Rezensions-Blog 220: Der illustrierte Mann

Posted Juni 12th, 2019 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

Kurzgeschichtensammlungen, so heißt es in Verlagskreisen oftmals, seien quasi schon per se Liebhaberprojekte, die sich schlecht verkauften. Angehenden Au­toren wird – ernsthaft – geraten, doch lieber gleich einen Roman zu verfassen, der ließe sich leichter vermarkten und erziele höheren Umsatz. Das klingt ei­gentlich paradox, aber es scheint sich um ein uraltes und quasi fast ehernes Ge­setz der Verlagsbranche zu handeln.

Aber es gibt Ausnahmen.

Und es gibt Ausnahmeutoren, das möchte ich eigens dazu betonen.

Ray Bradbury gehört zu jenen Ausnahmeautoren, die ich zu den Großmeistern der phantastischen Kurzgeschichte rechnen will und nach wie vor sehr schätze. Vielleicht nicht unbedingt wegen der plausiblen Settings (das sind sie vielfach nicht), sondern weil er es versteht, Protagonistenseelen knapp und doch beein­druckend klarsichtig zu beschreiben, auch weil bei ihm die Formulierungsgabe bemerkenswert scharfsinnig ausgeprägt ist bzw. war. Leider weilt Bradbury ja nicht mehr unter uns.

Dann wiederum gibt es Leute, die denken, nur weil Bücher oder Kurzgeschich­ten 40 oder mehr Jahre auf dem Buckel haben, würden sie unwichtig oder alt­backen, angestaubt und uninteressant sein… nun, wer diese blasierte Auffas­sung vertritt, braucht hier gar nicht weiterzulesen. Denn ich möchte heute ein sehr lesenswertes Buch vorstellen, dessen frischeste Geschichte schon fast 70 Jahre alt ist, die meisten davon sind noch älter.

Und dennoch finde ich anerkennende, ja begeisterte Worte dafür? Einwandfrei. Weil es sich einfach um ein gutes Buch handelt, das heute mit Gewissheit so gut wie vergessen ist. Ich finde, es lohnt eine Wiederentdeckung. Folgt mir also zur Venus, zum Mars und zu der Erde der Zukunft, die Bradbury in der tiefen Ver­gangenheit beschrieb.

Vorhang auf für:

Der illustrierte Mann

(OT: The Illustrated Man)

Von Ray Bradbury

Heyne 3057

3. Auflage, München 1970

192 Seiten, TB

Aus dem Amerikanischen von Peter Naujack

Als ich im Dezember 1988 diese Storysammlung antiquarisch erwarb, war mir nicht bewusst, dass ich hiermit eine der erfolgreichsten Kurzgeschichtensamm­lungen Ray Bradburys vorliegen hatte. Das wusste ich auch im März 1990 nicht, wo ich sie als Ablenkung von meinem Zivildienst auf einer meiner zahllosen Rei­sen zwischen Gifhorn und Hameln erstmals las. Damals fiel die Lektüre in ein Zeitfenster, in dem ich nahezu keine Rezensionen verfasste, und so rutschte auch dieses Buch durch das Raster der analytischen Lektüre. Im Juni 2016, wäh­rend ich Hardy Kettlitz´ interessantes Buch „Ray Bradbury. Poet des Raketen­zeitalters“ las, das sich ja mit Ray Bradburys Werk beschäftigt, stolperte ich überraschend über die Feststellung, dass just hier die Mars-Story „Die Feuer­ballons“ enthalten sein sollte, die im Grunde genommen in „Die Mars-Chroni­ken“ gehörte – die ich gerade gelesen hatte.1

Nun, an die Geschichte konnte ich mich gar nicht mehr entsinnen, also war es definitiv Zeit für eine Neulektüre. Und ich muss zugeben, nun, wo ich das Buch ausgelesen habe, dass das gar keine schlechte Idee gewesen ist. Nach über 25 Jahren die Erinnerung aufzufrischen, ist eine tolle Sache. Der Band enthält 16 Kurzgeschichten des SF-Altmeisters, die zwischen 1947 und 1951 in verschiede­nen Magazinen in den USA erschienen sind. Für diese Veröffentlichung wurden sie mit einer Rahmenhandlung umgeben, durch einen einleitenden Prolog und einen Epilog gekennzeichnet.2 Die Geschichten selbst stehen sonst für sich und können in unterschiedlicher Reihenfolge gelesen werden. Schauen wir uns die längeren davon mal kurz an.

