowenig Magellan und die spanischen Konquistadoren. Sucht jemand Captain Cook? Ist drin. Afrikaforscher? Polarforscher? Ebenfalls vorhanden. Selbst Tiefseetaucher sind zu finden.
Alles in Ordnung? Leider nein.
Wer sich an „Die aztekische Zeitung“1 und „Die Wikinger-Zeitung“2 entsinnt, die auch rezensiert wurden, muss von diesem Band zwangsläufig enttäuscht sein. Man merkt es bereits beim ersten Artikel, also zurück zu den polynesischen Wagemutigen und gelauscht, wie der betreffende Text beginnt:
„Als ich gebeten wurde, diesen Artikel zu schreiben, habe ich mir vorgestellt, was es bedeutet haben muss, ohne Kompass oder Seekarte auf das riesige offene Meer hinauszusegeln und nicht zu wissen, wo das nächste Land lag…“
Netter Versuch, aber im ganzen Text über die Polynesier schwingt die auswärtige Position mit, ein eher hilfloses Staunen, das mit keiner Silbe in der damaligen Zeit wurzelt. Der große Reiz, den diese „Zeitungen“ bislang ausmachten, speiste sich ja gerade daraus, dass die Autoren sich richtig in die Zeit und das damalige Alltagsleben hineinversetzten. Das passiert in diesem Buch nur sehr selten.
Doch, es kommt vor. Beispielsweise bei den Phöniziern und den Chinesen. Danach kehrt der Stil zurück zur „Reportage“ . Dann, bei Ibn Battuta, wechselt es wieder in die Interview-Weise zurück. Bei Kolumbus erzählt ein Mitreisender, und Kolumbus selbst meldet sich mit einem „Leserbrief“ vom 23. März 1506 zu Wort, in dem er betont: „…An einem Punkt muss ich jedoch etwas richtig stellen. Trotz allem, was die Leute sagen, glaube ich fest, dass ich keine ‚Neue Welt‘ entdeckt habe. Ich behaupte immer noch, dass ich nur eine Insel an der Küste Japans erreicht habe. Ich hoffe, Sie berichtigen diesen Fehler, bevor ihn jeder für richtig hält…“
Köstlich.
Ab Seite 20 wird das Buch indes zu einem Werk mit moralischem Zeigefinger, es wird wirklich fast nur noch „berichtet“, es kommen keine „Zeugen“ mehr zu Wort, was die Lektüre dröge macht und den Eindruck erweckt, hier sei hastig und schlampig gearbeitet worden. Ärgerlicher ist aber noch, dass allein der „entdeckerische“ Aspekt einseitig in den Vordergrund gestellt wird.
Wäre dieser Effekt durch eine Quasi-Historisierung (Reporter, die beispielsweise bei karthagischen Expeditionen vor Christi Geburt dabei sind) hervorgerufen, so könnte man dagegen wenig einwenden. Da diese Einseitigkeit sich aber verstärkt in der zweiten Hälfte des Buches niederschlägt – wo die Quasi-Historisierung nicht mehr greift – und einen sehr naiven Eindruck erweckt, ist er kritikwürdig.
Nehmen wir, nur als ein Beispiel von mehreren, den Afrikareisenden Henry Morton Stanley, der hier als heldenhafter Kämpfer auf der Suche nach dem verschollenen Dr. David Livingstone dargestellt wird („…wir verließen Sansibar am 21. März 1871 und kämpften uns sieben Monate lang durch ein Land voller kriegerischer Stämme und hatten mit vielen Krankheiten zu kämpfen…“).
Der Berichterstatter vergisst geflissentlich zu erwähnen, dass Stanley ein ausgeprägter Rassist war und die „kriegerischen Stämme“ deswegen kriegerisch wurden, weil Stanley während seiner Suche in Afrika ziemlich wahllos Dutzende (manche behaupten, es seien Hunderte gewesen) von Afrikanern umbrachte, die ihm auf seinem Weg begegneten. Dass deren Angehörige daraufhin ihm nicht gerade Sympathie entgegenbrachten, ist wohl verständlich.
In diesem Bericht kommen diese aufgebrachten Angehörigen aber einfach nur als „kriegerische Stämme“ rüber, also als blindwütig-aggressive Leute, die dem „armen, guten Stanley“ an den Kragen wollen. Dass es sich, streng genommen, umgekehrt verhielt, wird unter den Teppich gekehrt.
Solche Details machen das Werk leider ziemlich ungenießbar. Mehr oder weniger der ganze Esprit, der die ersten beiden „Zeitungen“ adelte, fehlt hier, und da das Konzept des historisierenden Erzählens nicht konsequent durchgehalten wird, macht es einen zusammengestoppelten Eindruck.
Leider also nicht empfehlenswert.
© 2003 by Uwe Lammers
Das war etwas ernüchternd? Da kann ich nicht anders, als euch beizupflichten. Ich war von der Lektüre auch eher enttäuscht. Das gilt allerdings nicht für das Werk, das ich euch in der kommenden Woche vorstellen möchte. Ein Sherlock Holmes-Roman ohne Sherlock Holmes.
Gibt es so etwas? Oh ja. Und das ist durchaus nicht uninteressant. Ihr werdet es sehen.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Vgl. dazu den Rezensions-Blog 62 vom 1. Juni 2016.
2 In Vorbereitung für den Rezensions-Blog.