Rezensions-Blog 218: Blutnetz

Posted Mai 29th, 2019 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

wie ich letzte Woche bereits versprach – nach einem eher mittelmäßigen Ro­man aus dem Sektor der kriminalistischen Spannungsliteratur kommen wir nun zu einem, den ich rundum als gelungen bezeichnen möchte: mit raffiniertem Katz- und Maus-Spiel zwischen Jäger und Gejagtem, Tarnung, Täuschung, lang­gestreckten und komplizierten Strategieplänen, geschickten falschen Spuren und tödlicher Action.

Selbst wenn man aus den ersten beiden Romanen um Isaac Bell natürlich weiß, dass er dieses Abenteuer überleben wird (das haben die dortigen Prologe und Epiloge verraten), bedeutet das nicht, dass er nicht in Lebensgefahr geraten oder schwer verletzt werden könnte. Und das gilt erst recht für den Rest des Personen-Tableaus auf beiden Seiten des Spielfeldes.

Wenn man darüber hinaus auch noch Historiker mit thematischem Schwer­punkt des frühen 20. Jahrhunderts ist, wie das bei mir der Fall ist, und wenn zu­dem der Roman dem geschärften kritischen Auge standhält… tja, dann kann ich nur sagen: Hut ab, die Herren Autoren!

Folgt mir in einen rundum packenden Roman und ins Jahr 1908:

Blutnetz

(OT: The Spy)

Von Clive Cussler & Justin Scott

Blanvalet 37964

576 Seiten, TB, 2012

Übersetzt von Michael Kubiak

ISBN 978-3-442-37964-4

Man schreibt das Jahr 1908 in den Vereinigten Staaten von Amerika. Die Welt steht im Bann eines dramatischen Rüstungswettlaufes, der in ein paar Jahren in das fatale Verhängnis des Ersten Weltkriegs münden wird und dann Monarchi­en stürzen, Staaten zerstören und Millionen Menschen auf bisweilen unvorstell­bar grausame Weise zugrunde gehen lassen wird.

Am 17. März 1908 ist dies noch eine finster über der Zeitgeschichte lastende Wolke voller vernichtender Pestilenz, doch das Grauen nähert sich auf leisen Sohlen. Eine finstere Macht und ihre Emissäre greifen nach den USA, und alles beginnt in einer Nacht auf dem Washington Navy Yard, als ein rätselhafter Ein­brecher in das Büro des genialen Waffenkonstrukteurs Arthur Langner ein­dringt. Doch offensichtlich ist er nicht gekommen, um etwas zu rauben, sondern um vielmehr etwas zu bringen. Als Langner bald darauf bei einer Explosion ums Leben kommt, gehen alle bestürzt von Selbstmord aus – bis auf seine fassungs­lose Tochter Dorothy, die steif und fest behauptet, es sei Mord gewesen. Doch die einzige Unregelmäßigkeit, die man entdecken kann, ist die versuchte Fest­nahme eines Asiaten, der sich in der nämlichen Nacht auf dem Gelände herum­getrieben hat. Allerdings bringt man das mehr mit einem abscheulichen Mäd­chenhändlerring von Chinesen in Verbindung.

Also: alles nur die fixe Idee einer trauernden Tochter, die mit der offenkundigen Wahrheit nicht klarkommt und sich mit dem Tod ihres Vaters nicht abfinden kann? Alles sieht sehr danach aus, und niemand nimmt ihre Bedenken ernst – allein der von ihr konsultierte Detektiv Isaac Bell von der Van Dorn-Agentur kommt zögernd ins Grübeln.

Wenig später stirbt ein Metallurge in Bethlehem, Pennsylvania, bei einem gräss­lichen Unfall in einem Stahlwerk. Spätere Nachforschungen der Van Dorn-Agen­tur ergeben, dass hier während des Unglücks jemand mit deutschem Aussehen kurz gesichtet wurde.

Grover Lakewood, Feuerleitexperte für ein marines Geheimprojekt, ist in seiner Freizeit begeisterter Bergkletterer. Bei einer dieser Klettertouren macht er die bezaubernde Bekanntschaft einer jungen, irisch aussehenden Frau mit flam­mend rotem Haar, die sich ihm als Katherine Dee vorstellt. Und sie wird auf schreckliche Weise sein Verhängnis.

All diese Vorfälle sind völlig unscheinbar, wiewohl private und auch berufliche Tragödien. Aber es sieht doch beim besten Willen aus wie eine Verkettung un­glücklicher Umstände. Allein Dorothy Langners entschiedene Überzeugung, dass ihr Vater niemals Selbstmord begangen haben könnte, und ihre Hartnäckigkeit, die den Chefermittler bei Van Dorn, Isaac Bell, beeindrucken, führen dann zusammen mit einem unerwarteten Zufall dazu, dass eine bedrohliche Verschwörung sichtbar wird.

Wenig später ist Bell nämlich zugegen, um bei einem weiteren Mordversuch Zeuge zu werden. Und er kann bis auf einen alle Angreifer ausschalten. Dieser, ein Mann namens „Iceman“ Weeks, entkommt verwundet. Und, seltsam genug, dieser Mann ist Bell durchaus vertraut – er gehört zu einer in New York ansässi­gen Kriminellenbande, den „Gophern“ von Commodore Tommy Thompson. Aber die Gopher verlassen New York eigentlich nie, und die Truppe hier war ziemlich weit außerhalb ihres Terrains. Problematischer ist jedoch, dass auch dieses Op­fer mit dem amerikanischen Schiffsprogramm zu tun hatte… genau wie alle an­deren oben erwähnten Todesopfer der „Unfälle“.