Im Prolog lernen wir die beiden zentralen Personen des Buches kennen, zwei namenlose Wanderer auf einer Landstraße in Wisconsin, beide auf der Suche nach Arbeit. Sie treffen sich hier erstmals und übernachten zusammen in der Wildnis. Der eine von ihnen ist der herkulische illustrierte Mann, über und über mit Tätowierungen bedeckt, die ihm angeblich eine Frau aus der Zukunft auf den Leib tätowiert hat. Das Problem ist, dass die Bilder zu leben beginnen und Geschichten erzählen, wenn man sie zu lange fixiert. Und es gibt ein freies Feld, in dem angeblich das Schicksal des Betrachtenden materialisiert.

Der zweite Mann kann aber, während der Illustrierte schläft, nicht umhin, die Bilder anzusehen, und so wickelt sich der Reigen der Kurzgeschichten nachein­ander ab. Die Rahmenhandlung ist also knapp gehalten, aber raffiniert gemacht und zieht das Interesse des Lesers an.

Das Kinderzimmer (The Veldt) ist die erste Geschichte. In der Zukunft ist selbst die Kindererziehung weitgehend automatisiert. Dazu gehört ein phantastisches Zimmer, in dem wie mit Hologrammwänden eine Naturkulisse projiziert werden kann. Doch im Zimmer von George Hadleys beiden Kindern scheint etwas schief zu gehen, denn es projiziert immer nur eine afrikanische Savanne mit einer Hor­de Löwen in der Ferne. Als er das Zimmer für die Kinder sperrt, eskaliert ein un­terschwelliger Konflikt in schrecklicher Form…

In Kaleidoskop (Kaleidoscope) explodiert gleich zu Beginn ein Raumschiff auf dem Weg zur Erde. Die Besatzung wird in den Weltraum geschleudert, überlebt bis dahin aber. Und während sie durch das Vakuum driften, halten sie Funkkon­takt miteinander. In dieser Ausnahmesituation flammen bis dahin unter Ver­schluss gehaltene Emotionen auf…

Der Mann“ (The Man) ist ein Phänomen, das Kapitän Hart frustriert. Er ist mit seiner Mannschaft nach langem Raumflug auf einer von menschenähnlichen Wesen bewohnten Welt gelandet, nahe ihrer Stadt, aber niemand interessiert sich für den Erstkontakt. Sie werden völlig ignoriert. Hart vermutet, als er davon hört, dass erst kürzlich „der Mann“ hier durchgekommen ist, dass es ein Kon­kurrent gewesen ist – aber im Verlauf der Geschichte kristallisiert sich mit er­schreckender Deutlichkeit heraus, dass die Lösung vielmehr eine zutiefst spiri­tuelle ist. Hart und seine Leute haben ein epochales Ereignis ganz knapp ver­passt…

Der lange Regen“ (The Long Rain) ist heute eine Geschichte, die man mit Amü­sement liest. Sie spielt auf der Venus, laut Bradbury eine Welt unter dichten Wolken, auf der es ewig regnet. Die einzige Rettung für die hier gestrandete Raumschiffsmannschaft sind Sonnenkuppeln, die errichtet worden sind und in denen sie dem wahnsinnig machenden Regen entkommen können. Aber die Venusier scheinen sie zerstört zu haben…

Die Feuerballons“ (The Fireballoons), jene Story also, derentwegen ich diese Geschichtensammlung wieder aus den Bücherregalen zog, spielt tatsächlich auf dem Mars, der dabei ist, von Menschen kolonisiert zu werden. Mit Pater Joseph Daniel Peregrine und Pater Stone sind zwei Würdenträger der Episkopalkirche gelandet und wollen das Wort Gottes auch an die Marsianer verkünden. Davon scheint es zweierlei Arten zu geben, einmal jene wenigen überlebenden Exem­plare, von denen in „Die Mars-Chroniken“ die Rede ist. Aber dann gibt es an­geblich noch leuchtende Kugeln, Feuerballons nicht unähnlich, die in gebirgi­gen, abgelegenen Regionen des Planeten existieren sollen. Und Pater Peregrine ist überzeugt, dass auch diese „Feuerballons“ zum Glauben finden können…