Also, dass es sich bei den Unglücksfällen um raffiniert arrangierte Morde han­delt und mithin Dorothy Langners Vermutung der Realität entsprach, ist bald of­fenkundig, nur fehlen in allen Fällen handfeste Beweise. Und die Indizien sind verwirrend. Langners Tod scheint von einem Japaner begangen worden zu sein. Es ist ein deutscher Agent darin verwickelt, vielleicht ein Ire, eventuell ein Brite, es gibt auch Anzeichen für französische Spionage. Aber Gemeinsamkeiten scheinen nicht zu existieren.

Je mehr sich Isaac Bell in den Fall vertieft, desto komplizierter und komplexer wird er. Als er selbst einen Fall von Sabotage bei einem Stapellauf eines neuen Schlachtschiffs vereiteln kann, kommen die Dinge in Bewegung. Er muss allmäh­lich begreifen, dass er sich in einem Blutnetz von Intrigen befindet, in einem ganzen Räderwerk von Agenten, die in Tarnidentitäten unterwegs sind und ganz offensichtlich mit einer Art von Spinne in diesem Spinnennetz zusammenarbei­ten, die als „Mastermind“ im Hintergrund ist.

Aussehen des Masterminds: unbekannt.

Name des Masterminds: unbekannt.

Nationalität des Masterminds: unbekannt.

Konkrete Ziele: unbekannt.

Er hingegen, der seinen Verfolgern stets mehrere Schritte voraus zu sein scheint, spinnt seine finsteren Fäden allmählich auch gegen die Van Dorn Agen­tur, beginnt damit, deren Ruf zu demontieren, Sabotagetrupps überall im Land aktiv in den Einsatz zu schicken, zu denen recht schnell auch chinesische Tong-Killer gehören.

Während Isaac Bell versucht, herauszufinden, wer eigentlich der dubiose Draht­zieher im Hintergrund ist, gibt es weitere „Unfälle“, Van Dorn-Agenten sterben, und atemlose, lebensbedrohliche Verfolgungsjagden führen nach und nach dazu, dass sich Jäger und Gejagter immer mehr annähern…

Das dritte Abenteuer des Detektivs Isaac Bell, zum zweiten Mal in Zusammenar­beit mit Justin Scott verfasst, ist ebenso wie ihre Vorgänger „Höllenjagd“ und „Sabotage“ ein rasanter Page-turner, der den Leser mitreißt.1 Allein andere Ak­tivitäten hatten zur Folge, dass ich acht Tage daran las… ich hätte es sicherlich auch in vieren geschafft. Die hinteren vierhundert waren sowieso dann in zwei aufeinander folgenden Tagen fällig, die letzten am gestrigen Abend bis nach Mitternacht. Wenn man sich erst mal in dem dramatischen Erkenntnisprozess Isaac Bells befindet, wer denn der „Mastermind“ ist, der titelgebende „Spion“, dann kann man eigentlich nicht mehr aussteigen aus dem Roman.

Packend an diesem Roman war: ich ahnte schon eine ganze Weile lang, wer denn der „Spion“ ist. Und wenn man das weiß und Bell dann ahnungslos mit ihm an einem Tisch im Zugwaggon sitzt, dann kann einem schon heiß und kalt werden… und wenn Bell anschließend die eiskalt gelegte falsche Fährte ver­folgt… du meine Güte. Das ist schon ziemlich kitzelig.

Selbst wenn wahrscheinlich alle Erfinderpersonen fiktiv sein dürften, ist doch auch diesmal das Lokalkolorit des Jahres 1908 faszinierend eingefangen, das geht bis hin zu den offenkundigen rassistischen Einstellungen der amerikani­schen Arbeiterschaft. Und ganz so wie beim letzten Roman der Reihe hat sich das Duo – dort bezüglich Eisenbahnen, hier bezüglich des Seewettrüstens vor dem Ersten Weltkrieg – sichtlich tief in die Materie eingearbeitet. Es ist auch schön zu beobachten, wie fremd Bell die Welt der internationalen Spionage ist, und die Raffinesse der Attentäter der Gegenseite zeigt einmal mehr, dass hier nicht der plumpe Versuch unternommen wird, Möchtegernverbrecher aufzu­bauen, die leicht zu demontieren sind. Leicht zu demontieren ist hier überhaupt nichts. Die Gegenseite ist äußerst raffiniert und absolut tödlich.

Ein spannender, äußerst unterhaltsamer und gut gemachter Roman, der Hunger auf weitere Isaac Bell-Abenteuer macht (die es glücklicherweise auch schon gibt… wenigstens fünf oder so). Klare Leseempfehlung, Freunde.

© 2015 by Uwe Lammers

Der Roman macht echt Laune, kann ich nur sagen. Selbst wer mit Cusslers NU­MA-Abenteuern nichts anfangen kann, weil sie ihm zu überdreht erscheinen, der sollte mal in die Isaac Bell-Romane eintauchen. Ich glaube, die könnten ge­fallen.

Ansonsten könnt ihr natürlich auch mir in der kommenden Woche wieder nach Down Under folgen, um den dritten Teil der „Sweet Sins“-Trilogie kennenzuler­nen… ach nein, weite Teile des Romans spielen ja in Frankreich. Warum das? Nun, das erfahrt ihr nächste Woche an dieser Stelle.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Vgl. dazu die Rezensions-Blogs 186 (17. Oktober 2018) und 206 (6. März 2019).

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