Die Verbannten“ (The Exiles) spielt ebenfalls auf dem Mars, passt aber inhalt­lich nicht zu den „Mars-Chroniken“. Ähnlich kurios wie die etwa zeitgleich ent­standene Story „Usher II“, die in den amerikanischen Ausgaben dieser Story­sammlung enthalten ist – auf Deutsch in „Die Mars-Chroniken“ enthalten – , besitzt dieses Werk eher Fantasy- bis Weird Fiction-Anklänge. Auf den Mars ha­ben sich all jene Phantasiegestalten geflüchtet zusammen mit den sie erschaf­fenden Autoren wie Algernon Blackwood, Edgar Allan Poe, Ambrose Bierce usw., weil auf der Erde die phantastische Literatur zielstrebig zerstört wurde. Als nun das erste Marsschiff zur Landung ansetzt, ersinnen die Phantasiegestal­ten eine furchtbare Überraschung für die Raumfahrer…

Kein Abend, kein Morgen…“ (No particular Night or Morning) spielt in einem Raumschiff und ist eigentlich psychologischer Natur, wie das oft bei Bradbury der Fall ist. Der Raumfahrer Hitchcock erleidet während des Fluges einen Anfall von Raumkrankheit und beginnt, an allem zu zweifeln, was er nicht direkt in diesem Moment sehen kann: am nächsten Stockwerk des Raumschiffes, am Schiffsarzt, am Flugziel, an nahezu allem. Das führt schließlich zu dramatischen Vorkommnissen…

Der Fuchs und die Hasen“ (The Fox and the Forest) zehrt von Ray Bradburys eigenen Erinnerungen an Reisen nach Mexiko im Jahre 1938. In diesem Jahr spielt die nämliche Geschichte. In der fernen Zukunft ist die Zeitreise erfunden worden, und William Travis und seine Frau Susan nutzen die Möglichkeit, um ins Jahr 1938 zu flüchten und sich hier inkognito zu verbergen. Doch Travis ist für den Krieg der Zukunft von zentraler Bedeutung, und so werden sie verfolgt…

Der Besucher“ (The Visitor) bringt uns einmal mehr auf den Mars. Hier ist der Mars jedoch ein Ort, wohin man Menschen, die am so genannten „Blut-Brand“ erkrankt sind, zum Sterben abschiebt. Jeder vegetiert mehr oder minder parzel­liert einzeln vor sich hin, meist in Sichtweite zum nächsten, darunter auch Saul Williams. So ist es, bis eine Rakete Leonard Mark bringt, einen scheinbar gesun­den Mann, dessen Fluch darin besteht, dass er parapsychische Fähigkeiten be­sitzt…

Die Geschichte „Zementmischer“ (The Concrete Mixer) macht titelmäßig erst ganz zum Schluss Sinn, und dann ein wenig erzwungen. Es ist die Geschichte des Marsianers Ettil, der sich lange weigert, an dem Kriegszug gegen die Erde teilzunehmen. Als er dann doch dazu überredet wird, verläuft die Invasion der Erde völlig anders als angenommen, denn die Marsianer werden herzlich be­grüßt. Ettil, der aus irdischen Pulp-Stories argwöhnt, dies sei ein böswilliger Trick, mit dem ihre Vernichtung besiegelt werden sollte, muss schließlich einer grässlichen Wahrheit ins Auge sehen: „Krieg ist eine schlimme Sache – aber Frieden kann ein Schrecken ohne Ende sein“…

Marionetten, e.V.“ (Marionettes, Inc.) zeigt uns eine bizarre Zukunftswelt, die selbst heute noch nicht realisierbar wäre: Die Firma „Marionetten, e.V.“ schafft auf Wunsch automatische Kopien von Menschen, die diese auf Zeit ersetzen können, etwa bei drögen Geschäftsessen, oder auch, um der Ehefrau vorzuspie­len, man sei da, während man in Wahrheit bei seinem Kumpel Smith in der Bar sitzt und ihm die Ohren volljammert über die Ehe, die zum Alptraum geworden ist. Aber dann gibt es leider auch noch diese andere Seite der maschinellen Kopie…

Die Stadt“ (The City) hat seit Ewigkeiten gewartet. Sie ist eine vollautomati­sierte Metropole, die Bewohner sind seit Jahrtausenden ausgestorben. Schließ­lich landet ein Raumschiff von der Erde, und die Mannschaft untersucht die Stadt, die irgendwie unheimlich ist, weil so gut erhalten. Niemand kann wissen, dass die Stadt ein Vollstreckungsinstrument ist und sehr lange schon darauf lau­ert, Rache zu nehmen…

Stunde Null“ (Zero Hour) ist die älteste Story in der Sammlung, aber vielleicht auch eine der besten: Die neunjährige Mink spielt mit gleichaltrigen Gefährten ein Spiel, das sie „Invasion“ nennt und baut zusammen mit den anderen eine seltsame Maschine zusammen. Die nachsichtigen Eltern lassen sie gewähren, wundern sich aber schon, dass die Kinder offenbar landesweit dieses Spiel spie­len und dabei von einem unsichtbaren Freund namens „Drill“ unterstützt wer­den. Was das wirkliche Ziel dieses Spiels ist und was zur „Stunde Null“ passieren soll, begreifen die Eltern dann erst zu spät…

Das Raumschiff“ (The Rocket) ist der Traum des Schrottplatzbesitzers Fiorello Bodoni, der sich danach sehnt, zu den Sternen zu fliegen und später davon zu berichten. Damit geht er seiner Frau und seinen Kindern auf die Nerven, und er weiß selbst, dass er dafür weder Geld hat noch die sonstigen Möglichkeiten. Höchstens einer kann fliegen, nur wer? Das Halmeziehen zeigt, dass die Wün­sche, zu fliegen, und die ihnen entgegen stehenden Emotionen eine Realisie­rung verhindern. Also beschließt Bodoni, doch besser sein Geld in neue Maschi­nen zu investieren… aber dann wird ihm zum Abwracken ein Raumschiff ange­boten…

In dieser Kurzgeschichtensammlung sehen wir Ray Bradbury als beeindruckend vielfältigen Verfasser unterschiedlichster Visionen. Es gibt zwar andere Autoren, die behaupten, seine Charaktere seien nicht gut durchdacht und seine physikali­schen Settings würden nicht funktionieren – letzteres ist, was seine Mars- und Venus-Geschichten angeht, sicherlich in vielen Fällen zutreffend – , doch bin ich nicht uneingeschränkt dieser Auffassung. Bradbury stellt in den weitaus meis­ten Geschichten menschliche und mentale Konflikte ins Zentrum, beleuchtet Ausnahmesituationen und erzeugt auf diese Weise mal mehr, mal weniger wirk­same Spannung. Das gelingt ihm meiner Ansicht nach sehr gut. Das Setting ringsum ist nicht wirklich das, worauf es ihm zentral ankommt.

Deshalb mag man vielleicht über veraltete Darstellungen lächeln, an der ein­dringlichen Wirksamkeit der meisten Werke in diesem Buch ist auch nach über 65 Jahren nicht zu zweifeln. Stört euch also nicht daran, dass es zutiefst unlo­gisch ist, todkranke Menschen zur Quarantäne auf den Mars zu deportieren oder dass Marsianer irdische Pulp-Magazine und darin enthaltene Invasions-Geschichten kennen sollen (interessant, dass Pulps auch auf dem Mars von Grossisten verbreitet werden… das irdische Vertriebsnetz der Zeitschriften reicht weiter, als man glaubt, das ist für sich schon eine phantastische Vorstel­lung). Einfach drüber hinweglesen, Freunde, darauf kommt es nicht an.

In manchen der Geschichten nimmt er sogar ausgesprochen Klassiker des phan­tastischen Genres vorweg – so in „Marionetten, Inc.“, wo er die ganze Replikan­tenproblematik, die wir heute gern mit Philip K. Dick in Verbindung bringen, schon im Kleinen aufzeigt.

Alles in allem ist dies mit Recht ein Klassiker der Science Fiction, der zweifellos bei detebe neu aufgelegt worden sein wird und unbedingt die Wiederentde­ckung lohnt. Um dann im Nachgang die Entstehungsgeschichte der Storysamm­lung und der Einzelwerke besser einordnen zu können, empfiehlt sich dann die Lektüre des oben erwähnten Buches von Hardy Kettlitz.

© 2016 by Uwe Lammers

Also, reine Euphorie? Würde ich so nicht sagen. Aber ein lesenswertes, sehr kurzweiliges Buch unbedingt. In der nächsten Woche kümmern wir uns um ei­nen phantastischen Raubzug, wie man ihn sich gar nicht vorstellen kann – um die reale Geschichte eines Mannes, der ganze Welten stahl.

Wie das geht? Erfahrt ihr nächste Woche.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Vgl. dazu auch den Rezensions-Blog 161 vom 25. April 2018.

2 Diese Storysammlung wurde witzigerweise unter diesem Titel auch mal vor langer Zeit verfilmt. Was schon an sich bezeugt, dass Bradburys Storysammlung höchst reizvoll ist. Welcher Storysammlung ist schon solche filmische Adelung zuteil geworden? Ich kann mich an keinen zweiten Fall entsinnen.

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